So haben wir das erlebt: Spurensicherungen

Ein Band von DDR-Erlebnisberichten. Gelesen, mit herausgegeben und hier vorgestellt von Bernd Preußer

Seit 1999 gibt die Autorengemeinschaft "So habe ich das erlebt" eine Buchreihe mit dem Titel "Spurensicherung" heraus. Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, den oftmals sehr einseitigen und oberflächlichen Darstellungen des Lebens in der DDR durch die Darstellung eigener Erlebnisse ein differenzierteres Bild entgegenzusetzen: zur Entstehung der DDR und zum Leben in der DDR bis zu ihrer Umwandlung in das "Beitrittsgebiet". Die Autoren wehren sich dagegen, dass versucht wird, die Arbeit und das Leben von 16 Millionen Menschen über 40 Jahre mit dem Begriff "Unrechtsstaat von Anfang an" ins historische Abseits zu stellen. Und es geht ihnen darum, die Erkenntnisse und Erlebnisse von Bürgern der DDR aufzubewahren, zu sichern, wie es der Titel der Buchreihe verspricht.

Die objektive historische Aufarbeitung der DDR-Geschichte steht verständlicherweise noch aus, sie erfordert wohl einigen historischen Abstand. Aber die Zahl der Menschen, die hierzu eigene Erlebnisse haben, wird natürlich immer kleiner.

Die Reihe sollte ursprünglich mit dem Band 5 "Die DDR wird zum Beitrittsgebiet" abgeschlossen werden - mit dem Ende der DDR, so könnte man meinen, enden ja auch die zu sichernden Spuren. Aber die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland wirft immer wieder Probleme auf, die - ausgesprochen oder unausgesprochen - Erfahrungen und Erkenntnisse aus der DDR berühren. Man kann es kurios finden, wenn Politiker nach Finnland fahren, um das dortige Bildungssystem zu studieren (PISA!) und dort erklärt bekommen, dass man sich auf Erfahrungen des Bildungssystems der DDR gestützt hat. Aber Sportgymnasien, Ärztehäuser und Ganztagsschulen wecken auch Erinnerungen an die DDR. Und dass eine Kindertagesstätte nicht einfach eine Kinderbewahranstalt, sondern eine wichtige Einrichtung zur Bildung und Erziehung im Vorschulalter ist, wissen viele Menschen noch aus der eigenen Erfahrung. Und so entstand der sechste und nun wirklich letzte Band der Reihe "Spurensicherung" mit dem Titel "Spuren aus der DDR in die Zukunft".

Wie in den vorangegangenen Bänden werden die "Spuren" aus dem eigenen Erleben abgeleitet. Die 40 Autoren schreiben aus ihrer persönlichen - und demzufolge sehr unterschiedlichen - Sicht auf das Leben in der DDR. Sie erheben nicht den Anspruch, dass ihre Sicht die einzig mögliche ist - im Gegenteil, sie wissen sehr genau, dass andere Menschen ganz andere Erlebnisse in der DDR hatten und zu anderen Erkenntnissen kommen. Aber allein schon eine Diskussion darüber, was denn aus der DDR für die weitere gesellschaftliche Entwicklung Bestand haben könnte, sollte oder müsste, wäre nützlich.

Angesichts der aktuellen Situation wird ganz offen in allen Parteien davon gesprochen, dass man doch von den Leistungen der DDR einiges von dem, was zunächst zerschlagen wurde, den heutigen Bedingungen anpassen und übernehmen könnte. Cornelia Pieper, (noch) Generalsekretärin der FDP, sagte kürzlich, in der deutschen Politik müssten mehr Lebenserfahrungen aus dem Osten berücksichtigt werden. Es sei ein großer Fehler gewesen, dass dies nicht sofort nach der Wiedervereinigung geschehen sei. Es ist also ganz offensichtlich sinnvoll, sich Gedanken um die Spuren aus der DDR in die Zukunft zu machen.

So sehen das jedenfalls die meisten Autoren dieses Buches. Und so schreiben sie - Arbeiter, Ingenieure, Landwirte, Erzieher und Lehrer, von den (interviewten) Kindergärtnerinnen bis hin zu hochrangigen Universitätsprofessoren, Spezialisten aus dem Gesundheitswesen, Rechts- und Staatsanwälte, Theologen, Religionswissenschaftler und gläubige Christen, ein Kabarettist, ein Kulturfunktionär, ein Militärwissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten und andere nachdenkliche Bürger aus verschiedenen Berufen - darüber, welche Erfahrungen und Erkenntnisse sie in dem weiten Bereich des hier skizzierten Generalthemas gewannen.

Nur ein Beispiel: Prof. Dr. Herbert Kreibich, heute Landarzt im Land Brandenburg, schreibt in seinem Beitrag: "Spuren in die Zukunft - Bewahrenswertes aus 40 Jahren DDR - Gesundheitswesen": "Die Krankenversicherungen stellen gegenwärtig ein parasitäres System dar, mit zu vielen Kassen und zu vielen Mitarbeitern, mit großen Verwaltungspalästen, mit völlig überzogenen Manager-Gehältern. Zur Zeit existieren über 400 gesetzliche und private Krankenkassen ... Die Zahl der Mitarbeiter ist ständig gestiegen, gegenwärtig gibt es bundesweit genauso viel Kassen-Mitarbeiter wie Ärzte, z. B. gibt es im Land Brandenburg 3.200 Haus- und Fachärzte, aber allein die AOK hat 2.400 Mitarbeiter ... Im Vergleich dazu herrschten in der DDR nahezu paradiesische Verhältnisse: Es gab 2 (!) Sozialversicherungen, die der Arbeiter und Angestellten ... und die für die Gewerbetreibenden, Handwerker, Freiberufler, Bauern u. a. Selbstständigen ... Die größere der beiden Versicherungen, die >SV der Arbeiter und Angestellten<, hatte weniger als 1.700(!) Mitarbeiter auf dem Territorium der NBL und Ost-Berlins und war auch für die Renten und Unfälle zuständig."

In dem Buch finden sich nicht allein unterschiedlichste Persönlichkeitshandschriften, sondern auch unterschiedliche literarische Genres. Der Bogen reicht vom geradlinigen Erzähl- und Berichtstil über eine Satire, leidenschaftliche Appelle und Bekenntnisse, Gesprächssplitter, bissige Polemiken und sachlich-kritische Beweisführungen bis hin zu Briefwechseln, Kabarett-Texten und zu einem klassischen Vorbildern nachempfundenen Diskussionsdialog, der am Schluss steht.

Millionen Bürger vollbrachten in den 40 Jahren der Existenz der DDR bedeutende Leistungen. Sie hinterließen Spuren im Denken, Fühlen und Handeln, die nicht einfach aus der Geschichte getilgt werden können. Der abschließende Band der "Spurensicherung" ordnet sich ein in das Prinzip, das die Autorengemeinschaft als Namen wählte: "So habe ich das erlebt". Und er geht gleichzeitig darüber hinaus, weil die Autoren nach dem Weg in die Zukunft suchen. Deshalb haben die Herausgeber ganz bewusst diesen Band äußerlich von den anderen abgehoben: Haben alle anderen als Titelgestaltung ein schwarz-weißes Dokumentarfoto, so schmückt den Band 6 eine bunte Kinderzeichnung - eine Hochzeit mit lachender Sonne und einer fröhlichen (!) Wolke. Sicher, der Leser wird merken, dass nicht in allen Beiträgen die Zukunft so bunt und fröhlich gesehen wird. Aber dass die "Spuren aus der DDR in die Zukunft" daraufgerichtet sind, diese Zukunft bunt, fröhlich und vor allem friedlich zu gestalten, das wünschen sich die Autoren - natürlich auch für die (damals) fünfjährige Sybille, die dieses Bild gemalt hat.