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Alexanderplatz und Sektorengrenze

(Berlin)

 

Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 erlebte ich als Angehöriger der Polit-Offiziers-Schule der Kasernierten Volkspolizei (KVP), die in Berlin-Treptow stationiert war. Die Atmosphäre an dieser Schule war durch bedingungsloses Vertrauen zur Politik der Parteiführung und hohe Einsatzbereitschaft geprägt.

Im Vorfeld des 17. Juni erreichten uns nur sehr allgemeine und unterschiedliche Informationen über die politische Situation in unserem Land. Im Zusammenhang mit der Einführung des Neuen Kurses der Partei verwies man in den Medien und auch in Dienstbesprechungen auf die Zuspitzung der Provokationstätigkeit von Westberliner Seite aus. Eine erhöhte Einsatzbereitschaft wurde nicht ausgelöst. Wenige Tage vor dem 17. Juni erfolgten jedoch zusätzliche Sicherungsmaßnahmen für unser in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze liegendes Objekt. Dazu gehörte auch der Einsatz von Zivilstreifen.

Bevor ich auf die Schilderung unseres Einsatzes eingehe, möchte ich noch erwähnen, daß wir einige Monate zuvor neue KVP-Uniformen erhielten und militärische Dienstgrade verliehen bekamen. Aus einem VP-Rat wurde auf einem feierlichen Appell ein Hauptmann. Meine Frau und ich trauerten ein wenig der blauen Uniform nach, die mir ein Maßschneider in Köpenick angefertigt hatte - aus feinem Tuch und mit tadellosem Sitz. Die neue Uniform der KVP, mit der wir von den sowjetischen Armeeangehörigen kaum zu unterscheiden waren, wurde weder von ihren Trägern, und noch viel weniger von der Bevölkerung angenommen. In der Öffentlichkeit wurden KVP-Angehörige nicht selten russisch angesprochen und sogar als Russenknechte beschimpft.

Doch nun zum 17. Juni 1953, einem sehr einschneidenden Ereignis in der jungen Geschichte der DDR, wie uns erst viel später bewußt werden sollte. An diesem Tag erhielt ich gegen 7.30 Uhr völlig unerwartet und unvorbereitet vom Schulleiter, Generalmajor Dickel, den mündlichen Befehl zum Einsatz meiner Kompanie. Die Aufgabenstellung war sehr allgemein und bestand darin, mit der Kompanie, aufgesessen auf Lkws, in Richtung Stadtzentrum zu fahren, die Lkws, auf denen sich Karabiner und Munition befanden, in Seitenstraßen abzustellen und die Kompanie in kleinen Gruppen unter die Demonstranten zu verteilen mit dem Ziel, auf diese friedlich einzuwirken und die Demonstration aufzulösen. Offenbar war Dickel über die Lage auch nur sehr allgemein informiert und hatte selbst keine konkreten Vorstellungen über die Einsatzbedingungen. Er rechnete damit, daß wir im Verlaufe des Vormittags wieder in die Kaserne zurückkehren könnten. Von der Orientierung her hatte diese Aktion also vorrangig politischen, erst in zweiter Linie militärischen Charakter, zumal ausdrücklich darauf verwiesen wurde, daß der Einsatz ohne Anwendung von Schußwaffen zu erfolgen hatte.

Vor Ort stellte sich heraus, daß der Auftrag zum Einsatz von kleinen Agitationsgruppen zwecks Zerstreuung des Demonstrationszuges, der von Treptow aus in Richtung Stadtzentrum marschierte, gar nicht ausführbar war und auf einer offensichtlichen Fehlbeurteilung der Lage beruhte. Im Demonstrationszug waren außerordentlich viele, zum Teil alkoholisierte Jugendliche zu erkennen, die durch aggressives Verhalten und Parolen eindeutig bewiesen, daß sie zu einer sachlichen Diskussion nicht bereit gewesen wären. Die meisten von ihnen stammten aus Westberlin. Das bestätigte sich, als ich wenige Minuten später mit Kurier den Auftrag erhielt, an der Oberbaumbrücke Sperrmaßnahmen durchzuführen, um den Zustrom von Demonstranten aus Westberlin zu verhindern. Ich fuhr also mit der Kompanie zur Oberbaumbrücke, wo sich große Menschenmassen drängten. Die Baracke der Grenzpolizei hatte man bereits niedergebrannt, die Bilder von Grotewohl und Pieck zusammen mit den Fahnen zerstört bzw. ebenfalls verbrannt. Später erfuhr ich, daß dort auch vorbeifahrende Regierungs-PKW umgekippt und angezündet worden waren.

Das Handeln in diesem Abschnitt, so wurde mir aufgetragen, hatte auf eigene Initiative entsprechend der Lagebeurteilung zu erfolgen. Auf alle Fälle war der Druck der nachströmenden Demonstranten aus Westberlin und ihre Absicht, sich mit den Ostberliner Bauarbeitern zu vereinen, zu unterbinden. Unsere zunächst aufgestellte einfache Sperrkette wurde mehrfach durchbrochen. Erst durch ihre Verdoppelung und mit Unterstützung der Volkspolizei konnte wenig später die Absperrung gewährleistet werden. Gegen 10 Uhr erreichte mich ein Motorradkurier vom VP-Präsidium, mit dem Befehl, die Kompanie aus der Absperrung an der Oberbaumbrücke herauszulösen und auf den Hof des VP-Präsidiums in Berlin zu verlegen, um von dort aus als Reserve handeln zu können. Diese Verlegung erfolgte unter Begleitung einer Motorradeskorte der Volkspolizei.

Gegen 11.30 Uhr wurde die Kompanie auf dem Alexanderplatz eingesetzt mit der Aufgabe, die Absperrung am S-Bahnhof, in der Breiten Straße und der Alexanderstraße zu verstärken. Auf dem Alex hatten sich riesige Menschenmassen versammelt, die durch die Kräfte der Volkspolizei nicht mehr beherrscht werden konnten. Die Hauptkräfte meiner Kompanie kamen zum Einsatz an der Brücke zu den heutigen Rathauspassagen und dem S-Bahnhof Alexanderplatz. Dort erfuhren wir von Augenzeugen, daß einzelne VP-Angehörige im Verlaufe des Vormittags - meist durch Gruppen randalierender Jugendlicher - eingekreist, entwaffnet und entführt worden waren. Die Aufgabe, den Alexanderplatz von den Menschenmassen zu räumen, war angesichts des Kräfteverhältnisses illusorisch. Es gelang uns lediglich, die Absperrmaßnahmen gegen den Zustrom aus Richtung Westberlin in Richtung Alex aufrechtzuerhalten. Aber der Druck verstärkte sich zusehends. Erst mit dem Einsatz der Sowjetarmee gegen 13 Uhr konnte diese Aufgabe erfolgreich in Angriff genommen werden. Die sowjetischen Kräfte hatten in diesem Raum einen Bestand von einem Panzer T-34 und zwei bis drei Mot-Schützen-Gruppen, die mit MPi und lMG bewaffnet waren. Der Einsatz erfolgte aus Richtung Beimlerstraße in Richtung der heutigen Rathauspassagen. Vornweg fuhr der Panzer mit einem Offizier in der Turmluke, der von Demonstranten beschimpft und mit Steinen beworfen wurde. Der Panzer wurde von den Mot-Schützen flankiert, die Warnschüsse in die Luft abgaben. Durch diesen demonstrativen Panzer- und Schußwaffeneinsatz entstand eine Panik unter den Demonstranten, und in 15 bis 20 Minuten waren die Massen vom Platz verdrängt. Danach erhielten wir die Aufgabe, gemeinsam mit den VP-Angehörigen die U-Bahntunnel und -bahnsteige zu räumen

In den Nachmittagsstunden bekam meine Kompanie Verstärkung durch zwei weitere Kompanien der Politoffiziersschule Treptow. Ich wurde als Kommandeur dieses Einsatzbataillons befohlen und dem Oberst der VP Mellmann unterstellt, dessen Stab sich in der Oberwallstraße befand. Von ihm wurde mir ein neuer Sicherungsabschnitt - von der Friedrichstraße bis zum Ostbahnhof - zugewiesen. Zusammen mit der Berliner Volkspolizei hatten wir entlang der Sektorengrenze die wichtigsten Zugänge von und nach Westberlin zu sichern. Einquartiert wurden wir im damaligen Objekt des FDGB-Bundesvorstandes am Michaelkirchplatz. Dort befand sich auch der Schwerpunkt der Absperrung gegenüber dem Stadtbezirk Kreuzberg.

Am 18. Juni trafen etwa gegen 10 Uhr sowjetische Mot-Schützen mit Schützenpanzerwagen, IMG und sMG in diesem Abschnitt ein. Sie begannen mit dem Ausbau von Schützenmulden und Stellungen im Park vom Michaelkirchplatz und sollten offenbar von dort aus als zweite Staffel in Erscheinung treten. Ein unmittelbares Zusammenwirken mit diesen Kräften erfolgte nicht, und da ich mit dem sowjetischen Kommandeur keinen Kontakt hatte, kannten wir auch seine Befehle nicht.

Unsere Aufgabe bestand darin, die Straßen gemeinsam mit der Schutz- und Verkehrspolizei abzusperren. Der Einsatz unserer Offiziersschüler erfolgte an bestimmten Schwerpunkten und hatte das Ziel, Provokateure sowie gewalttätige Demonstranten aus Westberlin zurückzudrängen. Dies vollzog sich meistens in kleinen Gruppen von 8 bis 10 Mann. Sie waren mit Karabinern (ohne Munition) und aufgepflanztem Bajonett bewaffnet. Festnahmen erfolgten durch uns nicht. Wir haben weder Demonstranten noch Provokateure zugeführt.

Der absolute Schwerpunkt des Einsatzes lag an der Sektorengrenze zum Stadtbezirk Kreuzberg. Die Tätigkeit der Provokateure wurde durch den damaligen Bezirksbürgermeister Kreßmann persönlich geleitet. Da die Sektorengrenze normalerweise völlig offen war, erfolgte die Einschleusung dieser Westberliner Kräfte meistens über unterirdische Anlagen, Dächer usw. Kreßmann hielt sich oft ebenfalls auf Dächern auf, um Ansprachen an die Bevölkerung Ostberlins zu richten. Von dort beobachtete er auch die Truppenbewegungen und nahm häufig einen Standortwechsel vor.

Nach etwa 3 bis 4 Tagen erhielt ich gegen 24 Uhr den Befehl, die Einsatzkräfte der Schweriner Bereitschaft im Abschnitt Sonnenallee-Schönefeld abzulösen. Diese Ablösung erfolgte für uns unerwartet, und ohne daß wir vorher noch einmal in die Kaserne zurückverlegt wurden. Völlig überraschend kam sie allerdings für die Ost- und Westberliner Grenzgänger. Nach der Ablösung stellten wir fest, daß an den Grenzübergangsstellen Dutzende von Personaldokumenten (einschließlich Parteidokumenten) lagerten, die als Pfänder von denjenigen hinterlassen wurden, die in Westberlin arbeiteten. Als sie dann von der Nachtschicht zurückkamen bzw. am nächsten Morgen wieder ihre Westberliner Arbeitsstellen aufsuchen wollten, stellten sie fest, daß nunmehr korrekt handelnde Kontrollorgane vorhanden waren, welche die vorgeschriebenen Passierscheine verlangten. In diesen Tagen und Wochen sowie auch bereits zuvor hatte sich ein reger Grenzverkehr entwickelt. Vor allem sogenannte „Schwarzarbeiter" hatten sich unter Nutzung des Wechselkurses eine „goldene Nase" gemacht.

Zur Organisation der Führung und des Zusammenwirkens sei noch bemerkt, daß ich eine ständige Verbindung zu Oberst Mellmann zu halten hatte. Mir standen zwei Funkstreifenwagen (Toni) zur Verfügung, welche die Funkverbindung zu den VP-Dienststellen und zum Polizeipräsidium gewährleisteten. Täglich fanden ein bis zwei Lagebesprechungen in der Oberwallstraße statt. Daran nahmen vorwiegend Angehörige des VP-Präsidiums und des Ministeriums des Innern, aber auch Mitarbeiter der Politorgane, des Zentralkomitees der SED und der Staatssicherheit teil. Außerdem hielten sich täglich drei bis fünf sogenannte „Anleiter" an meiner Seite auf: von der Politischen Verwaltung der KVP, der Sicherheitsabteilung des ZK der SED bis hin zu Mitarbeitern des MfS und natürlich Presseleuten. Sie alle haben, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, mehr durcheinandergebracht als Hilfe gegeben. Oft konnte und mußte ich mich zwischen drei bis fünf Lösungsvarianten entscheiden.

Bei der Verpflegung und Unterbringung unserer Offiziersschüler führte die anfängliche Fehleinschätzung der Lage zu ernsten Problemen. Da wir auf einen mehrtägigen Einsatz nicht vorbereitet waren, versorgte uns die Volkspolizei mit den primitivsten Ausrüstungsgegenständen, wie Kochgeschirre, Löffel, Decken usw. Von der Politoffiziersschule wurde auch kein Nachschub organisiert.

Nach etwa 3wöchigem Einsatz kehrten wir in die Kaserne zurück. An eine Auswertung kann ich mich nicht erinnern, lediglich an die Tatsache, daß ich für die von der Volkspolizei ausgeliehenen 300 Kochgeschirre und Löffel in Regreß genommen werden sollte.

Der Einsatz am 17. Juni 1953 und in den Wochen danach war für mich und meine Mitstreiter nicht nur ein außergewöhnliches Ereignis schlechthin. Diese Tage und Nächte haben mir wertvolle Erkenntnisse vermittelt und mich mit dem Denken und den Gefühlen vieler einfacher Bürger, besonders der Bauarbeiter, vertraut gemacht. Noch nie zuvor war uns in der Praxis so deutlich vor Augen geführt worden, wie kompliziert und gefährlich die Lage in dieser geteilten Stadt und wieviel Zündstoff vorhanden war, um sie schnell und bedrohlich hochzuputschen. Die friedlich begonnenen Demonstrationen der Bauarbeiter, die zu Recht verärgert waren und sich in einigen Fragen verschaukelt fühlten, wurden skrupellos angeheizt und durch eingeschleuste Provokateure bis zu Gewalttätigkeiten getrieben. Viele Bauarbeiter gingen bereits wieder ihrer geregelten Arbeit nach, als Tage danach immer noch bezahlte Provokateure an den Sektorengrenzen ihr Unwesen trieben. Die Aufforderung und Anleitung dazu erhielten sie nicht zuletzt durch die Westberliner Medien, besonders den RIAS. Es gab nicht wenige Bauarbeiter, die es zwar nicht bedauerten, auf die Straße gegangen zu sein, aber offen ihrem Ärger darüber Luft machten, daß sie den arbeiterfeindlichen Parolen dieser Provokateure gefolgt waren.

Von einem mit brachialer Gewalt niedergeknüppelten Volksaufstand zu sprechen ist auch heute noch ebenso dumm wie historisch unwahr.

Karl-Heinz Drews 


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