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Vorwort 

Das vorliegende Buch "Spurensicherung I. Wege in die DDR" ist zwar das zweite unserer Autorengemeinschaft, stellt aber den ersten Band der geplanten Trilogie dar. (1)

Diesmal schildern 55 Autorinnen und Autoren jene frühen persönlichen Erfahrungen, die nicht nur ihren Weg in die DDR, sondern darüber hinaus ihr weiteres Leben - und das bis zum heutigen Tage - prägten. Die Autoren sind heute zwischen 59 und 86 Jahren alt und repräsentieren die ersten Aufbaugenerationen nach dem Kriegsende. Deren damaligen Antrieb charakterisiert Brechts Vers aus einem Aufbau-Lied: 

Fort mit den Trümmern
Und was Neues hingebaut!
Um uns selber müssen wir uns selber kümmern
Und heraus gegen uns, wer sich traut!

 Das Motiv unseres Autors Wolfgang Krug: "Verleugnet eure Erinnerungen nicht!" ist wohl das aller Autoren. Mit ihren so ganz und gar individuellen Berichten folgen sie der oftmals wiederholten, aber wenig beherzten Forderung Wolfgang Thierses an die Ost- und Westdeutschen: "Wir müssen uns unsere Biografien erzählen." 

Unser Bogen spannt sich von der ersten zur zweiten deutschen Nachkriegszeit dieses Jahrhunderts. Dazwischen liegt die Schreckensherrschaft des Hitlerfaschismus, als KZ-Vorkriegszeit beginnend, gipfelnd in hemmungsloser Aggression und beispiellosem Völkermord. Aber selbst unmittelbar nach der Zerschlagung des Naziregimes war eine neue Vorkriegszeit zu fürchten, denn schon vor dem letzten Schuß des zweiten Weltkriegs zeichnete sich der Kalte Krieg ab, mit dem die Menschheit für die nächsten Jahrzehnte an den Rand des atomaren Abgrunds geriet. 

Uns veranlassen weder nostalgische Gefühle noch die damaligen Umstände, mit unseren mehr als ein halbes Jahrhundert zurückreichenden Erinnerungen an die Öffentlichkeit zu treten, anstatt sie allenfalls für die Familienchroniken aufzubereiten. Außer unseren Freunden Erich Köhler und Hansgeorg Stengel besitzen die meisten von uns keine besonderen schriftstellerischen Fähigkeiten oder Ambitionen. In der Mehrzahl bekleideten wir nie herausragende Ämter oder Funktionen und neigen sonst nicht dazu, von persönlichen Erlebnissen oder Leistungen viel Aufhebens zu machen. Dennoch zeugen die gezeichneten "Wege in die DDR" von einer beispiellosen sozialen Mobilität. Sie findet in der frühen westdeutschen Gesellschaft nicht ihresgleichen. Die meisten unserer Autoren kommen, um einen Titel Günter Wallraffs anzuwenden, vom "Ganz unten" der Gesellschaft. Genau das war die eigentliche gesellschaftliche Alternative zu Westdeutschland, wo die alte Funktionselite nach 1945 weitgehend unverändert blieb und sich weiter weitgehend aus sich heraus reproduzierte (mit sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Abweichungen). Beim Vergleichen von DDR und BRD stehen meistens die staatliche und die Eigentumsordnung im Vordergrund, während diese gesellschaftliche Alternative unterbelichtet bleibt. 

Rechtfertigungsversuche für unser in der DDR gelebtes Leben halten wir nicht für angebracht; Erläuterung, Warnung, Ermutigung für heutige und kommende Generationen dagegen allemal. 

Fest steht: Ohne das, was seit einem Jahrzehnt über Ostdeutschland hereingebrochen ist und zunehmend über Gesamtdeutschland, Europa und die Welt hereinzubrechen droht, wären die meisten unserer Texte über das Leben einfacher Menschen in Vorkriegs-, Kiegs- und Nachkriegszeiten nie geschrieben worden. Doch damals hat jeder von uns erlebt, wie heimtückisch ein verbrecherischer Krieg mit scheinbar humanistischen "Begründungen" vorbereitet und begonnen wurde. Leider zeigen die auf Edelmut und Gutgläubigkeit setzenden Täuschungsmanöver verantwortungsloser Hasardeure gegenwärtig bereits erneut Wirkung

Die wenigsten von uns kennen sich persönlich und in manchen Texten kommen durchaus unterschiedliche Auffassungen zum Ausdruck. Doch, obwohl die Mehrzahl davon in den Tagen der angeblich "friedensstiftenden" Bombardements auf Jugoslawien entstand, findet sich in ihnen kein Wort der Befürwortung, statt dessen jedoch Empörung und Sorge angesichts derart unheilvoller Entwicklungen. Das ist sicher ebensowenig ein Zufall wie die bisher immer noch mehrheitliche Absage der ostdeutschen Bevölkerung an diese erstmals unter deutscher Beteiligung verübte völkerrechtswidrige NATO-Aggression sowie alle künftigen Großmachtpläne. 

Nachdem die zielgerichtet verbreiteten "zeitgeistlichen" Klischees immer mehr mit den ostdeutschen Erinnerungen kollidieren und auch für manchen Altbundesbürger allmählich fadenscheiniger werden, gesteht man der DDR gezwungenermaßen ein gewisses (natürlich unangebrachtes) soziales Engagement zu. Dagegen wird ihre über vier Jahrzehnte konsequent betriebene und international anerkannte Friedenspolitik noch immer verleumdet. Es war aber vor allem dieser unbedingte Wille zum Frieden, der Abermillionen Deutsche am Kriegsende beseelte: "Nie wieder Krieg! Lieber lebenslang trocken Brot essen!" Und die DDR wurde trotz mancher Mängel, Irrtümer und Fehler vor allem deshalb unser Staat, weil in ihr kein Platz für Volksverhetzer und Kriegsgewinnler war, denen sie politisch wie ökonomisch den Boden entzog. Die Legitimation dafür erhielt sie durch überwältigende Volksentscheide und nicht zuletzt durch die Potsdamer Beschlüsse der Alliierten, die verbindliches internationales Recht darstellten und nur im Osten Deutschlands ihrem Geist und Buchstaben gemäß erfüllt wurden. (Von der DDR als einem "Unrechtsstaat" zu sprechen, ist schon allein deshalb lächerlich.) 

Natürlich wollte jeder einfache, vernünftige Deutsche damals außer Frieden vor allem Essen, Kleidung, Wohnung; er wollte arbeiten, die Trümmer beseitigen, etwas Neues aufbauen, möglichst schnell aus all dem Hunger und Elend herauskommen. Trotzdem begannen sich Abertausende, vor allem junge Menschen - ob in den zerstörten Städten, auf dem Lande oder noch in Gefangenenlagern - in einem schmerzhaften Erkenntnisprozeß mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Vielen wurde dabei von erfahrenen deutschen und im Osten nicht zuletzt von sowjetischen Antifaschisten geholfen. Einige von diesen werden heute leichthin als "Stalinisten" bezeichnet, obwohl sie der faschistisch verseuchten deutschen Jugend und Bevölkerung selbstlos und geduldig die humanistischsten Menschheitsideale nahezubringen versuchten. Mancher unserer Texte berichtet davon.

 Allerdings muß hier angemerkt werden, daß die antifaschistische Grundhaltung bzw. relativ rasche Bewußtseinsentwicklung vieler unserer Autoren - trotz der in Ostdeutschland im Gegensatz zu den Westzonen durch staatliche und gesellschaftliche Institutionen betriebenen aktiven Aufklärungsarbeit - damals nicht dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprach. Wie konnte es auch anders sein angesichts des zuvor tief verinnerlicht gewesenen nationalistischen und rassistischen Denkens und der Siegeserwartung bis "fünf nach zwölf? Doch die Mehrzahl der Menschen ging mit gesundem Menschenverstand zu Werke, packte kräftig zu, tat das Notwendige und ließ unter unerhörten Schwierigkeiten und Mühen unmöglich Scheinendes schließlich auch ohne Marshallplan Wirklichkeit werden. 

Die Erkenntnis der tieferen Zusammenhänge, von Kriegsursachen, Schuld und notwendiger Wiedergutmachung, griff nur allmählich um sich. Aber wer, wann und wo auch immer, gründlich darüber nachdachte, gelangte mit Sicherheit zu einer Überzeugung: Die Verhinderung künftiger Kriege und ein dauerhafter Frieden erforderten grundsätzlich neue gesellschaftliche Verhältnisse, ebenso, wie nur sie jedem die volle Entfaltung aller persönlichen Fähigkeiten und eine menschenwürdige Existenz garantieren konnten. Und das eine war ohne das andere nicht zu haben. Deshalb strebten wir danach, beides zu verwirklichen (und sind davon überzeugt, daß dies für das Überleben der Menschheit in Gegenwart und Zukunft notwendiger ist denn je zuvor). Bekanntlich spielten solche Überlegungen nach Ende des zweiten Weltkrieges auch in der westdeutschen Bevölkerung eine erhebliche Rolle. Daher schien es dort selbst der CDU geraten, sich vermittels ihres Ahlener Parteiprogramms mit einem sozialistischen Mäntelchen zu drapieren. In die hessische Landesverfassung wurde sogar ein - später suspendierter - Sozialisierungsartikel aufgenommen.

 Befinden wir uns bereits in der nächsten Vorkriegszeit? In einem Beitrag(2) zum Weltfriedenstag 1999 bejahte der Schriftsteller Hermann Kant diese Frage. Er teilt und begründet unsere Besorgnis. Wir sind dankbar, daß er uns die nochmalige Publikation seines Textes gestattet hat. 

Ungeachtet einer übereinstimmenden Motivation und vieler weiterer Gemeinsamkeiten gleichen unsere Beiträge einander ebensowenig wie unsere Charaktere, Temperamente, Erzähl- und Betrachtungsweisen, unsere subjektiven und oft ungewöhnlich oder sogar einmalig erscheinenden Erlebnisse und "Wege in die DDR". Wir haben versucht, durch aufrichtige, kritische, konzentrierte und doch detailgenaue, d. h. nachvollziehbare, Darstellung ein farbiges Mosaik unserer Schicksale und Entscheidungen entstehen zu lassen. Vielleicht werden Jüngere oder Altbundesbürger, die sich unseren Erinnerungen unvoreingenommen nähern, sich nach der Lektüre fragen, ob nicht über manches Damalige und Spätere im Osten Deutschlands anders geurteilt werden müßte, als es die gängigen Klischees suggerieren möchten. Denn da unsere Texte ohne konzeptionelle Vorgabe und völlig unabhängig voneinander entstanden sind, bedeuten ähnliche oder gleichartige Aussagen jedenfalls ein ernstzunehmendes Indiz. In diesem Sinne hat das Redaktionskollektiv scheinbare "Wiederholungen" nicht getilgt, sondern betrachtet sie als unverzichtbar für die Gesamtaussage. 

Sehr herzlich danken wir an dieser Stelle dem GNN-Verlag Schkeuditz und allen anderen treuen Helfern, darunter vor allem unserem Freund Eberhard Panitz. 

Unabhängiges Autorenkollektiv

"So habe ich das erlebt"

 

[1] Der zweite Band „Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953" ist bereits im Frühjahr 1999 beim GNN-Verlag Schkeuditz erschienen und z. Z. noch im Buchhandel bzw. direkt beim Verlag erhältlich. Preis 29,80 DM ISBN 3-932725-80-8. Der dritte Band ist im Entstehen und soll unterschiedliche Erfahrungsbereiche des Lebens in der DDR widerspiegeln.

[2] Neues Deutschland vom 1. September 1999

 


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