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Lehrjahre in Halle

 Wir wohnten in Halle in einem vierstöckigen Mietshaus im vorderen Teil der Jakobstraße, einem Quartier kleiner Geschäftsleute und gutsituierter Angestellter. Der hintere Teil unserer Straße reichte in den Stadtteil Glauchau, ein Arbeiterviertel. Vor 1933 hatten KPD und SPD hier den Ton angegeben. In der Lerchenfeldstraße hatte sich das Parteihaus der Halleschen KPD mit vielen Veranstaltungsräumen befunden. Nach der Befreiung wurde es wieder ein politisches Zentrum, auch für den Antifa-Jugendausschuß und später die FDJ.

In dieser Wohngegend wurde ich 1936 eingeschult. Meine Mitschüler - 40 Jungen in einer Grundschulklasse - waren überwiegend Arbeiterkinder. In der Mittelschule (ab 5. Klasse) änderte sich die soziale Zusammensetzung. Meine Eltern schickten mich jeden Monat ins Rathaus, um die 10 Mark Schulgeld einzuzahlen, Lehrmittelfreiheit bestand nicht. Erst später verstand ich, daß das Schulgeld, welches für die Mittelschule zu zahlen war, vor den höheren Bildungsstufen eine soziale Hürde errichtete. Für die Oberschulen (Gymnasien) war das Schulgeld nicht nur höher, es war auch zwei oder drei Jahre länger zu entrichten - eine noch höhere Hürde. An ein Gymnasium war für mich nicht zu denken.

Als der Krieg begann, war ich kaum 10 Jahre alt. Meine ersten Wahrnehmungen, an die ich mich genauer erinnere, sind der chauvinistische Taumel nach der schnellen Okkupation Polens und Erzählungen über das besetzte Frankreich. Vom Chauvinismus war auch mein Vater angesteckt; ich sehe ihn noch immer, wie er mir freudestrahlend den Sieg über Polen mitteilte. Der Slogan „Leben wie Gott in Frankreich“ trat durch Erzählungen der Erwachsenen in meine Vorstellungen, bereichert durch Gehörtes über mir sagenhaft erscheinende „Geschenkpäckchen“ aus Paris. In der Hitler-Jugend, der ich angehörte, wurden der Chauvinismus gepflegt und der Soldatentod für Deutschland als erstrebenswerte Ehre romantisch verklärt. Nicht ohne Wirkung auch auf mich. Zur Kritik wurde ich durch die Eltern nicht angeregt, aus eigener Erfahrung und Einsicht konnte ich sie noch nicht gewinnen.

Aus meiner jugendlichen Sicht war der „private“ Lebensablauf in den ersten Kriegsjahren in Halle kaum beeinträchtigt. Ausgenommen freilich der Schulbetrieb, der damals noch Jungen und Mädchen trennte. Die jüngeren Lehrer mußten schießen statt lehren. Deshalb waren alte, längst pensionierte Lehrer reaktiviert worden. Dies führte zu skurrilen Unterrichtsbräuchen; teils belustigend, aber für einen wißbegierigen, gern lernenden Schüler traurig. Ich denke dabei weniger an die üblichen Prügel mit dem Rohrstock auf Hände, Kopf oder Po. Dies hatte auch zum pädagogischen Repertoire der meisten in den Krieg kommandierten jüngeren Lehrer gehört. Ich denke auch nicht so sehr an unflätige Schimpfworte, mit denen wir Schüler bedacht wurden, wie z. B. mit folgendem Unterrichtsbeginn: „Heil Hitler! Ihr faulen Rotzbüffel, damit ihr Kultur bekommt, werden wir uns heute mit Goethe befassen!“. Goethe: Während des Krieges hatte ich in der Mittelschule wohl vier Deutschlehrer, jeder begann und verweilte ausgiebig bei Goethe. Noch ein wenig Schiller und Chamisso, dann Balladen von Boerries Freiherr von Münchhausen - das war’s. Keine Ahnung von Lessing, Heinrich Heine, Georg Büchner, Thomas Mann. Unser Deutsch-Neulehrer nach 1945, Herr Albrecht, wollte Gutes tun und begann auch mit Goethe. Wie verwundert war er über unser geringes Interesse! Und wir bemerkten nicht, daß er ganz anders über Goethe sprach.

Der Unterricht war mit wenigen Ausnahmen verkommen. Herr Deutschbein beispielsweise, unser Französisch-Lehrer, betrat die Klasse und erkundigte sich, welches Fach der Stundenplan vorsehe. Wir erteilten ihm Bescheid, wissend, was gleich folgen würde. Dann, meinte er in breiter sächselnder Aussprache, wolle er uns zur Einstimmung „Paschlebener Dorfgeschichten“ erzählen. Nachdem reichlich die Hälfte der Stunde verstrichen war, erneute Erkundigung. Jetzt der Aufruf zum Diktat. „Der erste Satz lautet: ‚Le garçon march par troi’.“ Daran knüpfte sich die liebevolle Verkündung, daß wir doch alle pure Dummbeutel seien. Denn weder wüßten wir, was der Satz bedeute, noch wie die Worte zu schreiben wären. Darum: „Die Schüler marschieren zu dreien“. Herr Deutschbein begann, uns die Worte zu buchstabieren. Bei „garçon" angelangt, verlautete, es sei zwecklos, von uns Schwachköpfen anzunehmen, wir könnten uns la cédille merken, deshalb: „g, a, r; jetzt ein c und darunter einen Kringel nach links, o und n! Habt ihr, ihr Hornochsen?“ Damit wir bloß keinen Diktatfehler machen würden, der ihm die Korrektur erschwerte, malte er das „ç“ an die Tafel. Klingelzeichen, Ende der Französischstunde - Kriegswirklichkeit in der Schule.

Der für Geschichtsunterricht zuständige Lehrer, Dr. Zempel, hörte gern seinen Titel „Reichskolonialredner“. Den hatte er als Propagandaredner für Deutschlands „Recht auf Kolonien“ erhalten. Freilich kam er im Geschichtsunterricht nicht bis zur Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus. Denn beim Dreißigjährigen Krieg blieb er stecken. Wichtig war, seinen Fragen möglichst lange Antworten zu geben. Nachdem ich wegen unzureichender Länge eines Kurzreferates eine „5“ abgefaßt hatte, probierte ich eine Frechheit. Mir war aufgetragen, über „Nürnberger Butzenfenster“ zu reden, im Geschichtsbuch vielleicht fünf Zeilen. Diese referierte ich korrekt und, in der Wortwahl nur leicht variierend, fünfmal hintereinander. Die erwartete Länge brachte mir sein Sonderlob ein und eine „ 1“, allerdings von der Klasse auch den Spitznamen „Quassel“. Kriegswirklichkeit in der Schule.

Ich muß gerecht sein: Es gab andere Lehrer. Wenige. Hochverehrt von uns allen Hans Osterwald. Nicht etwa, weil er der einzige Lehrer war, der den obligatorischen Gruß „Heil Hitler“ vermied. Das hätte uns eher gegen ihn eingenommen. Aber sein Mathematikunterricht war ein Genuß. Später, nach dem Krieg, wurde bekannt, weshalb er den Hitlergruß geschickt vermieden hatte: Osterwald war ein alter sozialdemokratischer Reformpädagoge. Die sowjetische Besatzungsmacht setzte ihn sogleich als Direktor der weltberühmten Franckeschen Stiftungen in Halle ein. Diese einzigartige Kombination von Armen- und höheren Schulen, Internaten, Waisenhaus, Bibliothek, Verlagen, Buchdruckerei und Apotheke war im 17. Jahrhundert von dem pietistischen Theologen August Hermann Francke begründet worden. Mit unserem Herrn Osterwald bekamen die Stiftungen einen würdigen neuen Leiter.

Meinen Altersgenossen ging es wohl mehrheitlich wie mir: Die letzten Jahre des Faschismus und der Verlauf des Krieges übten vorerst einen zwiespältigen Einfluß aus. Bar jeder rationalen Kritikfähigkeit, jugendlich naiv und gläubig, waren wir für den deutschen Chauvinismus, für den rassistischen Überlegenheitswahn und überhaupt für die nazistische Demagogie empfänglich. Und für den Antisemitismus.

Auch ich. Dabei hatte ich weder im Positiven noch im Negativen je überhaupt einen eigenen Eindruck von den so verteufelten Juden erfahren. Im Elternhaus wurde darüber nicht gesprochen. Allerdings gab es durch meine Eltern keine bewußte antisemitische Beeinflussung. Später, nach dem Krieg, fand ich dafür eine Erklärung. Meine Mutter hatte früher in Mannheim bei jüdischen Geschäftsleuten gearbeitet und durch sie, wie auch durch jüdische Ärzte, ein anderes Bild, als es die Nazis vermittelten. Aktiv vermittelt haben sie es mir aber nicht. Das Niederbrennen der Halleschen Synagoge in der Reichspogromnacht 1938 war (wenigstens in meiner Gegenwart) zu Hause kein Thema. Die Hallesche Synagoge lag ganz in der Nähe. An das Bild der noch rauchenden Ruine mit einem stehengebliebenen, reich verzierten Torbogen erinnere ich mich noch. Wie ich dieses Bild damals, als 9 jähriges Kind, verarbeitet und ob ich Fragen gestellt habe, weiß ich nicht mehr.

Erst viel später öffneten das Erleben der Kriegsnächte mit Fliegeralarm und Bomben, die wachsende Zahl obdachloser Ausgebombter und der Flüchtlinge, die Briefe meiner Onkel und Tanten über die Zerstörung Mannheims einen schmalen Pfad zum Zweifel. Nein, Zweifel ist ein zu starker Ausdruck. Es waren Ahnungen. Auch angeregt durch das Ausbleiben der gewohnten deutschen Siege - in der Sowjetunion. Die Niederlage in Stalingrad 1942/43 habe ich als Katastrophe zwar empfunden, allerdings noch nicht bewußt verarbeitet, geschweige denn in ihrer kriegswendenden Bedeutung erkennen können.

Da war ich 13 Jahre. Um so stärker hat mich später Theodor Pliviers „Stalingrad“-Roman ergriffen - eines der ersten Bücher des Aufbau-Verlages nach der Befreiung.

Im Halleschen Straßenbild waren oft Menschen zu sehen, die auf ihrer ärmlichen Kleidung einen rautenförmigen Aufnäher trugen. Auf ihm stand „Ost“. Damit wurden sie diskriminierend als „Fremdarbeiter“, als entrechtete „Ostarbeiter“, gekennzeichnet. Meist waren es Polen oder Ukrainer. Darüber machte ich mir kaum Gedanken. So war es, Punkt. Erst ein kleines Schulweg-Erlebnis löste zaghafte Nachdenklichkeit aus, die sich aber im Hintergrund vorerst verkapselte: Ich bummelte auf dem Bürgersteig zur Schule. Eine „Ostarbeiterin“ kam mir entgegen. Wir hätten uns auf dem fast 3 m breiten Gehsteig beim Vorbeigehen nicht behindert. Doch, mir Platz machend, verließ sie ihn und ging, durch eine Pfütze, auf der Fahrbahn an mir vorüber, dann zurück aufs Trottoir. Den Ort des Geschehens weiß ich heute noch metergenau. Wie demütigend muß es für die polnische Arbeiterin gewesen sein, solche „Höflichkeit“ einem jungen Burschen erweisen zu sollen, nur weil der zum „deutschen Herrenvolk“ gehörte. Meine Eltern hatten mich zu Höflichkeit erzogen gegenüber älteren Menschen, also gegenüber Erwachsenen zuvorkommend und behilflich zu sein, zuerst zu grüßen, ihnen den Vortritt zu lassen, in der Straßenbahn aufzustehen und ihnen gegebenenfalls Platz zu machen. Aber damals sah ich die Kluft zwischen solcher Erziehung und ihrer faktischen Ungültigkeit für die Diskriminierten noch nicht. Das Erlebnis in Halles Bertramstraße prägte sich um so mehr ein, als ich es mit einer anderen Straßenszene verband. Zwei polnische Ostarbeiterinnen begegneten einem ebenso abgerissen gekleideten Polen, und der begrüßte beide mit Handkuß. Vielleicht hatte ich ein Empfinden für die groteske Spannung zwischen äußerer Abgerissenheit und eleganter Anmut. Von dieser spezifisch polnischen Alltags-Courtoisie wußte ich damals natürlich noch nichts.

Diese miteinander verknüpften Bilder traten später wieder hervor. Sie verbanden sich mit einem dritten Erlebnis: In Warschau erzählte mir meine Freundin und Genossin Halina Zalewska von einer Straßenbegegnung mit Deutschen. Sie ging - gleichen Alters wie ich - im deutsch okkupierten Warschau zur Schule, ein illegales Gymnasium im Untergrund. Die Lehrbücher waren handgeschrieben. Halina geriet auf dem Schulweg in eine Razzia der deutschen Wehrmacht. Eine Gasse in der Warschauer Altstadt wurde abgeriegelt. Die zufällig dort befindlichen Menschen wurden von Wehrmachtssoldaten zusammengetrieben und auf der Stelle als Geiseln erschossen. Halina überlebte, jemand hatte sie geistesgegenwärtig in einen offenen Kellerschacht gestoßen.

Diese inneren Bilder begleiteten mich auf meinen späteren Reisen ins Ausland. Sie bekamen gleichsam Langzeitwirkung und sensibilisierten meine Wahrnehmung sozialer Verhältnisse „im Westen“. Nicht selten bemerkte ich dort bei meinen Aufenthalten, wie alte deutsch-arrogante Muster aus der Nazizeit nachwirken: in Gesten, Redewendungen und im verinnerlichten, gleichsam „mechanisierten“ Alltagsverhalten. Z. B. ist mir in Westberlin - außerhalb des deutsch-türkischen Stadtteils Kreuzberg - aufgefallen, wie sich viele Deutsche gegenüber „Gastarbeitern“ verhalten, auch heute noch: Einer deutschen Frau wird höflich der Vortritt gelassen oder in der vollen U-Bahn Platz gemacht. Für die am Schador kenntliche Türkin gibt es diese Höflichkeit - als Regelverhalten - nicht.

Ich wende mich wieder der Kriegszeit zu. In meiner Erinnerung ist mein erster eigener Gedanke gegen die allgegenwärtige Propaganda mit Erzählungen über die „Ostfront“ verknüpft. Ich hörte sie, etwa 1943, vom Vater zweier Spielfreunde in unserem Hause. Wegen einer Kopfverwundung hatte er einen langen Heimaturlaub. Weil Halle bis zu dieser Zeit von Flugzeugbombardierungen verschont geblieben war, hatte ich außer den häufigen Fliegeralarmen noch keinerlei eigene Kriegserlebnisse. Mein Kriegsbild stammte aus Kino-Wochenschauen sowie aus den spannenden Landserheften mit Kriegserzählungen. Sie heroisierten den Krieg derart, daß ich kindlich entschlossen war, mich später freiwillig zur Wehrmacht zu melden.

Die Erzählungen des Wohnungsnachbarn wären wahrscheinlich in meiner Erinnerung gelöscht, würden sie nicht von einem abstoßenden, weil blutrünstigen und haßtriefenden Fanatismus gewesen sein. Vermutlich begann meine Nachdenklichkeit nicht wegen des Berichteten selbst, sondern wegen des Geifers der Darstellung. Der Wehrmacht-Oberleutnant sprach von der unglaublichen Härte des Krieges. „Mann gegen Mann“. Er ließ sich darüber aus, wie seine Kompanie in den Dörfern Rußlands gehaust hatte: „Um Ruhe zu haben, haben wir sie einfach massakriert“. Frauen und Kinder seien nicht ausgenommen, denn die seien „der antideutsche Nachwuchs“! Werbend forderte er mich auf, „deutsche Härte“ zu erwerben. Daß „die minderwertigen Russen“ so erbitterten Widerstand leisteten, habe er nicht erwartet. Schlecht ausgerüstet, verteidigten sie mit bloßen Händen jeden Millimeter. Er erzählte, wie er in einem schon zerstörten Dorf vor Leningrad mit dem Flammenwerfer die Bewohner einer Erdhütte „ausräuchern“ wollte. Obwohl in aussichtsloser Lage, habe ihm ein schwerstverletzter Rotarmist den Weg verlegen wollen. Mit genußvollem Sadismus schilderte er naturalistisch, und dies körperlich nachstellend, wie er sich zuerst seiner entledigt habe, mit einem Feuerstrahl „in seinen aufgerissenen Bauch ...“ Gestisch richtete er den Feuerstrahl auf mich. Dieses Bild und die Pose des verächtlichen Hasses, die so gar nichts mit dem Propagandabild über die Ritterlichkeit deutscher Wehrmachtssoldaten zu tun hatte, haften in meiner Erinnerung. Und sie ließen später, als die Sowjetarmee in Halle die US-Besatzung ablöste, große Ängste über Vergeltung entstehen.

Der Nachbar war - wie ich erst später verstand - ein strammer Nazi, beim Militär Oberleutnant und „NS-Führungsoffizier“, im Zivilberuf Zeitungsmann. Nach dem Krieg hatte Herr S. in Halle einen Zeitungs- und Buchvertrieb aufgemacht. Während der bis Herbst 1945 dauernden Unterbrechung des Schulunterrichtes war er mein Arbeitgeber: Als Straßenhändler verkaufte ich für ihn die erste neue Zeitung in Halle, ein von den Amerikanern lizensiertes Mitteilungsblatt über Anordnungen, Lebensmittelrationen, Verkehrsfragen etc. Von Verlagen in Leipzig schleppte ich Pakete mit Büchern früherer Auflagen herbei. Immer drei: eines auf den Rücken gebunden, zwei in den Händen tragend. Das war schwere Arbeit. Die Bahnfahrt in den überfüllten Zügen war abenteuerlich, nicht selten - mit Paketen - auf Trittbrettern oder auf dem Waggondach. Bald hatte ich herausgefunden, wie ich für einen geringen Obolus an den Schaffner komfortabler reisen konnte: Die Waggons hatten neben dem Einstieg kleine Hundeabteile. Ein solches Abteil reichte, meine Pakete und mich aufzunehmen, eine Stunde oder länger in der Hocke sitzend.

Bald nach Gründung der DDR ging der Zeitungs- und Buchgrossist nach Bayern. Dort mauserte er sich zum Christdemokraten und zum „freiheitlich-demokratischen Journalismus“, wie er, die Freiheit preisend und sie einladend, meinen Eltern schrieb. Neugierig sah ich mir Jahre später, so um 1965, in Nürnberg sein Haus an: Kein Zweifel, zu solchem Wohlstand hätte er in der DDR niemals kommen können.

Verglichen mit anderen Groß- und Industriestädten hat Halle wenige Bombenangriffe erlitten. Doch die sich immer mehr häufenden Alarmnächte, das angsterfüllte stundenlange Ausharren im Luftschutzkeller, bis die Sirenen Entwarnung verkündeten, und die Berichte über die Zerstörungen in anderen Städten sind in meine Kindheitserinnerungen und in meine Kriegsbilder eingegangen. Bei einem der Angriffe wurde ein Nachbarhaus getroffen. Ein Teil seiner Vorderfassade stürzte ein. In der nächsten Hauptstraße, dem Steinweg, unterbrach ein riesiger Bombentrichter den Straßenbahnverkehr. Das Ausmaß der Zerstörungen war glücklicherweise gering.

1945 hätte ich in den Franckeschen Stiftungen bei einem Luftangriff fast das Leben verloren. Es war wohl im Februar, als ich wie die anderen „Hitlerjungen“ meines Alters (15 Jahre) zu einer Volkssturmausbildung einberufen wurde. Der „Volkssturm“ war nach den jugendlichen Flakhelfern das letzte militärische Aufgebot. Die „Latina“, ein Gymnasium in den Franckeschen Stiftungen, diente als Kaserne. Bei den Fliegeralarmen mußten wir in den kaum bombensicheren Keller. In der Nacht eines Luftangriffs hatte ich auf eigene Faust „Urlaub“ genommen und zu Hause geschlafen. Die Latina wurde schwer getroffen. Über jener Stelle des Kellers, an der mein Platz war, befand sich ein riesiger Trümmerberg. In der Verwirrung war nicht aufgefallen, daß ich nachts weg war. Deshalb galt ich als tot. Mein Überleben infolge der unerlaubten Abwesenheit konnte ich damit „rechtfertigen“, daß ich mich an anderer Stelle des weiträumigen Kellers aufgehalten hätte. Wer konnte dies noch nachprüfen?

Im Süden der Stadt war ein Straßenzug stark beschädigt worden. Wir wurden zum Aufräumen eingesetzt. Auf dem Rückmarsch - „Le garçon march par troi!“ - kamen wir an einer zum Enttrümmern eingesetzten Gruppe britischer Kriegsgefangener vorbei. Unser Kommandeur, ein scharfmacherischer Nazi, befahl: „Die Augen links!“ auf die andere Straßenseite abzuwenden. Das war als Zeichen der Verachtung gedacht.

Die Volkssturmausbildung - am Karabiner, am „Maschinengewehr 34“ und an der Panzerfaust - wurde fortgesetzt. Das geschah im Gelände der Heeresnachrichtenschule in Halle und in der Dölauer Heide, wo sich Schießstände befanden. Der erwähnte Kommandeur, ein degradierter Oberleutnant, striezte uns durch das Gelände und versuchte uns einzureden, die Schleiferei diene dem Endsieg über den „jüdischen Bolschewismus“. An einem erbeuteten sowjetischen T34-Panzer zeigte er, wohin wir mit der Panzerfaust zu zielen hätten. Er forderte uns auf, den T34 genau anzusehen. Wir würden unschwer den bolschewistischen Pfusch erkennen. Er meinte die groben, nicht weggeschliffenen Schweißnähte von Daumenstärke. So etwas, tönte er verächtlich und siegessicher, sei bei deutschen Panzern nicht zu finden. Merkwürdig nur, daß dieser „Pfusch“ bereits an die Oder vorgedrungen war. Glücklicherweise hatten wir einen zweiten Ausbilder. Der Gefreite, schwer verwundet und mit allerlei Ordensspangen behaftet, war ein mutiger Mann. Er konnte nicht sicher sein, ob wir auf ihn hören oder ihn denunzierten würden. In einem günstigen Moment nahm er unsere Gruppe beiseite und legte uns dringend nahe, nicht auf den Oberleutnant zu hören. Wenn ein T34 am Horizont auftauche oder aus dem Unterholz breche, sollten wir sofort links und rechts das Weite suchen. „Und dann stellt euch tot, sonst werdet ihr tot sein. Glaubt mir, ich bin ein erfahrenes Frontschwein. Vergeßt die Schweißnähte, auf die kommt es nicht an!“ Dann schwärmte er über das deutsche MG 34, an dem er uns ausbildete. Es sei wirklich beste deutsche Wertarbeit, von feinmechanischer Präzision. Deshalb dürfe freilich kein Sandkörnchen in sein Schloß geraten. Leider gäbe es an allen Fronten genügend Dreck. Darum, appellierte er an uns, sollten wir sorgfältig und sauber sein. Die Russen hätten Maschinengewehre, auch im T34, denen man Sand als Schmiermittel ins Schloß schütten dürfe. Im übrigen sei das deutsche MG 42 dem sowjetischen nachgebaut ...

Der Mann war mutig - und wir waren als Folge des Kriegsverlaufes schon nicht mehr so fanatisiert, wenngleich längst noch nicht vernünftig. Dieser Gefreite hat praktiziert, was ich später bei Brecht über die List beim Verbreiten der Wahrheit las. Ich bin ihm dankbar.

Während die etwas Älteren noch „Flakhelfer“ geworden waren, brachte ich es nur zur „Volkssturm“-Ausbildung. Zum Einsatz kamen wir glücklicherweise nicht. Das Kriegsende fand in Halle im April statt. Die Truppen der USA standen am Saaleufer im Westen und wohl auch schon im Norden. Militärisch war die Stadt zweifellos nicht zu halten. Die Amerikaner stellten ein Ultimatum zur Kapitulation. Der Stadtkommandant wollte dem Hitlerbefehl folgen und die wenig zerstörte Universitäts- und Industriestadt „bis zum letzten Stein und zum letzten Blutstropfen“ verteidigen. Das hätte die Zerstörung der Stadt bedeutet. Die Amerikaner ließen daran keinen Zweifel und kündigten mit Flugblättern ein Luft- und Artillerie-Bombardement an.

In diesen Tagen trat unter dem Kürzel ANB - „Antinazistische Bewegung“ - eine Widerstandsgruppe an die Öffentlichkeit. Sie rief mit illegal gedruckten Flugblättern die Bevölkerung auf, zum Zeichen ihrer Forderung auf friedliche Übergabe der Stadt weiße Fahnen zu hissen. Fast augenblicklich hingen in ganz Halle aus den Fenstern der meisten Wohnungen weiße Bettlaken, nun an den Stangen der Nazifahnen befestigt. Das Bild war eindrucksvoll. Ich fuhr mit dem Rad durch die Stadt und zum rechten Saaleufer. Die Brücken nicht mehr passierbar. Auf der anderen Seite die Amerikaner. Den Flugplatz und die dortigen Kasernen hatten sie schon eingenommen. Die Wehrmachtssoldaten waren angesichts des offenkundig verlorenen Krieges kampfesmüde und verdrückten sich. Die „Amtswalter“ der NSDAP hatten sich schon in Sicherheit gebracht. Unter dem Eindruck dieser Lage, des Friedenswillens der Bevölkerung und der mutigen Männer der ANB begann der deutsche Kampfkommandant mit den Parlamentären zu verhandeln. Soweit ich mich erinnere, erfolgte zwar keine Übergabe der Stadt mittels einer formellen Kapitulation, aber es mußte ein Modus des schrittweisen kampflosen Rückzuges vereinbart gewesen sein. Der Krieg hatte eine gewisse Komik angenommen: Mit dem Fahrrad besichtigte ich neugierig das Vorrücken der US-Truppen vom Norden der Stadt her, über den Marktplatz und durch die Rannesche Straße. An der Kreuzung des Francke-Platzes richteten sie eine MG-Sicherung ein mit Front in Richtung zum Ranneschen Platz. Dort, etwa 1.000 m entfernt, hatte sich der deutsche Kommandant in einem Cafe einquartiert. Während sich amerikanische MPi-Schützen langsam an den Häuserwänden entlang bewegten, zögernd von Jeeps gefolgt, wurde die „Kommandantur“ geräumt. Der Krieg war aus, ohne Schießerei. Die Stadt blieb erhalten. Nur ihr Wahrzeichen, der mittelalterliche Rote Turm am Marktplatz, wurde durch einen Granattreffer in letzter Stunde, am 16. April 1945, geköpft und als Ruine zu einem Antikriegsdenkmal.

Die ANB stellte die erste provisorische deutsche Stadtverwaltung. Initiatoren dieser Widerstandsgruppe waren der Direktor des Universitätsinstituts für Chemie, Prof. Dr. Theodor Lieser, der nun kurze Zeit als Oberbürgermeister amtierte, und der Mediziner Prof. Dr. Hülse.

Einige Wochen später lernte ich Professor Lieser kennen. Chemie und Physik waren meine Lieblingsfächer in der Schule. Zu Hause hatte ich zum Mißvergnügen meiner Mutter ein kleines Chemie-„Labor“ eingerichtet. Mein Berufswunsch war, Chemiker zu werden. Die Schule war unterbrochen und ich bewarb mich bei Prof. Lieser um eine Lehrlingsstelle als Chemielaborant. Die bekam ich, in seinem Privatlabor. Mit seiner Hilfe erlaubte mir eine Sonderregelung, vormittags die wiedereröffnete Schule zu besuchen und am Nachmittag Lehrling zu sein.

In den Kellerräumen des alten Chemischen Instituts am Domplatz hatten die konspirativen Zusammenkünfte der ANB stattgefunden. Um notfalls bewaffnet kampffähig zu sein, hatten sich ANB-Mitglieder hier im Pistolenschießen geübt.

Professor Lieser war ein entschlossener Antinazi - und eine eindrucksvolle äußere Erscheinung. Daß er mein erster Chef wurde, ist einer der Glücksfälle meines Lebens. Ich erhielt antifaschistische Impulse. Professor Lieser nahm einige Zeit später einen Ruf an die Universität in Frankfurt/M. an und zog nach Darmstadt. Während eines illegalen Besuches bei meinen Verwandten in der amerikanischen Besatzungszone, in Mannheim und Frankfurt (1947 - ich hatte keinen Interzonenpaß und ging mit Herzklopfen bei Ellrich über die grüne Grenze), besuchte ich ihn. Er lud mich ein, bei ihm als Laborassistent zu arbeiten. Aber ich wollte in Halle bleiben.

Meine Altersgruppe war eine Zwischengeneration. Wir befanden uns in einer merkwürdigen Situation. Gegen Ende des Krieges waren wir um die 14 bis 16 Jahre alt. In diesem Alter beginnt man langsam, die Welt mit eigenen Augen und eigenem Kopf bewußt wahrzunehmen. Man sammelt eigene Erfahrungen und macht sich darüber eigene Gedanken. Dieser an sich normale Emanzipationsvorgang fiel für meine Generation mit einer einschneidenden gesellschaftlichen und politischen Zäsur zusammen, mit dem Niedergang des Faschismus, der Kriegsniederlage, mit dem Beginn - wenigstens im Osten Deutschlands - einer völlig neuen Ordnung.

Dieses Zusammenfallen war einesteils ein erleichternder Umstand. Denn die nazistischen Einflüsse hatten wir noch nicht so tief verinnerlicht und - vor allem! - sie waren noch nicht zu belastenden Untaten geworden. Andererseits war die Überforderung erschwerend, in diesem Alter so grundstürzende Veränderungen verarbeiten zu müssen und zu können. Darin lag die Gefahr, nach einer Periode der Verwirrung und des Stillehaltens nicht dagegen gefeit zu sein, einen bloßen Austausch von Glaubenssätzen vorzunehmen. Vielleicht ist dies eine Komponente, welche die Wirkungen des Personenkultes um Stalin und Gläubigkeit begünstigte.

Ich spreche hier nicht von jenen meiner Altersgenossen, die im Elternhaus offen oder listig getarnt gegen den Faschismus erzogen wurden. Für sie gab es über den Charakter der deutschen Kriegsniederlage und der alliierten Besetzung keinen Zweifel. Sie verstanden und empfanden dieses historische Datum sofort als Befreiung. Diese Altersgenossen waren nur eine winzige Minderheit.

Als nach 1945 keine Notwendigkeit mehr bestand, sich in der Schule bedeckt zu halten, z. B. um die Eltern und sich zu schützen, ist mir nur von einem (!) meiner Mitschüler und Freunde ein antifaschistischer Einfluß des Elternhauses bekannt geworden. Diese Ausnahme war mein Banknachbar Burchard Brentjes. Er war eindeutig und mit Abstand unser Klassenbester, von weitgespanntem Interesse, sehr belesen. Er hätte nicht auf die Mittelschule, sondern auf das Gymnasium gehört. Später wurde er Professor für Orientalistik an den Universitäten in Halle und Berlin.

Erst in Veranstaltungen des Antifaschistischen Jugendausschusses und in der FDJ lernte ich Altersgenossen kennen, die in kommunistischen oder sozialdemokratischen Familien bewußt gegen den Faschismus erzogen worden waren. Ihre subversive Erziehung hat sie viel schneller reifen und bewußter werden lassen. Sie waren mir und meinesgleichen geistig und in ihrer menschlichen Reife voraus. Zu dieser kleinen Gruppe in Halle gehörten Margot Feist (Honecker) und ihr Bruder Manfred. Margot initiierte in Halle den Antifa-Jugendausschuß und später die FDJ. Sie war ein charmantes, schönes und überaus intelligentes Mädchen. Ich gehörte zu den nicht wenigen Jungen in Halle, die unsterblich in sie verliebt waren. Viele Monate gingen Margot und ich zusammen den gleichen Weg zu unseren benachbarten Arbeitsstellen, aber ich unternahm nie einen praktischen Annäherungsversuch.

Nach ihrer Wiedereröffnung im Herbst 1945 waren in der Schule Neulehrer eingesetzt worden. Im Gegensatz zu vordem fühlten wir uns jetzt von den Lehrern als Partner behandelt. Die Rohrstöcke waren verschwunden, die Prügelei war abgeschafft. Beschimpfungen waren undenkbar geworden. In der Schule hatte eine neue Zeit begonnen. „Antiautoritäre Erziehung“ war kein zeitgenössischer Begriff. Dennoch trifft er recht genau das pädagogische Selbstverständnis der Neulehrer. Die ersten Neulehrer (an unserer Mittelschule) waren antifaschistische Persönlichkeiten, die bestimmte fachliche Voraussetzungen besaßen und die, gleichsam im Schnellverfahren, pädagogische Lehrgänge absolvierten. Nachmittags nahmen sie selbst Unterricht, am nächsten Vormittag gaben sie Unterricht - das war ihr Lebensrhythmus.

Im Fach Deutsch lautete das Thema meiner Schulabschlußarbeit: „Von den verschiedenen Arten des Hungers“ - anknüpfend an Wilhelm Raabes „Hungerpastor“. Sieben maschinengeschriebene Seiten, als „beste Arbeit der Klasse“ bewertet. Der Aufsatz über den Hunger vom Januar 1946 kann als dokumentarischer Beleg für meinen damaligen Horizont, für die Befindlichkeit und für das eingesetzte Suchen gelten. Das Thema war selbstgewählt. „Hunger“ ist Metapher. Schon in der achten Zeile wird das eigentliche Thema deutlich: „Wissensdurst“, „Hunger nach Wissen“, „geistiger Hunger“. Kein Zufall in dieser Zeit.

Lächelnd lese ich heute meinen ersten längeren Text von 1946 - vor allem ob der apodiktischen Urteile (z. B. über Immanuel Kant und über Nietzsche1) sowie ob der naiven Unbefangenheit und Unbekümmertheit, mit der ich ein Gedicht des chauvinistischen und sowjetfeindlichen Nazidichters Edwin Erich Dwinger über die Heimatsehnsucht eines Kriegsgefangenen in Sibirien zitierte. Noch kein einziger Satz besitzt eine unverwechselbare antifaschistische Aussage. „Humanität“ ist der allgemeine und noch unbestimmte Nenner. Als Kriegsursache sah ich ganz allgemeinmenschlich „Machthunger“ - von Cäsar über Napoleon bis in die Gegenwart. Doch dann: „Während des letzten langen und erbitterten Weltkrieges fühlten wir immer mehr einen Durst nach Frieden und normalen Zeiten. Alle wünschten wieder ruhige Nächte, ohne den schon gewohnten Klang der Sirene, ohne das nächtliche Inferno der Flak und der Bomben. ... Die Besten der Völker waren gefallen und die Stimme der Humanität erwachte aus ihrem Schweigen. ... Wird der Friedenshunger von langer Dauer sein? Wir wissen es nicht!“

Das war im Januar 1946. Die Schularbeit schließt mit dem Bekenntnis „eines Hungernden, eines Suchers nach Wahrheit“ zu einer Maxime Gotthold Ephraim Lessings: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzig immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib, die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“

Bei diesem Verständnis und seinem innewohnenden Toleranzgebot bin ich geblieben. Ich sehe es im Gleichklang mit Karl Marx’ methodischem Grundsatz: „An allem ist zu zweifeln“ und dem Verständnis der marxistischen Erkenntnistheorie über absolute und relative Wahrheit.

Zum Stillen des „geistigen Hungers“ und der Bearbeitung von methodischem Zweifel gab es in Halle ein sehr reiches Angebot. Die Theater zeigten bisher unbeachtete Stücke. Die Veranstaltungen, z. B. des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ oder der Universität, ergaben ein äußerst vielseitiges „Abendprogramm“. Überwiegend waren die Veranstaltungen auf Diskussion angelegt.

In meiner Erinnerung scheint es, daß in späteren Jahren niemals wieder eine solche Dichte der „Angebote“ und eine solche Intensität der freimütigen Debatten erreicht wurde, wie in den ersten Jahren nach dem Krieg. Gewiß, damals fesselte noch kein Fernsehen an den häuslichen Bildschirm. Doch die wesentliche Ursache des regen Veranstaltungslebens dürfte wohl gewesen sein, daß Parteien, Organisationen, Theater und Kino in einer einzigartigen Weise Medium für eine gesellschaftliche Neuorientierung waren, für das Innewerden des grundstürzenden Umbruchs, für die kritische Aneignung der jüngsten Vergangenheit - und für die individuelle Orientierung.

Vormittags Schule, nachmittags Lehrling. Fast an jedem Abend in Veranstaltungen, im Theater oder im Kino. Dazwischen jede Minute zum Lesen nutzend. Wenig Schlaf. Gelegentlich an Sonntagvormittagen Konzertbesuch. Das war in den ersten Nachkriegsjahren mein Lebensrhythmus.

Die Parteien des demokratischen Blocks mühten sich um Mitglieder und um Einfluß. Anfang 1946 war ich mit einigen anderen Klassenkameraden Mitglied der LDP geworden. Aber nach kurzer Zeit trat ich aus, was in der Partei ein kleines Beben auslöste. In einer öffentlichen Jugendveranstaltung warb der Landesvorsitzende der Partei, Ministerialdirektor Schwartze, für ein inniges Freundschaftsverhältnis zu Sowjetunion, wofür er die geläufigen Gründe nannte.

Das hätte mich nicht sonders beeindruckt, wenn derselbe Referent nicht am darauf folgenden Tage - sogar im gleichen Saal des Stadtschützenhauses - in einer Mitgliederversammlung der LDP eine genau entgegengesetzte Position propagiert hätte, gewissermaßen im Schutze der parteiinternen Abgeschlossenheit. Sich natürlich von der SED, aber auch - wegen deren Bodenreformpolitik - von der CDU abgrenzend, richtete Schwartze heftige Angriffe gegen die Besatzungsmacht. In der Sache hatte ich noch längst keine gefestigte eigene Meinung und war noch nach beiden Seiten hin offen. Aber die Doppelzüngigkeit ging mir gegen den Strich. Ich meldete mich zur Diskussion und zitierte, begleitet von der Unruhe des Saales, die Äußerungen vom Vortage. Der Vorsitzende möge mir seine beiden Meinungen erklären und mir aus meiner Verwirrung helfen. Aus dem Saal kamen Zwischenrufe unterschiedlicher Richtung. Vom Vorstandstisch rief jemand, ich sei ein Grünschnabel, der von Politik nichts verstehe. Darauf sagte ich, wenn Doppelzüngigkeit die Politik der LDP sei, wäre ich fehl am Platze, übergab dem Versammlungsleiter mein Mitgliedsbuch und verließ den Saal. Am nächsten Tage erschien eine dreiköpfige Delegation des Ortsvorstandes. Sie wollte mich bewegen, meinen Austritt rückgängig zu machen. Ohne Erfolg. Zu dieser Zeit wußte ich freilich noch nicht, daß in den Kulissen der Halleschen LDP zwei Gruppierungen in heftigem Streit lagen. Die eine war eine progressiv-liberale. Sie orientierte sich am Parteivorsitzenden Dr. Külz und knüpfte am linksliberalen Bürgertum der Weimarer Zeit an. Ihr Hallescher Repräsentant war der spätere LDP-Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Rudolf Agsten. Die zweite Gruppierung war mehr den neoliberalen und nationalliberalen Kreisen der westdeutschen FDP verbunden, zu ihr gehörte der spätere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher.

Veranstaltungen zur Diskussion von Theateraufführungen, von Filmen oder neuen Büchern waren meist übervoll - in nicht kleinen Sälen. Wer vermag sich heute noch vorzustellen, daß die Vorträge des blinden Ernst Niekisch über deutsche Geschichte nach 1918, der Theologen Karl Barth und Fritz Lieb über Christentum und Faschismus oder die Diskussion der DEFA-Verfilmung von Georg Büchners „Wozzek“ Hunderte von Menschen anzogen? Veranstalter waren der Kulturbund, die FDJ und bald auch die „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“. Kulturbund und Gesellschaft hatten eigene Klubhäuser.

Vom Kulturbund ging in den Nachkriegsjahren eine große Anziehungskraft aus. Über die Grenzen parteipolitischer Orientierungen oder der Generationen pulsierte ein lebhaftes geistiges Leben, interessant durch seinen „interdisziplinären“ Charakter, die demokratische Gleichheit der Partner und durch die Offenheit der Debatten. Allein die Hallesche Hochschulgruppe des Kulturbundes hatte etwa 2.000 Mitglieder aus der Universität, der Theater- und Musikhochschule und der Kunsthochschule Burg Giebichenstein.

Der Kulturbund legte seine Veranstaltungen sehr oft in das Auditorium maximum der Universität oder gar in ihre Aula, deren gewiß nicht geringen Plätze oft nicht reichten. Hier hörte ich - unvergeßliche Erlebnisse - inmitten von fünfhundert oder sechshundert Interessierten die Historiker Ernst Niekisch und Leo Kofler, die Literatur- und Sprachwissenschaftler Hans Mayer und Victor Klemperer, den Theologen Fritz Lieb, die Pädagogen Ludwig Deiters und Johannes Resch über sozialistische Reformpädagogik. Der Schweriner Dompfarrer Karl Kleinschmidt setzte sich für einen weiten, Politik und Alltag umfassenden Kulturbegriff ein - gegen die bürgerlich-elitären Vorstellungen. Im Kulturbund las Werner Krynitz Heinrich Kleists „Über die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden“. Hugo Steurer spielte Beethovens Klaviersonaten. Die „Gesellschaft mit dem langen Namen“, wie die spätere Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft damals noch genannt wurde, brauchte den größten Saal der Stadt für eine Serie von Vorträgen des sowjetischen Philosophen Major Patent. Diesem ging ein legendärer Ruf voraus. War man nicht rechtzeitig, mindestens eine Stunde vorher, zur Stelle, bestand im Großen Saal des „Stadtschützenhauses“ nicht einmal Aussicht auf einen Stehplatz. Dreimal mußte ich wieder abziehen. Wenigstens einen seiner in perfektem Deutsch frei gehaltenen Vorträge habe ich erlebt.

Im überfüllten großen Saal des Halleschen Volksparks sprachen der Philosoph Klaus Zweiling über die Dialektik und, in einer Mitgliederversammlung der SED an der Universität, Otto Grotewohl über marxistisches Staatsverständnis. Ich war noch nicht Mitglied der SED und konnte mich nicht mit einem Parteibuch ausweisen. Deshalb schmuggelte ich mich über eine Feuerwehr-Nottreppe in den Saal. Mir blieb Grotewohls Vortrag nicht nur wegen seiner eindrucksvollen und angenehmen Rhetorik im Gedächtnis. Später, angesichts der oftmals trockenen und an dogmatischen Sprachregelungen und Formeln klebenden „Darbietungen“ der marxistisch-leninistischen Staatstheorie, war er mir ein kritisches Maß. Und stets eine Mahnung gegen die Vernachlässigung der rhetorischen Kultur der deutschen Arbeiterbewegung.

August 1948. Das Auditorium maximum der Halleschen Universität war überfüllt. Karl Kendzia, der Intendant, und der Dramaturg Gröhl stellten den Theaterspielplan der Halleschen Bühnen vor. Die Diskussion war heiß, der Versammlungsleiter hatte es nicht leicht, die Übersicht zu behalten. Wie auch in anderen Veranstaltungen des Kulturbundes, prallten fortschrittliche Meinungen und alte Auffassungen aller Schattierungen heftig aufeinander.

Tags darauf berichtet die Hallesche Tageszeitung „Freiheit“, dort findet sich folgender Passus: „... ‚Ich kann aber nicht nach Paris fahren’, erwiderte der Mann mit dem braunen Hemd - dies durchaus wörtlich genommen. ‚Die Fliegen haben durchaus Daseinsberechtigung.’ Eine stürmische Lachsalve ob des Lapsus, den der Redner beging. Tatsächlich waren ‚Die Fliegen’ Jean Paul Sartres gemeint. Berechtigter Zuruf: ‚Zieh dein Braunhemd doch endlich aus’. Mit der braunen Farbe habe er, der Redner, längst gebrochen. Doch der braune Geist scheint ihm geblieben zu sein. .. .“2

Der Mann mit dem braunen Hemd war ich, damals gerade 19 Jahre alt. Selbstverständlich trug ich kein „Braunhemd“ der Nazis, es war ein Tropenhemd der Wehrmacht. Die Versammlung endete nach Mitternacht. In kleinen Gruppen wurde noch lange erregt weiterdiskutiert. In einer solchen Gruppe stand ich, als mich jemand ansprach und zur Seite bat. „Hauptmann Edelberg von der SMA“3 stellte er sich vor, in makellosem Deutsch, zivil gekleidet. Er sei Kulturoffizier. Ich hätte da interessante Fragen aufgeworfen, und die würde er gern mit mir diskutieren. Vielleicht könnte ich am nächsten Tag um 22 Uhr (!) zu einem Gespräch in die Maxim-Gorki-Straße kommen, das war der Sitz der SMA in Halle. Noch saß mir der „Sibirien-Schreck“, dieses Gespenst aus der Goebbels-Küche, in den Gliedern. Mein Herz sank in den tiefsten Keller der Universität. Aber ich wagte nicht, die Einladung auszuschlagen. Zu Hause erklärte ich meiner Mutter, ich sei „zu den Russen bestellt“. Diese Formel löste meist Angst aus, vielleicht durch ein schlechtes Gewissen begründet, vielleicht auch nicht.

Trotz meiner etwas törichten Ängste hatte ich doch sofort gespürt, daß der sowjetische Offizier mir nicht das Hemd ausziehen, sondern sich mit mir streiten wollte. Ich fühlte mich ernst genommen, und das gab mir Vertrauen. Das war die erste Bresche in meinen antisowjetischen Ressentiments. Und schließlich steckte in meinem von der „Freiheit“ zitierten Satz, ich hätte mit der braunen Farbe gebrochen, wirklich Wahrheit.

An jenem Abend war es auch um die von mir gestellte Forderung gegangen, Zuckmayers „Des Teufels General“ in Halle zu spielen. Ich hatte diese Forderung aus „Objektivismus“ gestellt; was aber die „Freiheit“ und der zitierte Zwischenrufer nicht wissen konnten, war, daß ich einige Monate zuvor das Stück in Mannheim gesehen und dort - in Westdeutschland bei meinen Verwandten - dieses Stück heftig kritisiert hatte, weil es den Faschismus beschönige und nicht echt und konsequent anprangere.4

Mit Neugier, Spannung, Hoffnung und mit sehr viel Herzklopfen erschien ich am nächsten Tag in der Maxim-Gorki-Straße. Der Propusk (Passierschein) lag schon bereit.

Was nun folgte - bis zum anderen Morgen - hatte ich nicht erwartet: eine intensive, wohl auch harte, aber stets höfliche Diskussion. In ihr habe ich, wie mir später aufging, wohl viele Dummheiten und allerlei reaktionären Unsinn gesagt. Aber der Hauptmann hatte eine Engelsgeduld. Vermutlich hatte er gespürt, daß viele meiner feindselig klingenden Argumente längst nicht mehr meinem wirklichen, gleichsam insgeheimen Denken entsprachen und von mir als advocatus diaboli vorgebracht wurden, um meine Zweifel auszuräumen oder eine neue Einstellung zu finden. Durch nichts ließ er sich hinreißen, selbst von stringenter Argumentation abzugehen. Nachfragend wie Sokrates, „zwang“ er mich geistig, meine Ansichten tiefer zu durchdenken, notwendigerweise auch kritisch. Vielfach stellte er zu meinen Ansichten Gegenfragen. Von ihm habe ich gelernt, Erscheinungen in ihrer Widersprüchlichkeit und Differenziertheit zu erfassen, sie dialektisch zu verstehen und - nicht zuletzt - stringent zu argumentieren. Aber entschieden über meine weitere politische Entwicklung war damals noch nichts.

Dieser Nacht folgten mehrere andere Diskussionsnächte. Edelberg kehrte schließlich in seine Heimat zurück. In loserer Folge führte ich die Diskussionen mit seinem Nachfolger, Semjon Kogan aus Odessa, fort.

Viele Jahre später bekam ich mit Edelberg und Kogan wieder Kontakt, wir besuchten uns und erfreuten uns unserer persönlichen Freundschaft.

An die Diskussionsgegenstände kann ich mich im einzelnen nicht mehr erinnern. Jedoch gab es kaum eine damals aktuelle politische oder philosophische Streitfrage, die wir nicht erörtert hätten, auch einige persönliche komplizierte Probleme5. Wichtiger, nachhaltiger aber war, daß diese Begegnungen meine literarischen Interessen sehr förderten. Die Genossen gaben oder empfahlen mir einige sowjetische Literatur: Alexej Tolstois „Leidensweg“, Scholochows „Neuland“, Gorkis „Mutter“ und - nicht zuletzt! - Tschernyschewskijs „Was tun?“. In den Konflikten und Zweifeln der Helden dieser Romane fand ich eigene Probleme und die Lösungen. Seither, dies wurde ein Fundamentstein meiner politischen Anschauungen, schätzte ich die ungeschminkte Offenheit und Wahrhaftigkeit der Darstellung gesellschaftlicher und politischer Probleme oder Konflikte. Meine Gesprächspartner und die Literatur erschlossen mir ein Bild von der Sowjetunion, von der Oktoberrevolution und von der Partei. Sie vermittelten mir ein Gespür für die historische Größe der Umwälzungen und ihre Widersprüche und enormen Schwierigkeiten, auch ihre Härte. Das war für meine politische Entscheidung die Gretchenfrage - alles andere ergab sich daraus fast wie von selbst. Ich bekam jetzt einen unbefangenen Zugang zum Marxismus. Aber einmal begonnen, Marx und Engels unbefangen zu lesen, kam ich von ihrer Überzeugungskraft - und die beruhte wesentlich auf ihrer Methode - nicht mehr los. Stalin spielte in diesen Debatten und bei der Auswahl meiner Lektüre noch keinerlei Rolle.

Während ich in den nächtlichen Streitgesprächen mit Hauptmann Edelberg oft noch Positionen einnahm oder verteidigte, die ihm fast feindselig erscheinen konnten, „erprobte“ ich an der Universität bei meinen Arbeitskollegen6 und Freunden meine neuen Kenntnisse und Erkenntnisse. Dies trug mir bei einigen das Schimpfwort „Russenknecht“ ein, es störte mich nicht sehr. Arbeitskollegen erzählten mir, ich sei im RIAS als „GPU-Spitzel“ bezeichnet worden - sicher hat ihn einer meiner Diskussionspartner dazu angestiftet.

Jahre später hatten wir im Halleschen Kulturbund eine festliche Zusammenkunft von Aktivisten der ersten Stunde und ihren Schülern der ersten Stunde. Anlaß war der 20. Jahrestag der Gründung der Kulturbund-Hochschulgruppe. Dort hörte ich eine mir bis dahin noch unbekannte Kehrseite meiner nächtlichen Streitgespräche mit dem sowjetischen Kulturoffizier. Burchhard Thaler, seinerzeit Geschäftsführer des Kulturbundes in Halle, erzählte: Nach jener Theater-Diskussion sprach Edelberg mit ihm über mein Auftreten und fragte mit ungewohnt strenger Stimme, weshalb der Kulturbund solchen Leuten wie mir ein Forum gäbe. Würde denn Hartmann, dessen Äußerungen in den Versammlungen ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen seien, nicht noch fast feindliche Positionen vertreten? Thaler (später wurde er mein Bürge, als ich die Aufnahme in die SED beantragte) schilderte, wie er sich zur Wehr gesetzt und begründet habe, daß und warum man mit solchen Leuten wie mir Geduld haben müsse. Denn ihre Ernsthaftigkeit auf der Suche nach einer antifaschistischen Position werde gerade dadurch bewiesen, daß sie sich offen der Diskussion stellten und ihren Mantel nicht nach dem Wind ausrichteten. Deshalb müsse man ihnen einen Raum für kontroverse Debatten geben. Nur so könne sich die Jugend von den Resten des faschistischen Denkens frei machen und antifaschistisch-demokratische Haltungen selbst erarbeiten, statt sie nur anpasserisch anzunehmen. Thaler schloß: Edelberg hat diese längere hitzige Diskussion mit einem Satz beendet, auf den er noch heute stolz sei: „Herr Thaler, Sie haben recht und ich wollte nur sehen, wie Sie Ihre Bemühungen begründen. Ich bin sehr froh, daß Sie kein Sektierer sind.“ Mich und ähnlich denkende junge Leute müsse man ernst nehmen, sie heranziehen und sich vertrauensvoll mit ihnen auseinandersetzen, sie als potentielle Mitkämpfer behandeln und ihnen vertrauensvoll Aufgaben geben.

Hierzu erzählte Burchhard Thaler noch eine Episode. Für die Veranstaltungsprogramme des Kulturbundes war eine Druckgenehmigung einzuholen, die Edelberg für den Kulturbund erteilte. Dieser habe gestutzt, als ein Veranstaltungsplan einen Vortrag Hartmanns mit dem Thema „Heldentum - nur in Stahlgewittern?“ ankündigte. Dem Thema war die Unterzeile zugefügt: „Ernst Jünger - Erich Maria Remarque –Ostrowski“. Edelbergs Kommentar lautete: Hartmann werde wohl, wie die Hinweise auf Remarque und Ostrowski zeigten, kaum Jüngers nationalistische Apologie auf den Krieg propagieren, aber es sei gut, im Thema die Widersprüchlichkeit zu markieren.

Später fiel mir diese Episode immer ein, wenn ich aus Parteikreisen belehrt wurde, meine Artikelüberschriften sollten keine Fragezeichen haben, denn „wir geben die Antworten“.

Merkwürdig noch ein anderes Moment: Edelberg hatte - insoweit durchaus doktrinär - mein Verlangen nach der Aufführung Zuckmayers und Sartres als „Objektivismus“ kritisiert. In der SED wurde Objektivismus später eine Keule der „Kritik“: im Objektivismus zeige sich mangelnde „Parteilichkeit“. Das war in Wirklichkeit die Inanspruchnahme eines Wahrheitsmonopols für die gerade geltende Auffassung der Partei(spitze). Obwohl mich Edelberg wegen Objektivismus’ kritisierte, erzog er mich ganz gegenläufig durch seinen abwägenden, immer nach Interessen und Gründen fragenden dialektischen Stil zur Neugier - und zu einer wirklich eigenen argumentativen Auseinandersetzung -, statt zur platten Abgabe nach Bedarf austauschbarer „parteilicher“ Urteile.

In meinem Elternhaus herrschte kein Leseklima. Vaters Bücherschrank enthielt hauptsächlich Ingenieur-Literatur. Dann standen da einige Bände Trivialliteratur, ein Lexikon und eine vielbändige Geschichte des ersten Weltkrieges. Keine Bibel. Das war noch nicht einmal der Buchbestand des Bildungsbürgers. Wodurch ich dennoch eine „Leseratte“ und ein Theatergänger wurde, weiß ich nicht mehr. Ein Lehrer dürfte mich kaum angeregt haben. Wahrscheinlich waren es mein Banknachbar Burchard Brentjes und mein Freund Rudolf Gehrke. Denn schon in den letzten Kriegsjahren frequentierte ich zweimal in der Woche zur Ausleihe die Städtische Volksbücherei am Hallmarkt. Natürlich verschlang ich mit Begeisterung Karl May, Friedrich Gerstäckers Abenteuer- und besonders Hans Dominiks technisch-utopische Romane. Nachhaltige literarische Leseerlebnisse scheine ich aber bei diesen Autoren nicht gehabt zu haben - keine Spur im Hinterkopf. Nachhaltig dagegen wirkten Carl-Friedrich Weizsäckers „Weltbild der Physik“ und Eduard Sprangers „Psychologie der Jugendzeit“. Vermutlich stillte ich mit Spranger ein pubertäres Bedürfnis. Von Dauer blieben jedoch mein Interesse für Naturwissenschaften und Psychologie. Außer populärwissenschaftlichen Büchern über Naturwissenschaft und Technik interessierten mich stark Biographien, besonders von Naturwissenschaftlern, aber auch die von Napoleon und Talleyrand. Meine heute sehr umfangreiche Sammlung biographischer Literatur habe ich damals begründet. Von den Biographien her, nicht aus der Schule und auch nicht erst aus der späteren Bekanntschaft mit dem Marxismus, kommt mein historisches und philosophisches Interesse.

Das Gute jener, in ihrer Themenwahl sicher noch chaotischen, Lesejahre bis 1946 war wohl, daß Lesen zum Bedürfnis und zur alltäglichen Gewohnheit wurde. Seither unvorstellbar, nicht stets Lesestoff bei mir zu haben, damit jede „Zwangspause“ im Tagesablauf genutzt werden kann. Deshalb freute ich mich auf die langen Bahnfahrten oder längeren Flüge, die meine spätere Arbeit mit sich brachte: schöne Stunden mit Büchern und Literaturzeitschriften.

Meine Liebe zur schönen und guten Literatur entstand erst als Folge der Orientierungssuche nach der - damals von mir erst nur so empfundenen - Kriegsniederlage Deutschlands. Neugier brach auf. Mein Bücherschleppen von Leipzig nach Halle trug dazu bei. Denn ich wollte schon wissen, womit ich mich da plagte.

In Halle öffnete im Herbst 1945 in der Großen Ulrichstraße eine kleine Volksbuchhandlung. Sie bot alles, was in der Sowjetischen Besatzungszone in den neuen und alten Verlagen erschien. Mit dem Geld, welches ich beim Zeitungsverkaufen für Herrn S. (3 Pfennige pro Zeitung) und beim Buchtransport bzw. später als Lehrgeld verdiente, kaufte ich Bücher. Viel anderes gab es ohnehin nicht. (Doch: Speiseeis aus Wasser, künstlichen Aromastoffen und dem Süßstoff Dulzin, den wir im Chemischen Institut als Tauschmittel herstellten. Auf dem Eis ein kaum definierbarer Schlagsahneersatz, sogenannter „Schlagschaum“.)

In der neuen Buchhandlung kaufte ich lückenlos fast alles, was im neugegründeten Aufbau-Verlag und im SWA-Verlag, dem Verlag der sowjetischen Besatzung, an historischer, schöngeistiger und literaturwissenschaftlicher Literatur erschien. Das waren nicht nur, aber vor allem, die Bücher emigrierter deutschen Schriftsteller sowie russischer und sowjetischer Autoren. Diese ersten Auflagen waren auf unansehnlichem Papier gedruckt, zumeist in Pappe gebunden. Wenn ich die alten Bände heute in die Hand nehme, drohen sie zu zerbröseln. Aber sie öffneten eine neue Welt: Alexander Abusch, Louis Aragon, Johannes R. Becher, Annemarie Bostroem, Wolfgang Borchert („Draußen vor der Tür“), Bert Brecht, Willi Bredel, Theodore Dreiser, Axel Eggebrecht, Ilja Ehrenburg, Hans Fallada, Howard Fast, Ernst Fischer, Leonhard Frank, Maxim Gorki, Heinrich Heine, Egon Erwin Kisch, Victor Klemperer (LTI!), Leo Kofler, Eugen Kogon, Rudolf Leonhardt, Georg Lukacz, Wladimir Majakowski, Thomas und Heinrich Mann, Ernst Niekisch, Theodor Plivier („Stalingrad“), Erich Maria Remarque, Ludwig Renn („Adel im Untergang“, „Krieg, Nachkrieg“), Michail Scholochow, Anna Seghers („Das siebte Kreuz“!), Alexej Tolstoi; Nikolai Tschernyschewski, Bodo Uhse u. a.

Zwanzig Jahre darauf, bei einem intensiven „Kadergespräch“, sagte ich meinem Gesprächspartner, statt eines Fragebogens müßten in meine Kaderakte Bücher aufgenommen werden, die auf mich einen tief prägenden Einfluß besaßen: Klemperers LTI; Abuschs „Irrweg einer Nation“; Alexej Tolstois Trilogie „Der Leidensweg“; Brechts „Galilei“ und viele seiner Gedichte. Nicht zuletzt Tschernyschewskis „Was tun“, über dessen Helden Rachmetow Lenin sagte, er sei zum Vorbild von Generationen von Revolutionären geworden.

Die klassische Musik entdeckte ich nicht aus eigenem Antrieb. Drei Jugendfreunde nahmen mich in symphonische Konzerte mit. Unser kultureller Avantgardist war Rudolf Gehrke, Buchdrucker, später, nach der ABF, Germanistikstudium, Literaturprofessor und Kulturstadtrat in Leipzig. Ihm habe ich viele geistige Anstöße zu danken. Zur Bildenden Kunst gewann ich erst Jahre später, in Dresden, einen ersten tastenden, noch von viel Dogmen behinderten Zugang.

Als Mittelschüler besaß ich keine Aussicht auf ein Chemiestudium. Unter den herkömmlichen Bedingungen hätte die finanzielle Lage der Eltern ein Studium nicht erlaubt. Chemielaborant zu werden, war daher eine früh beabsichtigte Berufswahl. Daß ich eine Lehrstelle am Universitätsinstitut fand, war ein sehr großes Glück. Eine bessere Umgebung für Lernen war kaum denkbar. Hochqualifizierte Chemiker, handwerkliche Könner - wie z. B. der Glasbläser und ein Mechaniker. Angenehmes, fast familiäres Klima. Die technische Ausstattung allerdings war unzureichend. Weniger für die Lehre, denn so wurde Improvisieren geübt, als mehr für die Effizienz der Forschung. Ich hörte empörte Berichte vieler Mitarbeiter: Kurz bevor sie aus Halle abzogen und die Stadt im August 1945 der sowjetischen Besatzung übergaben, kamen die Amerikaner mit Lkws in den Institutshof gefahren. Unter Androhung von Gewalt mußten die Mitarbeiter Apparate, hochempfindliche Präzisions-Waagen und andere Meßgeräte, Glaswaren, Feinstchemikalien („pro analysi“) zum Abtransport aufladen. Auch an anderen Instituten, z. B. denen für Experimentelle Physik, Geologie, Mineralogie, war ausgeräumt worden. Der sowjetischen Besatzungszone sollte möglichst wenig gelassen werden7. Erste und deutliche Vorzeichen des Kalten Krieges schon im Sommer 1945!

Meine Lehrstelle hatte einen großen Vorzug. Wöchentlich an zwei Tagen fuhr ich mit der Straßenbahn zur Berufsschule für Chemiearbeiter im Bunawerk in Schkopau zwischen Halle und Merseburg. Meine Mitschüler aus Buna oder aus kleinen Chemie-Klitschen in Halle erzählten, wie es ihnen erging: alltägliche Routine, wenig Abwechslung der Aufgaben, kaum individuelle und originelle Ausbilder. Wie schön für mich, daß mein Lehrausbilder, Oberassistent Dr. Schaak, mich nicht nur technisch in präparativem und analytischem Arbeiten unterwies, sondern immer Sinn, Zweck und wissenschaftliche Problematik der übertragenen Aufgaben erläuterte! Das blieb auch so als ich später bei Professor Lüttringhaus arbeitete. Zudem durfte ich wie ein normaler Student die Vorlesungen am Chemischen und am Physikalischen Institut besuchen. Mein Traum war, vielleicht einmal Vorlesungsgehilfe zu werden.

Hier wurde ein Lebensfundament gelegt. Bereits vom mathematisch strengen Ingenieurdenken meines Vaters beeinflußt, erlebte ich eine Schule nüchternen naturwissenschaftlichen Denkens. Ich lernte die Genauigkeit, die Disziplin und die Geduld des Experimentierens bei Ungewissem Ausgang, analytische Fähigkeit und - so ein Aperçu Jürgen Kuczynskis - den Wert der Forderung „Erst messen - dann meinen!“

Und noch etwas ungemein Wertvolles habe ich gelernt. „Keine Ergebnisse“ eines Versuchs, keine Erfolge der ersten Experimente einer Versuchsreihe sind auch Ergebnisse!:

 

-   Sie offenbaren die Irrwege,

-   sie verdeutlichen Bedingungen,

-   sie fördern das Verstehen,

-   sie beflügeln die Intuition und

-   sie bereichern die Wissenschaft.

  Ich glaube, diese Denkweise steht nicht nur Naturwissenschaftlern, sondern auch Gesellschaftswissenschaftlern und guten Politikern an. Sie half mir, schwierige historische und politische Fragen mit methodischer Distanziertheit zu betrachten - ohne Haß und Eifer bei der Analyse. Sie bewahrte mich nicht zuletzt vor jener Depression und jenem Pessimismus, in die manche meiner Genossen verfallen sind, als das erste große Sozialismus-„Experiment“ in der Welt - und in Deutschland! - mißraten und mißlungen war. Angesagt sind nicht Jammer an der Klagemauer, sondern analytische Nachdenklichkeit und der Mut zu überlegtem neuen Versuch, der die erkannten Irrtümer und Fehler meidet. Wenigstens erscheint mir als Pflicht, unseren Erben und Urenkeln zu hinterlassen, welche Fehler sie bei einem neuen Sozialismusversuch keinesfalls wiederholen dürfen - damit sie die Freiheit haben, ihre eigenen zu machen.

In der Lehrlingszeit begann meine erste gesellschaftliche Aktivität: Als Jugendvertreter wurde ich in den Betriebsrat der Universität gewählt. Die Lehrlingszeit war trotz der Entbehrungen jener Jahre eine schöne Zeit. Im Institut herrschte ein demokratisches Klima, keine Kluft zwischen Akademikern und anderen Mitarbeitern. Feste wurden gefeiert - mit Kartoffelsalat und Likör, den Zutaten unserer Feste - mit Swing, Fox und Tango: „In the Mood“, „Der Zug nach Kötzschenbroda“, „Capri-Fischer“ ...

Kartoffeln waren damals eine Kostbarkeit. Als Universitätsangehörige hatten wir ein Privileg: Von den Universitätsgütern wurden gelegentlich „Deputate“ verteilt, im Herbst pro Universitätsangehörigen ein Sack Kartoffeln - eine Kostbarkeit. Der Likör stammte aus eigener Produktion. Die Taten der Not sind verjährt, darum dieser Bericht: Chemiker brauchen viel Alkohol als Lösungs- und Reinigungsmittel. Der 100%ige reine Alkohol wurde versiegelt angeliefert. Dann kam ein Beamter des Zollamtes und machte ihn für menschlichen Genuß untauglich. Er wurde mit Phenol oder reinem Leichtbenzin oder Pyridin vergällt. Für uns kein Problem. Jedes Labor im Institut hatte seine Destillations- und Filterapparaturen eingerichtet. Der reine Sprit war wieder trinkbar. In Form von Likör wurde er als Tauschmittel für „Waren des täglichen Bedarfs“ benutzt. Zucker und Eier für die Produktion mußten eingetauscht werden. Aromatisiert wurde mit künstlichen Aromen - Pfefferminz und Vanille waren „im Angebot“. Wir hatten noch andere „Produktionen“ eingerichtet. Aus einer Ölmühle hatte jemand „Raps-Preßlinge“ beschafft. Aus ihnen wurde das Restöl extrahiert und gereinigt. Wir produzierten Zuckerersatz, den Süßstoff Dulzin. Alles wertvolle Tauschmittel der ersten Nachkriegs-Naturalwirtschaft.

Unsere Nahrungsmittelproduktion brachte mir eine Vergiftung ein. In unserer Institutsbibliothek hatte ich eine alte Rezeptur gefunden, wie man Eicheln die Bitterstoffe entziehen, sie trocknen, mahlen und so zu genießbarem Mehl verarbeiten könnte. Wir sammelten in großem Stil Eicheln und begannen die Produktion. Den Rezepten aus Liebigs Annalen vertrauend. Wahrscheinlich hatten die Experimentatoren des vergangenen Jahrhunderts in ihre Protokolle nicht aufgenommen, welche gesundheitlichen Folgen ihr Eichelmehl hatte. Nachdem ich als erster unser Produkt verkostet hatte und in große „Übelkeit“ verfiel, wurde die Produktion eingestellt. Ein herbeigerufener Arzt riet uns dringend ab.

Wegen guter Leistungen wurde mir von der Industrie- und Handelskammer wie auch von der Berufsschule gestattet, die Chemiearbeiter-Abschlußprüfung bereits nach einem Jahr Lehre abzulegen. So bekam ich zwei Jahre früher eine Laborantenanstellung mit einem richtigen Gehalt. Den geliebten Beruf mußte ich aber leider bald aufgeben. Allergische Reaktionen auf die in jedem Labor unvermeidlichen Lösungsmittel lösten immer heftiger werdende Asthma-Anfälle aus.

Mit Genugtuung lese ich heute die Abschlußbeurteilung des Institutsdirektors, Prof. Lüttringhaus. Er attestiert mir Erfassung des „eigentlichen Sinns“ der Arbeit, „überdurchschnittliche Intelligenz“ „hohen Stand der Allgemeinbildung“ und: „Als Persönlichkeit ist er reifer als seine Jahre vermuten lassen.“ Ja, „Ich war neunzehn“ - 1948 - doch welcher Unterschied schon zu der Generation, von der Konrad Wolfs Film erzählt.

  Übrigens: An „unseren“ Hauptmann Edelberg schrieb ich in den 60er Jahren, nachdem einer langen Suche nach ihm Erfolg beschieden war, einen Brief. In ihm heißt es: 

»Ihre „Methode war wohl ebenso wirksam, wie die „materiellen Argumente“, um inhaltlich zu überzeugen. Diese Methode und der Vertrauensvorschuß besaßen einen eigenen Überzeugungswert und zerstörten nicht zuletzt jene antikommunistischen und antisowjetischen Vorurteile, von denen ich sprach. Vor allem habe ich von Ihnen gelernt, daß die Gewinnung, Überzeugung und Erziehung eines Menschen erfordert, auf seine Individualität einzugehen, sein Denken, sein Verhalten, seine subjektiven Motive zu ergründen - und nicht nur eine Bewertung seiner Aussagen an sich vorzunehmen. Von Ihnen habe ich gelernt, daß man eben dadurch den anderen ernst nehmen muß, mit wirklichen Argumenten und Beweisen überzeugen muß - und nicht mit bloßen Behauptungen operieren, so richtig diese auch sein mögen. (...)

Später, als ich gewissermaßen schon politisch erwachsen war und selbst Verantwortung für andere Menschen hatte, habe ich mich stets an Ihr Vorbild gehalten und versucht, Ihnen nachzueifern und den Maximen aus Bechers Gedicht8 zu entsprechen.

Bis heute habe ich damit gute Erfahrungen gesammelt. Und wenn es geschah, daß Genossen einem gutwilligen, aber irrigen Menschen mit Ungeduld und engstirnig entgegentraten, ihre eigene Oberflächlichkeit und sektiererische Einstellungen mit Prinzipienfestigkeit verwechselten, habe ich solchen Genossen immer von Ihnen erzählt, der Sie doch unter viel schwierigeren Bedingungen handeln mußten - oft gegen eine Wand von Irrtümern, Vorurteilen und auch Feindseligkeit. Und so wurde ‚Hauptmann Edelberg’ später für manche Genossen ein Begriff und ein Vorbild, die Sie gar nicht persönlich kennengelernt haben.

Auf jener festlichen Zusammenkunft, die ich schon erwähnte, und zu der die Gründungsmitglieder der Halleschen Kulturbund-Hochschulgruppe9, auch die Mitglieder unseres damaligen politischen Kabaretts „Die Nervenmühle“10 zusammengekommen waren, erinnerten sich viele an Sie und die „Erste Hilfe“, die Sie uns erwiesen haben, voller Dankbarkeit. Sicherlich wird Sie interessieren, was aus diesem Kreis junger Menschen geworden ist, der sich direkt oder indirekt in Ihrer Obhut befand. Ich nenne einige Beispiele: Hilmar Thate ist heute einer unserer besten Schauspieler, am Berliner Ensemble. Hans-Dieter Schlegel ist Regisseur und Schauspieler beim Deutschen Fernsehfunk. Ein Genosse ist heute Stadtrat für Kultur in Leipzig und Universitätsdozent11, ein anderer viele Jahre Parteisekretär an den Universitäten in Leipzig und Jena12.

Wir, die wir direkt oder indirekt Ihre Schüler oder die Schüler anderer sowjetischer Genossen waren, haben uns bemüht, das große menschliche Vertrauen zu rechtfertigen, welches Sie alle in uns gesetzt haben.«

 

Als ich 1970 diesen Brief an Adolf Edelberg schrieb, war er nach den anstrengenden Bemühungen vieler Hallenser Kulturschaffenden endlich wieder gefunden worden. Er war seinerzeit unter etwas dubiosen Umständen in die Sowjetunion zurückversetzt worden. Wie wir später erfuhren, soll diese Versetzung im Zusammenhang mit der Kritik an der Kulturpolitik der von Sergej Tjulpanow geleiteten Kulturabteilung der SMA gestanden haben. Edelberg wurde jedenfalls auf einen Posten an die sowjetisch-chinesische Grenze abkommandiert. Wie auch immer: Die Schwierigkeiten ihn zu finden, stachelten die Verehrer Edelbergs - und das waren viele - nur um so mehr an. Wie so oft, war die Sowjetunion für manche Überraschung gut. Es begab sich, daß der Hallesche Bildhauer Gerhard Geyer als Gast des sowjetischen Künstlerverbandes zu einem mehrwöchigen Aufenthalt nach Moskau reiste. Dort erkundigte man sich, ob er Interesse habe, einen sowjetischen Menschen zu porträtieren. Vielleicht dachte man an einen Helden der Arbeit. Aber Geyer witterte eine Chance und stimmte freudig zu. Es gäbe nämlich einen ganz bestimmten, in seiner Heimatstadt Halle sehr verehrten sowjetischen Bürger, einen ehemaligen Kulturoffizier - Hauptmann Adolf Edelberg. Da Geyer der Adresse unkundig war, empfahl er, sich vielleicht der Hilfe des Verteidigungsministeriums zu bedienen. Die Bürokratie funktionierte. Perfekt: Eines Abends läutete es an Edelbergs Wohnung in Leningrad. Ein Miliz-Offizier stand vor der Tür und erkundigte sich mit strenger Stimme, ob er es mit Adolf Edelberg, seinerzeit Kulturoffizier der SMA in Halle, zu tun habe. Ihm wurde Eintritt gewährt und Edelberg erfuhr so, daß er „unverzüglich“ zu einem dienstlichen Zweck nach Moskau reisen und sich im Verteidigungsministerium, Kulturabteilung, zu melden habe. Keine näheren Angaben. Edelberg reiste nach Moskau und meldete sich, dabei die Auskunft erhaltend, er sei im Gästehaus des Künstlerverbandes untergebracht. Dort werde er auch erwartet und man werde ihn sofort dorthin bringen. Diese perfekte Organisation bewirkte, daß Edelberg und Geyer sich trafen - voller Freude. Das Ergebnis war eine Porträtplastik Edelbergs, später aufgestellt im Foyer des Puschkin-Hauses in Halle. Nun war kein Halten mehr, Edelberg und seine Frau Vera wurden eingeladen, und dann gab es ein viele Tage währendes festliches Wiedersehen mit vielen Freunden und Genossen. Leider war ich zu jener Zeit in der Bundesrepublik unterwegs und erfuhr erst danach von diesem Ereignis. Erst beim nächsten Besuch Edelbergs in der DDR trafen wir uns, später dann mehrmals in Berlin und Leningrad.

Adolf Edelberg war längst aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und arbeitete nun als Ingenieur beim Zentralen Schiffsregister der UdSSR in Leningrad. Ihn und seinen Nachfolger, Semjon Kogan aus Odessa, in die DDR zu bringen war nicht so einfach, galt doch in der Sowjetunion die DDR als „westliches Ausland“. Kogans erster Besuch in der DDR wäre ohne eine „positive Intrige“ unter Mitwirkung Margot Honeckers, die ihn aus ihrer Halleschen Zeit gut kannte, nicht möglich gewesen, arbeitete er doch in einem Rüstungsunternehmen. Bei einem seiner späteren Besuche erhielt ich von Semjon Kogan eine Ernennung als „Agent“ - und zwar der Pioniere der Odessaer Puschkin-Oberschule. Meine Agentenaufgabe bestand darin, Exponate für ein Puschkin-Museum, welches von den Schülern betrieben wurde, zu beschaffen. Mir wurde gleichsam auferlegt, alle Einrichtungen in der DDR, die den Namen Puschkins trugen, zu dokumentieren und möglichst Fotografien zu beschaffen: Puschkin-Häuser, -Plätze, -Straßen, -Schulen usw. Ein besonderer Agentenauftrag bestand darin, herauszufinden, weshalb eigentlich - wie peinlich! - in der DDR noch keine Puschkin-Briefmarke erschienen war und dies zu bewirken. Tatsächlich gelang es mir, vom Postministerium der DDR die Zusage zu bekommen, eine Puschkin-Briefmarke werde für 1990 in den Emmissionsplan aufgenommen. Eine nette Episode ist die Beschaffung eines Puschkin-Straßenschildes. Mir war die Idee gekommen, es würde doch eine besondere Attraktion sein, wenn das Museum der Odessaer Puschkin-Oberschüler ein originales Straßenschild der Berliner Puschkin-Allee besäße, zumal doch an dieser Allee das berühmte Ehrenmal für die gefallenen Sowjetsoldaten liegt. Mit Hilfe des Treptower Bezirksbürgermeisters Sack hatte ich bald ein solches Schild in Originalgröße und mit seiner berlintypischen gußeisernen Einfassung. Wieder zeigte sich meine schlechte Beobachtungsgabe: Nie hätte ich mir gedacht, welche Maße und welches Gewicht ein einfaches Straßenschild besitzt. Nun erschrak ich, denn wie das Ungetüm von fast zwei Metern Länge nach Odessa bringen? Ich hielt an einem Gemüseladen und bat darum, mir das „Objekt“ auf der Dezimalwaage zu wägen. Die zahlreich anwesenden Kunden staunten nicht schlecht über diesen ungewöhnlichen Vorgang. Aber sie glaubten meiner Versicherung, das Schild nicht gestohlen zu haben, und honorierten die kurze Erläuterung über meine Agentenfunktion mit Freundlichkeit. Frustrierend, daß die Post ablehnte, solche Fracht nach Odessa anzunehmen. Auch die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft sah keinen Weg, allenfalls käme eine evtl. einmal nach Odessa reisende Touristengruppe in Betracht. Also stellte ich das Schild, an einem Pfahl befestigt, am Rosenbeet meines Gartens auf. Bis sich eine Gelegenheit fände. Nicht lange hin, besuchte mich einer meiner Vorgesetzten aus der HVA13. Das Schild erblickend, meinte er: „Wolfgang, jetzt bist Du völlig übergeschnappt!“. Nachdem ihm Bescheid erteilt war, verwandelte er sich in einen Mann der Tat. Wir luden das Schild in seinen Wagen und er versprach, binnen einer Woche werde es in Odessa sein. Von dort erhielt ich denn auch über sein Eintreffen einen Bild-Bericht. Ein Vertreter der Schule war zum örtlichen KGB bestellt worden, das Objekt in Empfang zu nehmen.

Wolfgang Hartmann


1 »Neben Kant ist wohl Nietzsche der größte deutsche Philosoph". Dann weiter: In seinem „dauernden Streben, Suchen und Grübeln naht sich langsam ein Gespenst - der Wahnsinn! Verbraucht sind die geistigen Kräfte, fort ist die Klarheit und die Kritik. An ihre Stelle treten der Traum und die Gleichgültigkeit. Das Genie bewegt sich auf einem dünnen Seil - unter ihm liegt grauenhaft die Hölle des Wahnsinns, das übersteigerte Hungern nach Wissen, nach dem Weltsinn - unter ihm droht der Sturz in die geistige Umnachtung!“

2 „Freiheit“, 19.8.1948

3 SMA = Sowjetische Militäradministration

4 Es war eine Inszenierung des Mannheimer Nationaltheaters, die Hauptrolle war von Willy Birgel besetzt. Schon diese Besetzung mit Birgel („...reitet für Deutschland“) erschien mir problematisch und dies übertrug sich auf meine gewiß oberflächliche Wertung von Zuckmayers Stück, um so mehr, als das Publikum bei Öffnung des Vorhangs angesichts der Generalserscheinung in einen solchen frenetischen Beifall ausbrach, der nicht mit Birgels Popularität erklärbar war. Mein Onkel, in dessen Begleitung ich im Theater  war, verdeutlichte mir durch seine Kommentierung die bestehende noch profaschistische Stimmungslage.

5 Sie betrafen das Schicksal meines Vaters

6 Zu dieser Zeit war ich Chemielaborant

7 Vgl. Leopold Jacobson: Investitionsbauten der Martlin-Luther-Universität Halle-Wittenberg von 1949-1952 (mit Faksimiles von Institutsberichten an den Kurator der Universität). In: 450 Jahre Martin-Luther-Universität, Bd. III, S. 161f.

8 gemeint ist Bechers Gedicht „Von der ganzen Wahrheit“ (siehe auch Band VI)

9 Die Hochschulgruppe des Kulturbundes wurde 1949 gegründet und zählte seinerzeit etwa 2.000 Mitglieder.

10 Diese Kabarettgruppe bestand u. a. aus Halleschen  Theater- und Musikstudenten, die später auch über die DDR hinaus bekannt wurden, darunter Hans-Dieter Schlegel, Hilmar Thate, Ruth-Maria Kubitschek.

11 Prof. Dr. Rudolf Gehrke

12 Prof. Dr. Gottfried Handel

13 HVA - Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsnachrichtendienst der DDR


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