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Das erste Brot 

Berlin im Mai 1945. Die Waffen schwiegen, der Krieg war zu Ende. Die Großstadt Berlin - eine Ruinenlandschaft - war gelähmt: keinen Strom, kein Gas, kein Wasser, keine Lebensmittelversorgung. So auch in unserem Wohnviertel in Berlin-Weißensee, das glücklicherweise alle Bombenangriffe und die Schlacht um Berlin nahezu unversehrt überstanden hatte. Bis auf die Fenster war unsere Wohnung heil geblieben.

Ein Problem wurde in diesen Tagen immer dringender: Wasser! Einige Tage lang haben wir in einer Badewanne auf einem Leiterwagen Wasser aus dem Weißen See geholt. Eine Notlösung, auf die wir verzichten mußten, nachdem sich herausgestellt hatte, daß im Wasser des Sees einige menschliche Leichen schwammen. Da erreichte uns irgendwie die Nachricht, daß es in den Gärten an der Rennbahnstraße eine Pumpe gäbe. Also zogen wir, mein Bruder (10) und ich (13), jeder mit ein oder zwei Eimern, in diese Richtung los und fanden die Pumpe auch. Davor allerdings eine lange Schlange wartender Menschen mit dem gleichen Anliegen.

Wir waren wohl bald an der Reihe, als auf einmal zwei „Russen“ auftauchten, mich nach vorn an die Pumpe beorderten, mich die Eimer füllen ließen und dann befahlen: „Du mitkommen, dawai!“ Nicht ohne Angst folgte ich ihnen, während mein Bruder nach Hause rannte und verkündete: „Mutti, den Klaus haben die Russen mitgenommen!“, womit er meiner Mutter einen großen Schreck einjagte, denn die Angst vor den Russen war nicht ohne Grund groß, obwohl meine Familie und alle Leute im Haus während der Besetzung unseres Wohnviertels entgegen den Befürchtungen nichts Arges erfahren mußten.

Für mich aber stellte sich alsbald folgendes heraus: In der Nähe gab es eine Brotfabrik, und die Russen hatten diese wieder in Betrieb genommen, wozu man ja bekanntlich auch Wasser braucht. Also mußte ich mehrmals den Weg mit dem Wasser machen, und wohl andere auch, so genau weiß ich das nicht mehr. Und als meine Dienste beendet waren, erhielt ich zur Belohnung ein großes, noch warmes, duftendes Brot. Nur wer, wie wir damals, auch jemals ernsthaften Hunger erfahren hat, kann ermessen, was dieses unverhoffte Geschenk (ein Brot!) für mich bedeutete.

So schnell wie möglich, allerdings ohne Wasser in den Eimern, rannte ich nach Hause. Dort Erlösung meiner Mutter von den schlimmsten Befürchtungen und eine Riesenfreude! Statt von den Russen abtransportiert worden zu sein, brachte ich ein frisches Brot nach Hause! Das erste nach vielen Tagen! Ob wohl jemals ein russischer Junge meines Alters ähnliche Erfahrungen mit der deutschen Besatzungsmacht machen konnte?

Ich erinnere mich auch noch dankbar daran, daß, während im Zentrum Berlins noch der Krieg tobte, ein Koch mit seiner Feldküche an das Ende unseres Wohnblocks gefahren kam, dort wo das „Müllhaus“, wie es für uns hieß, war, den Deckel des Kessels öffnete, die Kelle schwang und rief: „Nur Kinder!“ Und wie mein jüngster Bruder (3 Jahre) bevorzugt sein Kochgeschirr mit Essen gefüllt bekam.

Übrigens haben wir Kinder uns noch tagelang Essen bei den Russen erbettelt, und fast immer, wenn die Soldaten selbst gegessen hatten, bekamen wir etwas. Nur einige Frauen in Uniform haben uns manchmal davongejagt - wer weiß, was ihren Kindern möglicherweise von den Deutschen angetan worden war?

Uns half das Essen von den Russen damals zu überleben, bis es wieder Lebensmittelzuteilungen, wenn auch kärgliche, gab.

Das sind einige meiner Erfahrungen mit den Russen. Ich weiß, es gibt auch andere Erfahrungen, aber ich kann eben nur diese wiedergeben.

Wenn ich heute lese, wie schlecht es vielen Kriegsveteranen in der früheren Sowjetunion geht, habe ich ein schlechtes Gewissen angesichts unseres Überflusses.

Prof. Dr. Klaus Rohrberg 


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