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Arnold Eisensee

Funkstudio Stalinallee  

(Teil 1 von 5)

„Ist das Ihr Rad?" rief eine knorrige Stimme hinter mir. Ich richtete mich auf, die Luftpumpe in der Hand und wandte mich dem Frager zu. Der legte die rechte Hand lässig an den Mützenschirm: „Oberkommissar Krüger vom Revier Boxhagener Straße. Ist das Ihr Fahrrad? Man versteht ja nicht sein eigenes Wort!"

An beiden Ecken des etwa sechzig Meter langen, zwischen Koppen- und Andreasstraße gelegenen Areals vor dem Stalindenkmal ballerten zwei riesige RFT-Säulen Musik in den kühlen Aprilmittag. Im Moment brüllte das Cornel-Trio: „Über Stock  und Stein und den Wagen voller Wein fährt Philipo mit dem Esel nach Sorrent..." Auf den Baustellen der Stalinallee, vom Strausberger Platz über und vorbei an Block 40 bis G Süd und G-Nord hörte man gerne „Frauen und Wein" und ähnliche Lieblichkeiten. Paul Lehmann hatte wieder mal 1 Nepa zu weit aufgezogen, wähnte er mich doch längst unterwegs zum Block 40, zur Maurerbrigade Hein Görlich, mit der ich mich zur Mittagspause unterhalten wollte.

Paul, einer der vier Techniker des im Kulturhaus der Bauarbeiter untergebrachten Funkstudios des Nationalen Aufbauwerkes (NAW), ahnte nicht, daß ich beide Schläuche seines uralten Fahrrades der Marke „Victoria" aufpumpen mußte. Irgendwer hatte die Ventile herausgezogen und auf die Erde geworfen. Irgendwem war daran gelegen, daß ich zu spät in die Baubude der sechzehn widerborstigen Görlichs kommen sollte. Gewiß nicht der blonden, blaßgesichtigen Helga; sie war gerade man erst achtzehn geworden und dabei, von Paul und Burghard zum Techniker ausgebildet zu werden. Brigitte, meine hochaufgeschossene, magere, vierzigjährige Schreibsekretärin mit Brille, die auf der steinalten „Erika" kaum ein Manuskript ohne zwölf bis achtzehn Tippfehler zustande brachte, schloß ich ebenso aus. Nicht, weil sie sich vornehm gab, sondern weil sie eine grundehrliche Haut zu sein schien. Oft weinte sie schamvoll, wenn ich bei Aufnahmen über ihre Fehler stolperte und Paul oder Burghard viel zu cuttern hatten.

Bliebe noch Horst Schäfer - ein sportlich ranker Dreißiger, dunkelhaarig und drei Jahre älter als ich. Wie die anderen gehörte er zur Bezirksdirektion der Deutschen Post in der Heilige-Geist-Straße, der die gesamte Studiotechnik sowie die auf den Baustellen und Nebengewerken der Stalinallee installierten 24 RFT-Säulen und 26 Lautsprecher einschließlich 8 Kilometer Verkabelung gehörten. Dafür bezahlte die Bezirksleitung der SED - der ich unterstellt war, obwohl Brigitte und ich unser Gehalt vom VEB Wohnungsbau bekamen - monatlich 45.000 Mark Leihgebühr. Von der Post war Schäfer sozusagen als Obertechniker eingesetzt worden, obwohl er keinen Finger rührte und von der Funktechnik nicht viel verstand. Deshalb vermuteten seine Kollegen in ihm einen Mitarbeiter des Staatssekretariats für Staatssicherheit im Ministerium des Innern, der verhindern sollte, daß die Baustellenbeschallung vom Klassenfeind und anderen politischen Lümmeln mißbraucht wurde. Hinzu kam allerdings die Verantwortung für die Telefonzentrale der Baustelle. Denn im Technikraum unseres Funkstudios befand sich ein kleiner Schaltschrank, mit dem die Techniker mittels Steckkabel sämtliche Telefonate von draußen sowie zwischen den Baustellen verbanden. Wenn Schäfer außer Sicht war, hörten sie manchmal aus Jux rein, sogar bei Rebetzky,  und Körzendörfer.

Foto: ADN-ZB/Archiv Krueger/Kno/Bor; Quelle: Bundesarchiv 19 915/2 N  

Blick von Block A-Südost auf die Stalinallee (die heutige Karl-Marx-Allee), Berlin – 9. Juni 1953

  Gustav Rebetzky, ein Mann mit grauem Haar und gesundem Gesicht, war Bezirksvorsitzender der IG Bau-Holz Berlin und hatte sein Büro im Kulturhaus der Baustellee Er strahlte verbindliche Wärme aus, vertrat seine Entscheidungen mitunter aber recht lautstark.

Beim „Baustellensekretariat" der Gewerkschaft hatte sich auch Herweg Körzendörfer, Beauftragter des Zentralkomitees der SED, eingenistet. Er sprach die Wortendung „...ung“ wie „undg“ aus, also nicht  „Hoffnung", sondern „Hoffnundg". Außerdem war er etwa 35 Jahre jung und schon etwas schmerbäuchig, lag sommers gern auf der Liegewiese im Friedrichshain und wurde von seiner dreiköpfigen Familie heiß geliebt. Sobald er halbwegs auf den Baustellen zurechtkam, sollte er Alfred Wehnert ablösen, der als Parteisekretär der Großbaustelle Stalinallee zu schwach war.

Also, erwischen lassen durften sich Paule und die anderen beim Reinhören nicht. Das hätte Verdacht erregen können.

Wollte vielleicht der Klassenfeind verhindern, daß ich rechtzeitig zu den störrischsten Bauarbeitern der Stalinallee kam? Spaß beiseite (vielleicht auch nicht).

Zwei Exemplare der in Westberlin hergestellten Zeitung „Junge Welt" lagen auf dem rechten Zuweg zum Kulturhaus der Bauarbeiter, so daß sie zum Beispiel Paule Lehmann unbedingt finden müßte. Dieses Blatt wetterte mehr als dummdreist über die SED, den „Spitzbart" und das „Unrechtsregime". Inzwischen kannten wir auch „Die kleine Tribüne", in der es ebenfalls von gegen die DDR gerichteten Artikeln nur so wimmelte. Dieses Propagandablatt zur Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten wurde ja auch nur für Ostberliner und Randgebietler gemacht. Die Herausgeberin NGO (Neue Gewerkschaftsopposition) sollte am Kaiserdamm 86 ihren Sitz und als Chefredakteur Gerhard Haas haben. Postadresse: Charlottenburg 9, Schließfach 41.

Paule Lehmann würde die „Junge Welt" also hereinbringen und Schäfer genau darauf achten, wie er sich anstellte, sie ihm und uns mit welchen Bemerkungen zu zeigen. Aber er konnte sich nicht sonderlich gut verstellen und verriet wahrscheinlich durch seine Unsicherheit, daß er die Zeitungen wie Ostereier ausgelegt hatte.

Es gab für ihn keinen Grund, mir die Luft aus den Reifen zu lassen und zu verhindern, daß ich mich intensiv um die Brigade Görlich kümmerte. Wer aber dann?

Meinen Auftrag hatte ich von der SED-Parteileitung Stalinallee. Ich sollte Hein Görlichs Brigade öffentlich am Niveau der anderen messen und den Ehrgeiz der Maurer wecken, wegzukommen von ihrem 180. oder 200. Platz unter den Brigaden der Stalinallee. Diese zählten insgesamt etwas über 2.000 Mann und arbeiteten außerdem auch auf den Baustellen Block 40, Heizkraftwerk Küstriner Platz, Schule Rüdersdorfer Straße und VP-Inspektion Marchlewskistraße. Kaum aus dem Keller heraus, werkelten die Görlichs am Block 40 schon ein halbes Stockwerk hinterher.

Aber vorläufig stand immer noch Oberkommissar Krüger vor mir.

„Seit dieser Neue da ist", schimpfte er, „gibt's nur Ärger mit den Anwohnern!"

Wahrscheinlich meinte er die Mieter im Block B-Nord, links von der Sporthalle also Ecke Lebuser Straße. Der „Neue" war ich, und meine neue Arbeitsstelle verdankte ich Edith Baumann, Sekretär und Politbüromitglied im ZK der SED. Vorher war ich Redakteur der vom ZK herausgegebenen Zeitschrift „Neuer Weg" gewesen. Leider hatte ich übersehen, daß im Abdruck der Rede Stalins auf dem XIX. Parteitag der KPdSU der letzte Satz fehlte: „Es lebe der Friede!" Die daraufhin ergangene Anweisung Edith Baumanns1, mich in der Produktion arbeiten zu lassen, legte die Bezirksleitung der SED allerdings auf ihre Art aus und schickte mich zum 1.1.1953 in die Stalinallee. Hier war ich also knapp fünfeinhalb Monate und hatte nun schon wieder Scherereien - zwar nicht mit Edith Baumann, aber zumindest mit einem unbekannten Luftauslasser und dem Revierleiter aus der Boxhagener Straße. Als dieser weiterwetterte: „Wenn der wenigstens Friedenslieder spielen würde", gab ich mich zu erkennen. Und obwohl ich ein schmächtiges Kerlchen mit - zugegeben - auffallender Langnase über dem blonden Menjou war, mobilisierte er in sich Freundlichkeit, gab mir die Hand. Danach führte ich ihn ins Studio.

Die langbeinige Brigitte fiel vor Schreck fast vom Stuhl, und Paule nahm sofort die Lautstärke zurück, bis nichts mehr zu hören war. Er befürchtete, daß der Uniformierte ihm wegen der gesendeten Westschlager maßnehmen wollte. Da er sie vom RIAS mitgeschnitten hatte, wäre ihn das teuer zu stehen gekommen. Paule war ebenso Genosse wie Schäfer, Burghard, Helga und ich. Wir wollten Kommunisten werden, die Wege dahin waren allerdings nicht erkennbar. Einzig Brigitte besaß kein Parteidokument, aber das merkte man ihr nicht an.

Der Oberkommissar hatte nichts dagegen, daß ich die Gelegenheit zum Mittagessen nützte. Die Stullen in meiner Aktentasche lockten ungemein zum Verzehr, denn unser Bäcker in der Dimitroff-/Ecke Paul-Heyse-Straße buk wunderbares Sauerteigbrot. Auch seine Schrippen waren Extraklasse - geschmackvoll und billig wie nie zuvor und bis zum heutigen Tag wohl nirgendwo anders in Deutschland.

Auch sonst bleibt mir Bäckermeister Willi Kurtzer unvergeßlich - nicht, weil er das Mitgliedsbuch meiner Partei hatte. Denn eigentlich war er nur Genosse geworden, damit man aus seinem gutgehenden Laden keinen Konsum machte. Trotzdem haute er in den Versammlungen der Parteiorganisation des Wohngebiets mächtig auf den Pudding, prangerte alle möglichen Mißstände an. Vielleicht steckte in ihm irgendwie doch ein kleiner Marxist. Ich verstand mich jedenfalls prächtig mit ihm, wohnte ja auch gleich um die Ecke.

Eine Weile palaverten der Oberkommissar und ich über spezielle Baustellen- und allgemeine Versorgungsprobleme. Paule hatte dazu unbemerkt das für Textaufnahmen auf meinem Schreibtisch installierte Mikrofon eingeschaltet und schnitt das Gespräch mit. („Daß der Scheißer nicht mal so und mal so sagen kann", meinte er hernach, „bei den Brüdern kann man nie wissen.") Allerdings hielt das Band auch meine Aussage fest, daß wir auf die Anwohner Rücksicht nehmen würden. Und danach wieder Krüger mit einer weiteren Mitteilung.

„Ein gewisser Herr Heym hat sich angeblich ebenfalls beschwert - ein Deutscher im amerikanischen Offiziersrang, mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, ist auf unserem Revier gar nicht gemeldet. Trotzdem: Oberprominenz, mit der man sich nicht anlegen sollte", sprach der Oberkommissar auf unser Band.

Dann schlug er sogar noch sein Notizbuch auf und las heraus: „Eine Frau Gertrud Kurby ... kennen Sie die? Hat sich auch beschwert. Die RFT-Säulen am Block F-Süd sind zu laut. Das stimmt - ich habe mich überzeugt. Und die gegenüber an den Althäusern, wo F-Nord geplant ist, ebenfalls. Auch die an der Baustelle E-Nord. Frau Kurby leitet eine Schule für geschädigte Kinder. Sie braucht den Nachmittag zur Erholung. Und außerdem ist sie hochschwanger."

Jetzt wußte ich, wen er meinte: eine kleine zierliche Frau, noch keine Dreißig, schwarzhaarig, blaß, hübsch. Sie war schon zweimal ins Studio gekommen und hatte uns ebenso zurückhaltend wie freundlich auf ihr Problem aufmerksam gemacht. Sie befinde sich in der pädagogischen Weiterbildung und brauche ebenso Ruhe wie ich Mann, der Lehrausbilder im RAW Schöneweide sei. Ich hatte Abhilfe versprochen und die Techniker damit beauftragt. Offenbar umsonst. Nun würde ich eben zumindest die RFT-Säulen an F-Süd abbauen lassen. Sicher reichte das Frau Kurby nicht, aber es ließ unseren guten Willen erkennen.

Die Brigade Görlich, glaube ich, hatte das Haus 1 in der Auerstraße, im Block 40, zu bauen. Das Projekt dieses Dreieckblocks, entworfen vom Architektenkollektiv Prof. Leucht, sah zwanzig siebengeschossige Häuser mit 386 Wohnungen sowie acht Läden, einer Kindertagesstätte und einem zentralen Waschhaus vor. Hier waren zunächst etwa 400 Mann in zweiundzwanzig, später 600 Mann in achtundzwanzig Brigaden eingesetzt. Darüber hinaus arbeiteten anfangs etwa 200 Lehrlinge an den Fundamenten im Weidenweg und in der Auerstraße, bevor sie zur sechsunddreißigköpfigen Lehrlingsbrigade Mertke konzentriert wurden, welche die Häuser Weidenweg 7, 8 und 9 hochzog..

Am Block 40 führte der schlanke Oberbauleiter Otto Pfeng das Regiment. Der 37jähnge Sohn eines Bremer Kriminalbeamten war nach einer abgeschlossenen Maurer-/ Putzerlehre im Berlin der Vorkriegs- und Kriegszeit zum Festungsbauingenieur ausgebildet worden. Als eine in Köpenick ansässige Westberliner Baufirma zum VEB Bau-Union Berlin umgewandelt wurde, übernahm der neue Betrieb den ehemaligen Filialleiter Pfeng als Bauleiter. Inzwischen war er zum Oberbauleiter avanciert und seit 1952 verantwortlich für die Blöcke E-Nord, Schule Rüdersdorfer Straße, Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain sowie Block 40. Für letzteren standen ihm die Bauleiter Hermann Haase, Gerhard Bienert, Heinz Zink und der Abrechnungstechniker Wilkening zur Seite. Für den gesamten Oberbauleitungsbereich war Erich Gutzeit als Parteisekretär eingesetzt und der Betonbauer Willi Fischer für den BGL-Vorsitz freigestellt.

Otto Pfeng machte aus seiner christlichen Orientierung keinen Hehl und wollte partout nicht Mitglied der SED werden. Er teilte sich mit seinen Gehilfinnen Ilse Lehmann und Hildegard Nikodemski ein kleines Büro in einer der vielen Baubuden Löwe /Ecke Auerstraße. Als ich mich mit ihm und dem Block 40 vertraut machte, hatte er große Geduld gezeigt, so daß ich in dieser halben Stunde viel begriff und  kennenlernte.

Als beste in diesem Bereich galt die Maurerbrigade Richard Gruhl auf dem Haus 14, während die von Hein Görlich den Ruf hatte, die schlechteste der gesamten Stalinallee zu sein. Nicht einer der sechzehn widerborstigen Görlichs hatte auch was mit dem „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" am Hut, wie er von der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 beschlossen worden war - schon gar nicht der einzige Genosse, Eberhard Doeblin. Er stieß sich - wie Dutzende andere auf den Baustellen - am oktroyierenden Auftreten der übergeordneten Funktionäre, insbesondere des Sekretärs der SED Bezirksleitung Berlin, Bruno Baum, sowie der Gruppe Rebetzk.y Diese hatten ihre zuverlässigsten Interpreten in Parteisekretären wie Gutzeit und BGL-Vor sitzenden wie Fischer.

Als ich das erste Mal die Zwischendecke des Erdgeschosses betreten hatte, war vor mir ein faustgroßer, trockener Betonbatzen zerborsten, geworfen ausgerechnet vom Genossen Eberhard Doeblin.

Hein Görlich fuhr ihn zwar an „Hör uff damit!", fügte jedoch grinsend an: „Im Karl-Marx-Jahr schmeißt man nicht mit Mörtel nach Kommunisten Hast du das 'Kapital' nicht bei der Hand oder bist du kein Kommunist?"

Alle lachten über ihren „Schieber", besonders laut die Maurer Fritz Wagner und Hans Schlickeiser, dieweil „Hucker" Himmel in meine Richtung spuckte.

Hein Görlich - das vierte von vierzehn Kindern eines Kattowitzer Lokführers - zog die Mütze vom Kopf, schüttelte das bis in den Nacken fallende lockige Grauhaar zurecht, ließ die braunen Augen strahlen und ein paar Goldzahne blitzen.

„Nimm es ihm nicht übel, Kollege. Man hackt dauernd auf uns rum."

Dieser Kratzer ging auch an meine Adresse. Da er recht hatte, steckte ich ihn weg und erwiderte seinen Händedruck. Er ging mir durch und durch, denn ich hatte das Gefühl, ein grobes Reibeisen anzufassen.

Der riesige Block 40 lag im Dreieck Auerstraße-Löwestraße Weidenweg und war zum Schwerpunktvorhaben 1953 des Nationalen Aufbauwerkes Berlin erklärt worden. Die sich daraus ableitenden Aufgaben für meine „funkische" Tätigkeit wurden mir von der Abteilung Agitation und Propaganda der Bezirksleitung - geleitet vom Sekretariatsmitghed Heinz Brandt – vorgegeben. Darüber hinaus hatte ich selbstvertändlich die Ratschläge der Genossen Körzendörfer und Rebetzky zu beachten.

Zu Ehren Stalins - dessen 73. Geburtstag in der gesamten DDR pompös gefeiert worden war - schickte mir die Bezirksleitung zu allem Überfluß den moppeligen Werner Kraatz. Er sollte meine Sendungen überwachen, obwohl die Wochenprogramme bereits von Körzendörfer abgesegnet waren und das Karl Marx-Jahr zu verinnerlichen versuchten. Ich sollte nämlich den Bauarbeitern Marx naherbringen, seine Ideen und ihre Lebensinteressen miteinander verbinden      na, und so weiter: Wie das anzustellen war, wußten weder ich noch Kraatz. Und Körzendörfer verwies mich auch nur an Kraatz.

Aber offenbar war das im ganzen Land ähnlich, denn außer der Umbenennung von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt sowie Seminaren und Vorlesungen an Hochschulen oder Parteikabinetten regte sich kaum etwas. Es schien ein recht mageres marxistisches Jahr zu werden, und die dreiundzwanzig Losungen des ZK der SED zum Karl-Marx-Jahr verblaßten am Desinteresse der Genossen. Die siebte lautete übrigens „Ruhm und Ehre Stalin, dem genialen Vollender der Ideen von Marx, Engels und Lenin." Im Kulturhaus der Bauarbeiter referierte darüber auch einige Male Dieter Krantz von Radio DDR. Bis der Weg nicht mehr lohnte.

Die Genossen Bauarbeiter hatten andere Sorgen. Sie kämpften mit Materialmangel, schlechter Baustellenorganisation und wachsender Unzufriedenheit - der ihrer Kollegen ebenso wie ihrer eigenen. Davor konnten sie sich beim besten Willen auch im Karl-Marx-Jahr nicht verschließen. Da hatte nun auch wieder schwarz auf weiß in der Zeitung gestanden, daß man in der ersten Märzdekade Fleisch statt Butter kaufen mußte -250 g Fleisch für 100 g Buttermarken. Für Kinder galt das nicht - aber wer wollte schon Butter und Margarine seiner Jüngsten mit zur Arbeit nehmen. Die Stimmung sank, denn es waren noch andere Mankos wegzustecken - und nur einen Katzensprung weiter stand das Schaufenster der Marshall-Plan-Welt sperrangelweit offen. Schleppendes Bautempo. Nirgends Wettbewerbselan. Die Termine liefen weg. Ein „Fanal" mußte her.

Als auf Block 40 schon zweiundzwanzig Brigaden arbeiteten, setzten Gutzeit und Fischer den jungen, parteilosen Brigadier Richard Gruhl von Haus 6 an. Dieser begeisterte Aufsteiger - Aktivist mit Studienambitionen und eigener Perspektive im Kopf - kam in mein Studio und rief alle Brigaden des Oberbauleitungsbereichs zum neuen sozialistischen Wettbewerb um die beste Baustelle auf. Allerdings wurde daraus kein Donnerschlag, denn die Brigade Gruhl war schon zu oft vorgeprellt. Freilich mit ständiger Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch verbesserte Arbeitsorganisation und neue Methoden - was sich natürlich in ihren Lohntüten bemerkbar machte. Aber die Dreieinigkeit Partei-Gewerkschaft-Bauleitung verhätschelte die Gruhls, band sie allen anderen ständig auf die Nase und verärgerte dadurch vor allem die Brigade Görlich.

Am Sonntag darauf - wenn ich mich recht erinnere, war es der 22 Februar - hatte unser Studio den Kultursaal zu beschallen, in dem eine von der Bezirksleitung der SED geforderte Bauarbeiterkonferenz stattfand. Damit das Grundsatzreferat von Bruno Baum - eines gewandten Rhetorikers - im Saal gut verstanden und auch für Sendungen aufgezeichnet werden konnte, saß Horst Schäfer in der Technik, und der moppelige Werner Kraatz lungerte auch herum.

Zu den weiteren Aufgaben dieses Jahres gehörten, schloß Baum nach etwa einer Stunde, die Begradigung von Arbeitsnormen, Beseitigung der Überbesetzung von Baustellen, kontinuierliche Materialversorgung, verstärkte Mechanisierung, Schaffung von Materialverbrauchsnormen, Erhöhung der Wachsamkeit und Organisierung des sozialistischen Wettbewerbs auf der Grundlage der Franik-Bewegung und des Aufrufs der Brigade Gruhl.

Anschließend ging Richard Gruhl zum Mikrofon und rief zum Wettbewerb um das Rote Banner der Stalinallee auf. Er erntete viel Beifall - vor allem von den zahlreichen Funktionären der Baubetriebe. Nach ihm traten die Brigadiere Weigand, Meißner Stiebert, Herrmann, Fuchs, Krüger, Streich, Falk, Heilmann, Faust, Mertke, Oxenknecht Schwibbe, Jonscher und Dühring ans Rednerpult und erklärten - leidenschaftlich oder plakativ, selbstbewußt oder bescheiden - namens ihrer Kollegen die Bereitschaft, um das Rote Banner der Stalinallee zu kämpfen. Karl Wagenknecht, der beste Lehrling vom Block 40 war von seinem Brigadier Mertke befähigt worden, einen monatlichen Erfahrungsaustausch aller Baustellen anzuregen - was Bruno Baum ganz hervorragend fand.

Als der Versammlungsleiter die Konferenz schloß und das Präsidium sich erhob, spielte Paule Lehmann auftragsgemäß in den Saal: „Wann wir schreiten Seit an Seit". Und fast alle der etwa 250 Anwesenden sangen mit. Auch Hein Görlich und der rebellische Brigadier Bluhm. Auch Max Fettling, BGL-Vorsitzender der Baustelle Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain, der allerdings „von dem ganzen Rummel nicht viel hielt", wie er mir später offen sagte.

Der Wettbewerb um das Rote Banner begann am 1. März 1953. Tagelang sendete ich nur Kampfprogramme, das Referat Baums und Diskussionsreden. Ich konnte das kaum noch hören, und die auf dem Bau hatten nach vier Tagen auch genug. Mit jeder weiteren Sendung machte ich mich unbeliebter. Die Brigaden wollten frühmorgens sowie zur Frühstücks- und Mittagspause lieber flotte Musik, aber auch schöne Opernmelodien und dann und wann mal Paul Robeson hören. Aber die Partei bestand darauf, wieder und wieder konstruktiv gewesene Reden zu senden. Erst recht wurde dies verlangt, als sich die Anzeichen dafür mehrten, daß die Konferenz tatsächlich neuen Schwung ausgelöst hatte. Ob am Strausberger Platz, C-Nord und -Süd oder auf Block 40, auf den E-Blöcken, G-Nord und G-Süd: Maurer und Eisenbieger, Transporter und Fliesenleger, Betonwerker und Gerüstbauer, Elektriker, Rohrleger und Maler schienen den Fortschritt wieder in die Hände genommen zu haben. Zwar lag das Erstrebenswerte im Marshallplan-Schaufenster näher. Aber wer hielt es schon auf Dauer durch, das sauer verdiente Geld fünf gegen eins umzutauschen. Und drüben arbeiten? Auch kein Zuckerlecken; unsicherer Arbeitsplatz, Streik hier, Streik da ...

Am sechzehnten Tag nach jener Bauarbeiterkonferenz hatte unser eigenes Studioprogramm ganztägig Sendepause. Kraatz und Schäfer waren bereits vor sieben Uhr eingetroffen und blieben mit uns bis gegen 20 Uhr. Im Kultursaal hatten Volkspolizisten aus Krügers Revier und mindestens sechs unbekannte Zivilisten aus dem Bereich Mielke des Innenministeriums Quartier bezogen. Eigentlich wollten an diesem Montag dort die Bigband Heinz Igel proben und die „Sternandos" unser Studio für Tonbandaufnahmen in Anspruch nehmen. Aber sie mußten zu Hause bleiben, und Brigitte bekam einen Tag Urlaub.

Seit Freitag hatten viele Zehntausend Menschen das überlebensgroße Bronzedenkmal Stalins aufgesucht und Blumengebinde niedergelegt. Die Kulturhausleitung hatte ringsum noch rasch einige Tannen in die Erde stecken und die mickrige Bretterbude des ständigen VP-Postens entfernen müssen. An diesem 9. März läuteten gegen dreiviertelzwölf Uhr sogar hier und da Kirchenglocken, und vom Strausberger Platz her zog in ganzer Fahrbahnbreite eine mächtige Kolonne heran. Vorneweg die Bauarbeiter der Stalinallee, tausendfünfhundert oder zweitausend in Arbeitskleidung. Zu Ehren Stalins hatten einundvierzig von ihnen um Aufnahme in die SED gebeten, unter ihnen die Maurer Herbert Streich, Karl Schöbelk und Hans Faulstich - alle drei von Block 40. Auf den Schultern trugen vier Maurer ein riesiges, von Blumen und Trauerflor umgebenes Stalinbild. Dahinter, auf einem breiten Transparent nebeneinander, die Bilder von Marx, Engels, Lenin, Stalin. Das alles überragende „Stalinbanner" hielt der Betonbauer-Brigadier Ernst Weigand empor. Er hatte um diese Aufgabe gebeten, und hinter ihm gingen die vierzehn Mann seiner Brigade.

Ich lehnte an der RFT-Säule Ecke Andreasstraße und blickte in die Gesichter. Dieser und jener nickte kurz herüber oder tippte flüchtig an die Mütze. Richard Gruhls Männer sah ich natürlich vollzählig, Oberbauleiter Pfeng, Oxenknechts Brigade, Oberpolier Julian Hocht, Polier Hopke, mindestens 200 Männer von der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain hinter ihrem BGL-Vorsitzenden Max Fettling, Bauleiter Roepke, Brigadier Lembke, Brigadier Foth - dessen Kollektiv nach der bahnbrechenden Einführung sowjetischer Neuerermethoden und der Auszeichnung mit dem Titel „Brigade der besten Qualität" besonders im Blickpunkt stand. Mehr kannte ich nicht von jener Baustelle, die noch nicht zu meinem Arbeitsbereich gehörte. Es folgten die weißen Männer Max Schwibbes, Brüggemanns Brigade, aus der mir Bert Stanike zunickte, Hartmanns Männer vor Herrmanns Männern, Brigaden von G-Süd, E-Nord, D-Süd, C-Süd, die Zimmererbrigade „Max Reimann" von E-Süd mit Brigadier Max Oeser und Stellvertreter Heinz Homuth an der Spitze, der mehrfache Aktivist Alfred Berlin und seine Betonbauerkollegen vom Fernheizwerk Küstriner Platz. Einen geschlossenen Block bildeten die neunzig Lehrlinge vom Block 40 mit ihren Ausbildern, darunter auch Edith Breyer, Angela Kammer, Klaus Schönfeld und Manfred Dahms, die um Aufnahme in die SED gebeten hatten. Na, und so weiter ...

In den Gesichtern fand ich es bestätigt: keiner marschierte hier irgendwie gezwungenermaßen. Denn die Bauarbeiter der Stalinallee hatten sich inzwischen einen Status zugelegt, der es niemand erlaubte, sie zu irgend etwas zu zwingen. Dies sehr zum Ärger der übergeordneten Partei- und Gewerkschaftsleitungen, die ihre Autorität gefährdet sahen und desto unerbittlicher auf der Durchsetzung der zentralen und regionalen Beschlüsse bestanden. Das von mir geleitete Funkstudio beteiligte sich natürlich daran. Aber es war zu bemerken, daß sich einige der später legendär werdenden Brigaden dem komplett widersetzten. Vor allem die Brigade Hein Görlichs. Und genau diese entdeckte ich auch in dem unendlich scheinenden Trauerzug nicht.

Die Temperatur lag nur bei 8 Grad, und es wehte ein unangenehmer Westwind. Zwei Volkspolizisten hielten beidseits des Denkmals mit geschultertem Karabiner Ehrenwache. Sie wurden stündlich abgelöst.

Links stand zu Beginn Karl, ich glaube sein Nachname war Bärenstein. Mit ihm hatte ich mich angefreundet. Der schlacksige Mecklenburger Bauernsohn kam eigentlich aus dem Ostpreußischen, hatte tausend Sommersprossen im Gesicht und eine immer schief sitzende Mütze. Gegen Zigaretten ertauschte ich mir von ihm Wurst, Schinken und Griebenschmalz. Manchmal war ihm wahrscheinlich eher danach, das daheim Haus- und oft auch Schwarzgeschlachtete lieber selbst zu essen, doch der Jieper nach Zigaretten war stärker. Denn die Polizei entlohnte derart miserabel, daß keine der Kaffeefrauen in den Baubuden mit Karl getauscht hatte. Statt dessen ließ sich eine von ihnen - Gerda Kippke von G-Nord - lieber von Maurer Rudi Schmolt zum Hilfsmaurer ausbilden.

Nahe der Koppenstraße hatten die Zimmerleute von E-Süd eine Ehrentribüne aufgebaut, auf der ich u.a .den Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission, Armeegeneral Tschuikow, seinen politischen Berater Semjonow sowie Botschafter Iljitschow sah.. Die DDR wurde repräsentiert durch den der LDPD angehörenden Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann sowie Mitglieder der Regierung, des Politbüros bzw. ZK der SED, unter ihnen Heinrich Rau, Friedrich Ebert, Franz Dahlem und Fred Oelßner Die entscheidenden Leute des Staates und der SED befanden sich jedoch in Moskau, wo zur gleichen Stunde J.W. Stalins Sarg in das Mausoleum Lenins getragen und neben dessen Sarkophag abgesetzt wurde.

Links der Ehrentribüne spielten die Kapelle der sowjetischen Garnison und das Volkspolizei-Orchester Berlin unter Stabführung von Musikdirektor Willi Kaufmann unentwegt Trauermusik - siebeneinhalb Stunden lang - bis der Zug der vermutlich Siebenhunderttausend vorüber war. Und dies alles hatten wir auf sämtliche Baustellen ununterbrochen zu übertragen. Auch noch, als es äangst finster war.

Meine Beschreibung des Frühjahres 1953 ist deshalb so detailliert, weil man zum Verständnis des Gesamtverhaltens der Bauleute von der Stalinallee nicht nur die Juni-Ereignisse heranziehen darf, wie das in der heute selbst bei Wissenschaftlern üblichen Schwarz-Weiß-Malerei geschieht. Sind erst einmal alle Zeitzeugen unter der Erde, gibt es für schreibende Sensationisten und Geschichtsklitterer keine Hemmschwellen mehr.

Aber nun zurück zum Ausgangspunkt - jenem kühlen Apriltag.

Ungeachtet aller durch den Luftrauslasser und VP-Oberkommissar Krüger verursachten Hindernisse traf ich gegen Mittag doch noch bei der Brigade Hein Görlich ein. Welches Geschoß sie gerade mauerte, weiß ich nicht mehr. Im Ohr habe ich aber Görlichs Begrüßung: „Du bist ja noch später als wir."

Damit meinte er die von der Brigade vernachlässigte Planvorgabe. Sie blieb bei „Ein Stein, ein Kalk, ein Bier" und ließ das ganze „Gesausel" wie Bngadeverträge, Materialverbrauchsnormen, Normenbegradigungen, Baustellenwettbewerbe samt dem „Feldzug für strenge Sparsamkeit" über ihre Kopfe hinweghuschen. Andere Brigaden auf Block 40 schwammen ebenfalls gegen den Strom, außerdem noch zwölf oder dreizehn auf den Baustellen G-Nord, C-Süd, E-Süd, VP-Inspektion Marchlewskistraße, Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain und die Brigade Lehmann in der Krullstraße.

„Wir kriegen den Kies aus Buch nur löffelweise!" schimpfte Görlich. „Als mußten wir mit Butter bauen. Und du redest über das Karl-Marx-Jahr."

Wahrscheinlich hatte ich beim Stichwort 'Butter' Reaktion gezeigt, denn Hein Görlich fuhr mir sofort über den - noch nicht mal geöffneten - Mund: „Die können froh sein, daß wir wieder Butter kaufen können."

„Die" - das waren wohl die Regierung oder die SED. Natürlich aber auch Bau- und Gewerkschaftsleitung. Inzwischen wurde auf die Lebensmittelkarten wieder vorwiegend Butter geliefert Im freien Verkauf war sie schrecklich teuer. Erst als sich später die LPG stabilisierten, schien die Versorgung damit halbwegs gesichert.

„Ihr stellt euch quer zum Blenderschen Etagenkran?" fragte ich „Gruhl setzt ihn ein und fährt gut damit. Braucht nicht mal mehr die Ruck-Zuck-Karre, mit der Hucker Riestau von F-Süd herumzog!"

„Quer stellen wir uns? Wer sagt das?" wollte Hein wissen. „Das Aufbauministerium steht mit dem Arsch an der Wand, so ist das. Oberbauleiter Pfeng hat die Kräne angefordert; nix kommt. Erst mal her damit, und dann sehen!"

„Scheiß auf den Etagenkran!" maulte Hucker Himmel, der hinzugekommen war und sich den Schweiß im Gesicht trocknete. „Kran macht mich überflüssig, und als Puttel geh ich nicht. Vielleicht Aufräumkolonne oder Budenfrau?" Er spuckte über die Mauer. „Will nicht mal mit Riestaus Karre über den Bau juckeln. Hucken ist Tradition, laß dir das gesagt sein."

„Na, ein bißchen müssen wir schon so tun", widersprach Hein Görlich, „sonst stempeln die uns zu lauter Nazis und Reaktionären." Er schmunzelte in die Runde der umstehenden Grinser.

„Bauhexen und Huckerstühle reichen", stritt Himmel weiter. „Etagenkran heißt Normerhöhung. Nicht mit mir."

„Ihr arbeitet wie Anno dunnemals", sagte ich dem Himmel ms Gesicht. „Huckt, mischt Mörtel mit Weichmachern - ein Stein, ein Kalk, ein Bier. Statt Zweier- oder Dreiersystem wie Gruhl."

„Hör uff mit Gruhl!" riefen gleich drei, vier auf einmal. „Verkappter Genosse. Materialist. Dem geht's nur ums Absahnen."

„Willst über uns Erfreuliches berichten, wa?" setzte Doeblin noch eins drauf. „Oder mußte?"

„Langsam, langsam", bremste Görlich. „Hast schon wieder 'ne Pulle zuviel und zwanzig, dreißig Steine zu wenig", stellte er mit Blick auf Doeblins Mauer fest. Dann zupfte er eindringlich an meiner Jacke. „Hanne Himmel ist em alter Knochen und fällt trotzdem nie aus. Die neuen Motoren der Wernigeroder Bauhexen aber schon nach drei Tagen. Klarissimo Hanne huckt weiter. Und weil ihr was gegen Mischen mit Weichmachern habt, du und deine Partei - die Weichmacher funktionieren immer, eure Wirtschaft nicht."

Lebhafte Zustimmung sprang über die Wände bis zum Materialplatz der Brigade hinab, wo Parteisekretär Gutzeit und Oberbauleiter Pfeng schon eine Weile standen.

„Wollt ihr so euren Rückstand aufholen?" rief Gutzeit herauf.

„Nee, wir faulenzen!" grollte Doeblin hinunter, „falls es dir nicht recht sein sollte."

„Sei still!" fahr Görlich ihn an und rief nach unten: „Quatsch!" Dann wandte er sich wieder mir zu: „Ich sag's ja. Beispiel Mischmaschinen: Industriebau hat nicht eine - m VEB Wohnungsbau stehen dafür fünfundzwanzig auf dem Hof rum. Und was sagen die Ochsen?" Er deutete mit dem Daumen hinter Gutzeit und Pfeng her, die sich entfernten. „Nu red' du." Und so ging es weiter.

Was sollte ich sagen. Ich hatte die Männer auf Band sprechen lassen, um ihre Kritiken den leitenden Funktionären des Oberbaustellenbereichs vorzuspielen und sie dann mit deren Reaktionen zu senden.

Mehr als die knappe Butterzuteilung und die Technikdiskussion erregte die Männer, daß sie ihre Frühstücksbude mit drei anderen Brigaden teilen mußten. Da wurde so viel gequatscht und gequalmt, gefurzt und gepfiffen, daß man sich lieber im Freien irgendwo unterstellte oder hinkauerte und seine Stullen herunterwürgte.

Abends drängten sich dann vierundfünfzig Menschen um eine Waschschüssel und einen Wasserhahn. Sie hatten die Wahl, dreckig nach Hause zu fahren, den Bau vorzeitig zu verlassen oder sich wegen der Wascherei anzupflaumen und zu stoßen. Das heizte die Stimmung an. Denn natürlich wußte man, daß die Bauleitung, ebenso wie die Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre, in angenehmen Räumlichkeiten arbeiteten und frühstückten.

Ich mußte meinen Diskurs vorfristig beenden. An diesem Tag waren die Görlich'schen dran, sich durch einen um zwanzig Minuten früheren Feierabend die Vorzugsplätze an der Waschschüssel zu sichern. Meinen Rückweg begleitete das Donnern einer nahen RFT-Säule „Das machen nur die Beine von Dolores ...", gesungen von Gerhard Wendland oder Peter Alexander - da kannte ich mich noch nicht so aus.

Das Gespräch mit der Brigade Görlich hatte für mich noch ein Nachspiel, da Oberbauleiter Pfeng und Parteisekretär Gutzeit mir vorwarfen, durch meine Verspätung ausgerechnet bei der Brigade Görlich eine halbe Stunde Leerlauf verursacht zu haben. Das hatten sie mir nicht an Ort und Stelle gesagt, sie waren dazu auch nicht in mein Studio gekommen - nein, sie beklagten sich darüber bei Körzendörfer und Wehnert. Und die gaben ihnen sogar dann noch recht, als sie von mir die Gründe für mein Zuspätkommen erfuhren. Wer will mir verübeln, daß meine Kritik an Bau- und Parteileitung danach in der Sendung besonders deutlich ausfiel.

Die Brigade Richard Gruhl teilte uns mit, daß sie ihre Norm für Maurerarbeiten um 10 % und die für Neben-, Erd- und Abbrucharbeiten um 15 % erhöhen werde.

Kaum hatten wir diese Mitteilung gesendet, meldeten sich bei mir die 15 Männer der Transportbrigade Jonscher vom Block A und verkündeten selbst über Funk, ihre Normen ebenfalls um 10 % zu steigern.

Die Transportbrigade Dühring schloß sich an.

Die Brigaden des Blocks 40 erhielten von Betriebsleiter Sprafke die Zusicherung der Unterstützung im technologischen Bereich, falls sie ihre Normen durch technische Verbesserungen erhöhen wollten. Die Maurerbrigade Stiebert erwiderte ihm, wenn er Wort halte, könnten die TAN-Bearbeiter kommen. In den anderen Brigaden wurde lange diskutiert, allerdings meist ohne die Sachbearbeiter aus den TAN-Büros.

Die Männer um Hein Görlich wollten nicht ganz und gar als Bremser angeschmiert werden. Deshalb kamen sie überein, ihre Normen für das Verlegen von Treppenstufen sowie Fenster- und Türstürzen um 6 % erhöhen zu lassen. Das war natürlich ein Klacks, und prompt kanzelte das „Neue Deutschland" alle ab, besonders aber den Genossen Doeblin. Denn der hatte wieder mal für alle gesprochen: „Früher haben wir im Akkord gearbeitet, und heute müssen wir genauso schindern. Was soll das für ein Sozialisrnus werden? Wir müssen 200 % bringen - scheißegal, ob das real ist oder nicht, ob damit die Termine gehalten werden oder nicht. Denn im Winter drehen wir Däumchen, und das bezahlt kein Schwanz. Also im Sommer ranklotzen - das ist Maurertradition." Zwei Dutzend Hände klatschten.

Oberbauleiter Pfeng und IG-Bezirkssekretär Rebetzky hielten der Brigade vor: „Am Block 40 könnten mit einer durchschnittlichen Normerhöhung von 15 % vom 1. Mai bis zur Beendigung des Baues sechs bis acht Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen mit je 70 qm Wohnfläche hergestellt werden."

„Und was soll'n wir zu Hause auf den Tisch stellen, wenn's schneit und pfeffert?" fragte Hans Schlickeiser, dessen Bruder auf G-Süd eine Brigade leitete.

„Genau das ist die entscheidende Frage", bestätigte Hein Görlich. „Wir können nicht Brot und Speck für den Winter hamstern wie die Mäuse." Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, und die blitzenden Goldzähne unterstützten sein sympathisches Lächeln. „Aber Mäuse können wir für den Winter einlagern. Mit kleiner Sommer-Lohntüte klappt das nicht, Menschenskinder. Euer Gehalt steht auch im Winter. Das ist der Unterschied zwischen euch und uns. Deshalb begreift ihr uns ja auch nicht."

Es blieb bei 6 %.

Auf G-Nord erfuhr ich am nächsten Tag, daß die Maurerbrigaden Hartmann und Schröder, die Zimmererbrigade Röder und die Transportbrigaden Bake, Fiedler und Käding ihre Normen zu Ehren des 1. Mai um 10 % erhöhen wollten. Die schriftlichen Verpflichtungen gab mir BGL-Vorsitzender Lindau für meine nächste Sendung rnit. Allerdings lehnten die Brigade Vorwerk sowie zwei Zimmererbrigaden jede Veränderung der Normen ab.

Kurz danach rief mich Parteisekretär Gützlaff vom Block G-Süd im Studio an und teilte mit, daß sich die Brigaden Standke, Herrmann, Schlickeiser, Stiller, Weigand, Konenke, Bertram, Matthes und Groß in einer Baustellenversammlung ebenfalls zu einer 10%igen Normerhöhung verpflichtet hatten. Gützlaff kannte ich als freundlichen und verträglichen Menschen, der allerdings zur Selbstdarstellung neigte und dafür gelegentlich geschickt auf die Pauke haute. Also nahm ich wieder mal Paule Lehmanns Fahrrad und radelte zum Block G-Süd.

Die alten Bauhasen der Brigade Herrmann, bei denen ich zuerst anlief, feixten, als ich von Gützlaffs Anruf berichtete. Da habe der mal wieder was übers Knie brechen wollen. Tatsächlich hätten nur die Brigaden Herrmann, Weigand, Konenke und Stiller die Normierer zu sich gebeten. Brigadier Standke zeigte sich oder mir einen Vogel: sie dächten nicht daran, ihren Lohn zu kürzen, nur weil Gützlaff Erfolge melden wolle. Und Brigadier Matthes erklärte: „Vorläufig ändern wir nichts." Den Weg zu den fehlenden drei Brigaden sparte ich mir. Gützlaff hatte wieder einmal geschummelt.

Aber auch auf G-Nord ging nicht alles mit rechten Dingen zu. Weder hier noch auf G-Süd konnte man nach technisch begründeten Normen arbeiten, sondern lediglich nach hingeschaukelten, über den Daumen gepeilten, willkürlich festgelegten. Und das bedeutete zumeist: Mehrleistung für gleichen und oft weniger Lohn, hieß: mehr ranklotzen, aber wie vordem warten müssen - auf Material, Technisierung, pünktliche Löhnung ... So was murkste persönliches Befinden und Optimismus ab. Entweder waren die Normensachbearbeiter zu faul oder zu dumm. Wie auch immer - das interessierte nicht. Parteisekretär Merten und BGL-Vorsitzender Lindau redeten sich den Mund fusselig. Aber die Maurer Dilcher, Heinersdorf und Klüsener konnten auch reden, und sie hatten die Brigaden hinter sich, den ganzen Block G-Nord. Die Brigaden Hartmann und Fiedler hielten sich noch zurück, aber auch bei ihnen rumorte es.

Erstaunlicherweise sah es danach auf G-Süd - trotz der vorangegangenen Schaumschlägerei des Parteisekretärs - gar nicht so schlecht aus. Denn dort schlossen sich Maurer-, Zimmerer-, Rüster-, Eisenflechter- und Transportbrigaden zu zwei je achtzig- bis neunzigköpfigen Komplexbrigaden zusammen und begannen in dieser neuen Organisationsform das 2. Geschoß hochzuziehen. Einer der beiden Komplexbrigadlere war ein heiterer und optimistischer Mann mit heller Pudelmütze: Ernst Weigand. Er hatte im März das Stalin-Banner getragen.

In der gleichen Woche erschien im Funkstudio hinter dem Denkmal eine Delegation von Block 40. Sie bestand aus Oberbauleiter Otto Pfeng, Parteisekretär Erich Gutzeit, dem BGL-Vorsitzenden Willi Fischer, den Brigadieren Gruhl und Kunze sowie dem Maurer Schlickeiser von der Brigade Hein Görlich.

Gutzeit erklärte zunächst, man habe etwas zu vermelden, was von allen Kollegen der Dreieckbaustelle getragen werde. Danach hielt Otto Pfeng eine kleine Rede etwa folgenden Inhalts:

„Auch unsere Baustelle ist in Bewegung gekommen. Auch uns liegt der sozialistische Aufbau der ersten sozialistischen Straße Deutschlands, die den Namen des unvergeßlichen Stalin trägt, sehr am Herzen. Lange und intensiv und manchmal hart haben die Kollegen Bauarbeiter in ihren Buden geredet und nachgedacht, erwogen und gestritten. Nun dürfen wir das Ergebnis auf den Tisch der Partei der Arbeiterklasse legen: zu Ehren des 1. Mai und in Vorbereitung des 60. Geburtstages des Genossen Walter Ulbricht haben sämtliche Brigaden des Blocks 40 ihre Norm um 10 % erhöht. Zu den bereits bekanntgegebenen Brigaden darf ich heute noch folgende nennen: die Kollegen der Flechterbrigade Tiedke, der Betonbrigaden Ortelbach, Krüger, Hartmann und Dahlke, die Kollegen der Brigaden Brüggemann, Meißner, Ernst, Maske, Scheffler und Heise, die Zimmererbrigaden Müller, Kunze und Niemyt, die Transportbrigaden Borgemann, Rapsch, Puhl, Stein und Stugies."

Schlickeiser flüsterte mir ins Ohr: „Uns hat er verschwiegen. Sechs Prozent sind ja auch bloß ein Arschloch voll!"

„Die Brigade Görlich mit teilweiser Erhöhung", sprach ich ins Mikrofon.

„Sechs Prozent", ergänzte Schlickeiser und wiederholte noch etwas lauter: „Sechs Prozent."

„Für Arbeiten, bei denen ihr dann immer noch 170 % abrechnen wurdet", hielt ihm Gutzeit vor. „Das ist unehrlich gegenüber allen anderen siebenundzwanzig Brigaden, und darüber muß man in aller Öffentlichkeit mit euch reden, Kollege Schlickeiser."

Richard Gruhls: „Euer Verhalten ist total unkollegial", blieb im Raum hängen.

Durch das kleine Fenster hatte ich Paule Lehmann einen Wink gegeben, das Mikrofon abzudrehen. Ich wollte keine Diskussion - und schon gar nicht selbst Auslöser einer solchen sein. Es rumorte ohnehin genug auf den Baustellen. Mit meinem Dank und der Zusage, die Aufnahme bald zu senden, verabschiedete ich die Delegation des Blocks 40.

Allerdings machte ich mich kurz danach zu den dazugehörenden Baustellen Weidenweg- Löwestraße-Auerstraße auf den Weg. Weder der Parteisekretär noch der Oberbauleiter hatten von bereits erarbeiteten oder noch zu erarbeitenden technisch begründeten Normen gesprochen. Deshalb stieg ich nun zu einigen Brigaden hinauf und erkundigte mich nach den vorgesehenen Maßnahmen zur Materialsicherung, weiteren Technisierung, gemeinsamen Normenerarbeitung, pünktlichen Lohnzahlung usw. Es stellte sich heraus, daß Betriebsleiter Sprafke seine diesbezüglichen Versprechungen bisher nur gegenüber vier Brigaden eingelöst hatte. Das arbeitete ich in die Sendung ein, und bereits nach dem ersten Überspiel nahmen die Alleebrigaden ihre Verpflichtungen unter die Lupe. Daraufhin kamen Parteisekretär Wehnert und sein Pendant Körzendörfer in mein Studio und hörten das Band ab. Eigentlich fanden sie nichts Anrüchiges und meinten nur, dies und das hätte ich anders formulieren können.

Schärfer trat mir Rebetzky entgegen. Im Einvernehmen mit Bruno Baum sei alles in den Kollektiven besprochen worden, behauptete er. Man sei froh, daß die Bauarbeiter einen solch großen Schritt vorwärts getan, die Partei verstanden hätten. Nun schwäche ausgerechnet das Funkstudio des NAW nicht nur die Bereitschaft der Kollegen des Blocks 40 ab, sonder schüre sogar Unmut...

Da ich der Partei unterstand, setzte ich meine Sendung ab.

Werner Kraatz informierte mich über einen Beschluß des Sekretariats der Bezirksleitung Berlin der SED. Er war auf Vorschlag des Genossen Heinz Brandt gefaßt worden und legte fest, auch die Baustelle Bettenhaus im Krankenhaus Friedrichshain in das Beschallungsnetz des Funkstudios einzubeziehen. Die Post würde etwas Zeit brauchen, die finanziell außerordentlich aufwendige Aufgabe zu erledigen. Inzwischen mußte ich mich mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten dieser Baustelle und den Problemen der etwa 160 Beschäftigten mehr als bisher beschäftigen.

„Sofort", hatte mir Kraatz ans Herz gelegt, „zumindest so schnell als möglich."

Also machte ich mich wohl oder übel mit Paules Hitsche auf den Weg. Ich kannte ihn gut, lief ihn ja alle Tage nach Hause und umgekehrt: hinauf bis zur Leninallee, gegenüber der neuen Poliklinik rechts entlang bis zur Dimitroffstraße, diese 400 Meter hinunter bis zur Paul-Heyse-Straße und linker Hand durch die erste Toreinfahrt -dann stand ich vor unserer Haustür. Aus Neugier hatte ich manchmal einen Abstecher zur Baustelle des Bettenhauses gemacht und dabei den BGL-Vorsitzenden Max Fettling, dessen Stellvertreter Georg Brosda sowie Bauleiter Roepke kennengelernt, auch den Transportbrigadier Alfred Metzdorf und drei, vier andere Maurer oder Zimmerleute.

Unterwegs traf ich diesmal wieder Oberkommissar Krüger, der mir allerhand zu erzählen hatte. Da ich in Eile war, hörte ich nur halb zu. Immerhin blieb in meinem Gedächtnis die Information hängen, daß die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" und der BRD-Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, in letzter Zeit mächtig aufgedreht hätten. Während die KgU Rainer Hildebrandts über Ostberlin Flugblätter habe niedergehen lassen, spräche Kaiser vom „Tag X, der Befreiung der Sowjetzone". Höchste Wachsamkeit sei geboten, legte mir der Oberkommissar ans Herz, bevor wir beide wieder unsere Räder bestiegen.

Max Fettling empfing mich in seinem Gewerkschaftsbüro und lächelte schelmisch.

„Du trinkst doch Westkaffee?"

Seine berufliche Laufbahn hatte er in einer Westberliner Baufirma begonnen, wo er von Otto Pfeng vormals als Magaziner eingesetzt worden war. Als Pfeng im nun volkseigenen Ostberliner Betrieb Oberbauleiter wurde, hatte er die Fettlings mitgenommen. Max wurde wieder Magaziner, und Frieda Fettling Budenfrau. Von den Bauarbeitern wurde Max Fettling im Sommer 1952 zum BGL-Vorsitzenden gewählt.

Georg Brosda war Einschaler und zugleich Fettlings Stellvertreter. Seinen Westkaffee brachte er von zu Hause aus Tempelhof mit. Der 47jährige war nicht der einzige Westberliner, der im Osten Arbeit gefunden hatte. Eigentlich war er ja nur Bauhilfsarbeiter. Aber reden konnte er, sympathisch war er und tüchtig ranklotzen konnte er. Außerdem war von ihm bekannt, daß er einen gehörigen Stiefel vertrug und das sogar ziemlich oft unter Beweis stellte. Das machte ihn noch sympathischer, und er war überall gern gesehen.

An diesem Tag versuchte er mir klarzumachen, daß die meisten Kollegen hinsichtlich der Normerhöhung ins Zweifeln geraten seien und ein Teil die Bereitschaftserklärung bereits zurückgenommen habe. In der Vollversammlung hätten die Brigaden Rust, Metzdorf, Bluhm, Pfeiffer, Lembke und die über den VEB Industriebau hinaus bekannte Foth-Brigade der „besten Qualität" sowieso nicht zugestimmt, da mit der Normerhöhung Lohneinbußen verbunden seien. Dies bewies mir Brosda sogar anhand der Listenauszüge des Lohnbüros. Am entschiedensten sei die Transportbrigade Metzdorf gegen jede Normerhöhung. Roepke und Kunze liefen kopflos herum, und die übrigen Bauleiter seien genauso hilflos. „Ich glaube, sie haben sogar Verständnis für die Kollegen", schloß Brosda, „ich auch!"

„Sprafke muß garantieren", brachte es Max Fettling auf den Punkt, „daß Normenerhöhung für die Kollegen keinen Pfennig Verlust bedeutet. Das ist das A und O und rein logisch. Kann er das: Friede, Freude, Eierkuchen. - Kann er das nicht... Die Stimmung auf dem Bau ist, auf Deutsch gesagt, beschissen."

„Machst du daraus eine Sendung?" wollte Brosda wissen. „Ich meine, zugunsten der Kollegen."

„Auf den Baustellen der Stalinallee brodelt es nicht", wich ich aus. „Hier und da tuckert es, ja, aber sonst? Vielleicht haben sie noch gar keine Lohnzahlung nach neuen Normen bekommen", schwindelte ich - denn keinesfalls wollte ich Öl ins Feuer gießen. Daß auch auf den anderen Baustellen kaum Voraussetzungen für technische begründete Normen geschaffen worden waren und die Brigaden statt dessen nur bürokratisch „erstellte" TAN-Vorgaben hatten, verschwieg ich.

Im Namen der „Dampferkommission" lud mich Max Fettling für den 13. Juni zur Dampferfahrt des VEB Industriebau ein: „Ist ein Sonnabend. Drei Mark pro Neese. Los geht's um achte von der Jannowitzbrücke. Mußt nur noch sagen, ob deine Frau mitkommt. Dein Dampfer ist die 'Seid bereit'. Das Ding da kannst du zu Hause lassen." Er zeigte auf mein Aufnahmegerät.

Kurz danach befaßte sich das 13. Plenum des ZK der SED mit der zu langsamen wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR und erkannte deren Ursachen in einer zu geringen Arbeitsproduktivität - was Klarsichtige unter uns schon lange wußten; ganz abgesehen von Experten der Marktwirtschaft hinter dem Brandenburger Tor und westlich der Elbe.

Am 29. Mai 1953 gab das von Kurt Blecha geleitete Presseamt beim Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik der Öffentlichkeit bekannt:

„In der am Donnerstag, dem 28. Mai 1953 unter Vorsitz des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl stattgefundenen Sitzung ist der Ministerrat dem von breiten Kreisen der Werktätigen ausgedrückten Wunsche nach genereller Überprüfung und Erhöhung der Arbeitsnormen nachgekommen und hat Maßnahmen beschlossen, durch welche die Arbeitsnormen mit den Erfordernissen der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Senkung der Selbstkosten in Übereinstimmung gebracht werden sollen. Im Rahmen dieser Maßnahmen ist das Ziel gesetzt, bis zum 30. Juni 1953 zunächst eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen im Durchschnitt um zehn Prozent sicherzustellen. Entsprechend dem Beschluß des Ministerrates haben die zuständigen Ministerien und Staatssekretariate für jeden Betrieb Kennziffern für die Erhöhung der Arbeitsnormen festzulegen, die von den Werkleitungen für die Betriebsabteilungen des jeweiligen Werkes aufzuteilen sind. In Übereinstimmung mit den Zentralvorständen der entsprechenden Gewerkschaften haben die zuständigen Minister und Staatssekretäre sofort die allgemeine Überprüfung der Arbeitsnormen für die ihnen unterstehenden Betriebe anzuordnen. Die Betriebsleiter haben die Überprüfung der Arbeitsnormen in ihren Betrieben bis zum 30. Juni 1953 in Übereinstimmung mit den Betriebsgewerkschaftsleitungen zu veranlassen. Entsprechend den Ergebnissen der Überprüfung der Arbeitsnormen sind die neuen erhöhten Arbeitsnormen so festzusetzen, daß die festgelegten Kennziffern in jedem Betrieb mindestens erreicht werden."

Wir faßten uns an den Kopf. Kein Wort zur Verbesserung der Technologie, der Voraussetzung für Normenerhöhung und Steigerung der Arbeitsproduktivität. Kein Wort über flüssige Materiallieferung, die Bedingung für Veränderung der Normen! Jedwede Demokratie blieb auf der Strecke, wenn die neuen Normen einfach festgesetzt und angeordnet wurden.

Obwohl mir dabei nicht wohl war, schickte ich den obenstehenden Textauszug des Ministerratsbeschlusses noch am gleichen Tag mehrfach in die Baustellenstraßen, auf die Baustellen und in die Baubuden der Brigaden. Ganz abgesehen davon, daß der Ministerrat praktisch einen Befehl erlassen hatte, kam die Technisierung bei uns nur schleppend voran und würde die geforderte Normerhöhung keinesfalls bis zum 30. Juni untersetzen, rechtfertigen können. Denn Staatssekretär Josef Hafrang vom Ministerium für Aufbau reagierte auf die bei ihm eingehenden Forderungen auf rasche Technisierung sehr zurückhaltend. Außerdem deutete bislang nichts daraufhin, daß sich Technologen und Normenbearbeiter unverzüglich mit den Brigaden zusammensetzen und gemeinsame Aktivs zur Erarbeitung wissenschaftlich-technisch begründeter Normen bilden wurden.

Die Parteileitung der Stalinallee und das Bezirksbüro der IG Bau/Holz kannten diese Situation auf den Baustellen. Unserem Funkstudio wurde auferlegt, sich jeden Kommentars und jeder Kritik zu enthalten. Irre und Wirre beherrschte nicht nur die meisten Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre der unteren Ebene, sondern auch ihre übergeordneten Leitungen bis hin zu Kraatz, Brandt, Rebetzky, Jendretzky.

In den Folgetagen hielt ich mich während der Frühstücks- und Mittagspausen auf den Baustellen Block 40, VP-Inspektion Marchlewskistraße, Schule Rüdersdorfer Straße, Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain sowie den C- und E-Blöcken auf.

Die meisten Bauarbeiter tobten. „Die Regierung zwingt uns zehn Prozent Normenerhöhung auf!" war der gleichlautende Tenor. „Das lassen wir uns nicht bieten!" Die Brigade Görlich ließ Sprecher Doeblin verkünden: „Wir hauen die Klamotten hin " Die Mehrzahl der Brigaden, die zum 1. Mai ihre Norm bereits um 10 % erhöht hatten, geriet außer sich. Denn sie befürchteten, daß der Beschluß für sie eine nochmalige Steigerung um 10 % bedeute.

Selbst die Supermaurer um Brigadier Richard Gruhl verzogen das Gesicht. Immerhin hatten sie um diese Zeit bereits acht Tage Planvorsprung herausgearbeitet, mit prallen Lohntüten auf den harten Bänken ihrer Baubude gesessen und beschlossen, zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts fünfzehn Tage Planvorsprung zu erreichen. Also bis zum 30. Juni. So viel Reserven besaßen sie.

Um die Termine für die Überprüfung und Einführung der neuen Normen einzuhalten, schlugen die Bürokraten der Baubetriebe generell zehn Prozent auf die bisherigen auf. Das bedeutete eine Lohnsenkung um den gleichen Prozentsatz und hochbrisanten psychologischen Sprengstoff. Hü und Hott weit und breit. Überall Durcheinander, Ratlosigkeit, Reserviertheit, Stimmungstief, Stimmungsmache, Funktionärskrampf. Aber man arbeitete; schaffte hier wenig und dort gar nichts; redete viel und ließ sich bereden; dachte nach und ließ für sich denken; fluchte und wurde beflucht; suchte nach besseren Wegen und wurde auf besseren Wegen gesucht.

Überall und hier und dort und bis hinein in die Führungsspitze der SED, in der Wladimir Semjonow, „Hoher Kommissar der Sowjetunion in Deutschland", auftauchte und Politbüro samt Ulbricht stoppte.

Aber es war doch gerade die sowjetische Führung unter Stalin, die diese Situation herbeigeführt hatte. Statt die DDR im politischen und wirtschaftlichen Rahmen einer volksdemokratischen Ordnung zu belassen, drängten sie deren Führer, den Aufbau des Sozialismus in der DDR festzuschreiben.

„Die Perspektive, den Sozialismus in der DDR aufzubauen, als Antwort auf die Stärkung der Oligarchie in der Bundesrepublik und als Reaktion auf die Remilitarisierung Westdeutschlands, war für den sowjetischen Diktator ein wirkungsvoller Hebel zur Beeinflussung der öffentlichen Stimmung. Das Sozialismusgespenst 'ja oder nein' war der Goldbarren im komplizierten Tauziehen Stalins mit den drei Westmächten."2 So geriet die DDR bereits 1952 in die Mühlsteine der unkommunistischen Politik Stalins.

Nachdem der Vorschlag des Politbüros der KPdSU, den Sozialismus in der DDR beschleunigt aufzubauen, sich als Fehlschlag erwiesen hatte, erarbeitete die Führungsspitze der KPdSU das Dokument: „Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR".3

Am 3. und 4 Juni 1953 beriet die Führungsspitze der KPdSU das Dokument mit den Spitzenleuten der SED. Daran beteiligten sich Malenkow, Berija, Molotow, Chrustschow, Bulganin, Mikojan, Semjonow, Gretschkow, Kaganowitsch, Ulbricht, Grotewohl, Oelßner. Wilhelm Pieck befand sich in Urlaub. Am 5. und 6. Juni beriet das Politbüro der SED das Dokument und stimmte ihm zu.

Das mit „Streng geheim" gesiegelte Dokument sagte unter anderem aus: „Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden. (...) Das kommt am deutlichsten in der massenhaften Flucht der Einwohner der DDR nach Westdeutschland zum Ausdruck. So sind vom Januar 1951 bis April 1953 477.000 Personen nach Westdeutschland geflüchtet. (...) Als Hauptursache der entstandenen Lage ist zu erkennen, daß gemäß den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz der SED, die vom Politbüro der KPdSU gebilligt wurden, fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen. Die sozial-wirtschaftlichen Maßnahmen, die in Verbindung damit durchgeführt werden, und zwar die Beschleunigung der Entwicklung der schweren Industrie, die dabei keine gesicherten Rohstoffquellen hat, die jähe Einschränkung der Privatinitiative, die die Interessen einer breiten Schicht der nichtgroßen Eigentümer in Stadt und Land beeinträchtigt, und der Entzug der Lebensmittelkarte für alle Privatunternehmer und Freischaffenden, besonders die übereilte Schaffung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ohne die dafür notwendige Grundlage im Dorfe, haben dazu geführt, daß auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren und Nahrungsmitteln ernste Schwierigkeiten entstanden sind daß der Kurs der Mark stark gefallen ist, daß eine große Zahl der kleinen Eigentümer wie Handwerker, Gewerbetreibende usw., ruiniert sind und bedeutende Schichten der Bevölkerung gegen die bestehende Macht eingenommen wurden. (...) Unter den heutigen Bedingungen ist der Kurs der Forcierung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR, der von der SED eingeschlagen wurde und vom Politbüro der KPdSU(B) in seinem Beschluß vom 8. Juli 1952 gebilligt worden war, als nicht richtig zu betrachten. (...) Die bisher durchgeführte Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus ist als unrichtig zu betrachten, da sie die Parteiorganisationen der SED zu unzulässigen, vereinfachten und hastigen Schritten sowohl auf dem politischen als auch auf dem wirtschaftlichen Gebiet treibt."4

Wie gesagt, „Streng geheim" aufbewahrt im internen Parteiarchiv des Büros des Politbüros. Dieses Dokument der Bevölkerung vorgelegt und mit ihr diskutiert, hätte der DDR vielleicht einen anderen Juni beschert. Und hätte die 2. Parteikonferenz der SED den die Wirtschaft der DDR verschlingenden Moloch „Reparationen" gestoppt und auf den Milliarden verschlingenden Aufbau der KVP verzichtet - statt den Sozialismus mit der weitere Milliarden verschlingenden Schwerindustrie beschleunigt aufbauen zu wollen, wäre der Herd der Unruhen in der Stalinallee nicht anheizbar gewesen. Jedoch die forcierte Aufrüstung Westdeutschlands schien keine andere Alternative zu erlauben.

Hermann Axen schickte am 3. Juni 1953 an den Großberliner Parteichef Hans Jendretzky lediglich die „Streng vertrauliche Verschlußsache":

1) Die Herausgabe aller Bücher und Broschüren über die 2. Parteikonferenz und die Verwendung von Zitaten aus dem Referat, der Diskussion und dem Beschluß der 2. Parteikonferenz in der Presse, in Zeitschriften, öffentlichen Versammlungen und Lektionen, Broschüren etc. ist ab sofort einzustellen.

2)  Jede Propaganda für den Übergang zum Typ III der LPG ist zu verbieten.
Alfred Wehnert rief mich zu sich und informierte mich. Also kein Wort mehr über die 2. Parteikonferenz, „vor allem nicht über den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR".

„Hier meldet sich das Funkstudio des Nationalen Aufbauwerkes. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Heute ist Donnerstag, der 11. Juni 1953. Wir beginnen unser Programm mit einer wichtigen Meldung."

Und dann verlas ich die interessantesten Passagen aus dem Kommunique der Sitzung des Politbüros vom 9. Juni, an der wieder Semjonow teilgenommen hatte -veröffentlicht im „Neuen Deutschland".5

 Nicht viel redete ich. Das Blabla und Blubblubb, und was die Bauarbeiter auch sonst nicht interessierte, ließ ich weg - es war eine ganze Menge.

Diesen Satz aber schickte ich auf die Baustellen: „Das Politbüro des ZK der SED ging davon aus, daß seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurden ..."

Das waren gänzlich neue Töne aus der obersten Administrativzentrale. Und diesen Satz ließ ich folgen: „Das Politbüro hat bei seinen Beschlüssen das große Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands im Auge, welches von beiden Seiten Maßnahmen erfordert, die die Annäherung der beiden Teile Deutschlands konkret erleichtern." Allerdings war das kalter Kaffee für die Bauarbeiter - nicht nur, weil die Adenauerregierung mehrfach jede Verhandlung mit der Grotewohlregierung entschieden abgelehnt hatte, sondern vor allem, weil dieser Passus die Sorgen der Bauarbeiter nicht berührte.

Aber auch dies sendete ich den Bauarbeitern: „Es wird weiter vorgeschlagen, die im April 1953 durchgeführten Preiserhöhungen für Marmelade, Kunsthonig und andere Süß- und Backwaren mit Wirkung vom 15. Juni 1953 rückgängig zu machen." Daß sämtliche Preiserhöhungen und die übrigen wirtschaftlichen Belastungen von den Vertretern der Sowjetregierung in Karlshorst vorgegeben worden waren und nun auf deren Rat wieder rückgängig gemacht werden mußten, hätte das Politbüro dem Volk auch sagen sollen. Und es fehlte jedes Wort über den Beschluß der Regierung, der die politischen und wirtschaftlichen Betriebsfunktionäre veranlaßt hatte, ohne jede Voraussetzung eine allgemeine Normenerhöhung anzuordnen.

Am nächsten Tag, Freitag, dem 12. Juni 1953, sendete ich kommentierte Passagen aus dem über Nacht herausgegebenen Kommunique des Ministerrates vom 11. Juni. Nichts Neues hatte die Regierung beschlossen, sondern lediglich umformuliert und in drei Verordnungen in Paragraphen gesetzt, was das Politbüro am 9. Juni vorgeschlagen hatte. Die Wiederholung dieser Sendung wollte schon in den Frühstückspausen kaum noch jemand hören, deshalb ließ ich zu Mittag nur Musik zu den Brigaden schicken.

Bereits gegen zehn Uhr war ein Anruf bei uns angekommen. „Ein Bauarbeiter vom Block C-Süd" teilte uns erregt mit, daß die dort arbeitenden Kollegen des VEB Bau streiken. Minuten später trafen Werner Kraatz und ich dort ein - es war ja gleich nebenan. Wir fanden die „Streikenden" in den rohbaufertigen Läden des Erdgeschosses. Dreißig mochten es sein. Sie diskutierten mit Bauleiter Karl Dietrich, Bauleiter Karl Moltmann und Betriebsfunktionären über eine angebliche Erklärung der Bauarbeiter, daß sie ihre Norm geschlossen um 10 % erhöht hätten.

Es ging hart zur Sache, denn niemand hatte zuvor mit den Bauarbeitern geredet. Ein Maschinist - genauer gesagt, „Hexen"-Fahrer - tat sich besonders hervor. Er hieß Horst Schlafke und bot keinen schönen Anblick, da er schrie und gestikulierte, als müsse er um sein Leben kämpfen. Seine Mitstreiter forderten ihn zur Mäßigung auf. Aber so sehr die Funktionäre des VEB Bau sich auch mühten und die auf vierzig Mann angewachsene Versammlung mit ihnen rang - man kam nicht voran, und an Einigung war nicht zu denken. Also beraumte man für den Folgetag eine weitere Aussprache an. Da ich mit den Dampfern unterwegs sein würde, sollte unsere Brigitte daran teilnehmen.

Nach der Rückkehr in das Studio, wo bereits Anrufe über ähnliche Unruhen auf Block 40 vorlagen, besprach ich die Veranstaltung auf C-Süd mit Wehnert und Rebetzky. Da sie vorläufig zu keinem Ergebnis geführt hatte, sollte ich keine Sendung daraus machen. Resigniert setzten Paule, Burghard und ich uns zusammen und spielten Skat.

Nach der sechsten oder siebenten Runde rief Bauleiter Zemke an. Auf der Baustelle G-Nord habe eine Versammlung aller Brigaden stattgefunden. Der Ministerratsbeschluß sei diskutiert worden und habe allgemeine Zustimmung gefunden. „Am Ende haben alle Kollegen einer Entschließung zugestimmt, in der sie eine Erhöhung der Arbeitsnormen billigen. Ich wundere mich, daß du nicht hier bist. Das müssen doch alle Baustellen erfahren."

Irgendwie gefiel mir das nicht. Vielleicht wollten die Organisatoren der Aktion G-Nord vorbildlich sein, vielleicht im Interesse der Bauarbeiter der regierungsamtlichen Anordnung über Kennziffern und Normenerhöhungen die Härte nehmen. Vielleicht wollten sie sich aber auch nur Liebkind machen.

Da uns das alles nicht geheuer war, ließen wir die Finger davon und blieben beim Skat. Gegen 16 Uhr, wir spielten eben die letzte Runde und schickten den Abspann -mit besten Wünschen für den Feierabend - auf die Baustellen, kam Körzendörfer herein. Er war nicht den kürzeren Weg durch den Saal gegangen - da hätten wir ihn kommen sehen - sondern durch den langen Flur oder kam gar von draußen. Er übersah scheinbar, was wir taten. Aber wie wir ihn kannten, speicherte er den Anblick für die nächstmögliche Kritik.

„Der Genosse Roepke hat angerufen. Massive Stimmungsmache auf der Baustelle. Sprafke hat Baufremde gesehen, Fettling nicht. Mach dich bitte auf den Weg, du wohnst ja in der Richtung. Ruf mich nach 18 Uhr an."

Körzendörfer hatte von der Baustelle Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain gesprochen. Und, wie gesagt, ich wohnte nur 300 m davon entfernt.

Als ich hinkam, war - oberflächlich betrachtet - dort nichts weiter los. Allerdings beharrten Bauleiter Roepke und Betriebsleiter Sprafke darauf, Betriebsfremde in Arbeitskleidung gesehen zu haben, während der BGL-Vorsitzende Fettling mit ehrlich wirkendem Kopfschütteln verneinte. Die Bauleiter Kunze und Kersten wußten von nichts, und Bauingenieur Kurz, dem ich am ehesten geglaubt hätte, war nicht aufzufinden. Von den Maurerbrigaden Kurt Bluhm, Wilhelm Rust, Karl Foth und der Transportbrigade Alfred Metzdorf standen zwanzig bis fünfundzwanzig Mann in Nähe der Baubuden und redeten lebhaft miteinander. Als ich mit Fettling herankam, gingen sie auseinander. Worüber sollten sie schon gesprochen haben.

Grundtenor der Unterhaltungen auf dem Bau sei, erklärte Fettling, „wenn nicht anders, muß gestreikt werden." „Das kann ganz schön haarig werden", gab er zu bedenken.

„Besteht eure Baustellenbesatzung denn nur aus vier Brigaden?" fragte ich.

„Das nicht", erwiderte der Sechsundvierzigjährige, „aber die andern hängen an se wie Schwanz an Kuh."

plötzlich rief eine Männerstimme in ungezügelter Abneigung: „Wat will der Arsch all wieder?!"

Ich drehte mich um, Fettling nicht.

Alfred Metzdorf stand in der Tür zur Bude der Transportbrigade. „Laß dich nicht belabern, Max!" Der Brigadier ging hinein und zog die Tür hinter sich zu.

„Er ist der Aggressivste", meinte Fettling. „Wer weiß, was in ihm vorgeht. Na ja, ganz unrecht hat er nicht."

„Und Parteisekretär und Bauleiter?" erkundigte ich mich. „Haben die alles im Griff?"

„Ach, weißt du ...", Max Fettling winkte ab und sah auf seine Uhr; er wollte wohl nach Hause und hatte mich für heute satt. „Gutzeit und Co., die haben alle ihre Gedanken und jeder seine. Denkst du heute so, mußt du morgen so denken, weil die da oben auch jeden Tag anders denken. Jendretzky, Rebetzky, Palezki oder wie die Bagage noch heißt. Baum, Brandt, Hafrang, Politbüro. Grotewohl nicht ausgenommen. Machs gut, hab keine Lust mehr."

Er ließ mich stehen - nur flüchtig meinen Unterarm berührend - und trollte davon. Die breiten Schultern ließ er dabei leicht nach vorn hängen und hob die Füße ein wenig müde oder unwillig über die herumliegenden Abfälle und Klamotten.

Als ich durch den Friedrichshain und um das Schwimmstadion nach Hause schlenderte, machte ich mir Gedanken über ihn. Er hatte es nicht leicht - nicht nur, weil ihm die theoretischen Grundlagen für die Funktion des BGL-Vorsitzenden fehlten. So sehr er sich auch für gewerkschaftliche Probleme engagierte und abstrampelte - er schien nicht hart genug zu sein, zu gutmütig, leichtgläubig und unflexibel. Einerseits sein gewerkschaftliches Rechtsempfinden, andererseits seine marxistische Überzeugung ... Offenbar war er nicht in der Lage, beides in Übereinstimmung zu bringen. Als Magaziner leistete er wahrscheinlich mehr. Trotzdem: eine grundehrliche Haut.

Vor seinem Laden auf der beinahe freigeräumten Ruine Ecke Dimitroffstraße/Paul-Heyse-Straße saß Bäckermeister Willi Kurtzer und schmokte eine „Turf oder ähnliches, ledenfalls war es die letzte Zigarette dieses Tages, bevor er sich aufs Ohr hauen und bis zur zweiten Stunde des 13. Juni schlafen würde. Geräuschvoll schnirkste er seinen Speichel in den Schutt, spuckte wie ein Russe die Kippe hinterher und erhob wie ein jovialer Bonze die rechte Hand - mir zum Gruße. Diese Bewegung gehörte seit langem zu unserem Begrüßungszeremoniell. Der vierzigjährige Kurtzer trug seinen Namen nicht zu Unrecht und das dünne, graue Haar stets streng gescheitelt

Er lächelte mir entgegen: „Und wie sieht's aus bei Stalins?"

„Kaum besser als bei dir!" rief ich zurück. „Scheiße hier, Scheiße da, aber was steh'n muß, steht!"

„Was steht denn noch? Müßt bald eure Schrippen woanders holen; mein Ofen fällt zusammen. Krieg keinen neuen bewilligt, und kauf ich einen schwarz, hängen sie mir den Brotkorb hoch. Wenn's so weitergeht, machen die Konsum aus mir, noch eh meine Alte zusammengeklappt ist." Er spuckte erneut in den Kriegsschutt und nahm seinen Hocker hoch. „Nur gut, daß sie die Marmelade gesenkt haben, kann wenigstens wieder Plunder und Kranzkuchen backen. Die können ganz froh sein, daß sie mir wieder Lebensmittelkarten geben, sage ich dir. Noch bißchen so weiter, und ich hätt' die Parteifleppen hingeknallt. Alles Scheiße, liebe Emma, kannste mir glauben. Mach's gut, ich muß mich hinhauen."

Wenig später rief ich Herweg Körzendörfer an. Wie stets hörte er geduldig zu - das zeichnete ihn aus. Nicht mal ja oder hm gab er von sich. Ich hatte auch nicht viel zu berichten.

„Als du schon weg warst, kam ein Anruf, sagte er, „anonym natürlich. Der Mann erzählte, die Brigadiere Foth und Metzdorf haben für Montag Streik angesagt. Hast du davon was gehört?"

„Von wem?" fragte ich zurück, „Ausgerechnet ich?"

„Ich dachte ... Es konnte ja sein."

„So gut versteh ich mich mit Fettling auch wieder nicht."

„Ist die Basis deiner journalistischen Beweglichkeit auf Fettling beschränkt? Gewiß nicht."

Am liebsten hätte ich aufgelegt. Ja, so reagierte dann der „geduldig Zuhörende". „Die Baustelle Krankenhaus Friedrichshain, Genosse Körzendörfer, liegt erst seit kurzem in meinem Arbeitsbereich und wird noch nicht von uns beschallt." Das kam wahrscheinlich maulender heraus, als ich beabsichtigt hatte.

„Schon gut - reg dich nicht uff, beschwichtigte er.

„Bist du morgen bei der Dampferfahrt?" Ich wollte den herben Ton von vorher vergessen machen.

„Hab' was Besseres zu tun. Außerdem hat mir niemand Karten angeboten."

„Wer von euch fährt mit?" fragte ich.

„Keiner." Das klang leicht gereizt.'

„Und von Rebetzkys Leuten?"

„Weiß ich nicht. Vermutlich auch niemand. Ist auch vollkommen witzlos. Wenn du dabei bist, halte mal bißchen die Augen offen. Tschüs."

Oberbauleiter Pfeng hielt die alljährlich stattfindende Dampferfahrt „in dieser prekären Situation" eigentlich ebenfalls für überflüssig. Verhindern konnte er sie natürlich nicht und hatte daran auch kein Interesse. Der Vorschlag dafür war diesmal von Bauleiter Roepke in einer Produktionsberatung des VEB Industriebau gemacht worden. Die Brigadiere, animiert von Alfred Metzdorf, Kurt Bluhm und dem „Qualitäts-Brigadier" Karl Foth, stimmten geschlossen zu.

Man einigte sich auf Sonnabend, den 13. Juni und bildete für die Organisation auch gleich eine „Dampferkommission". Ihr gehörten Max Fettling, Georg Brosda, Dieter Köhler, Karl Foth und Kurt Bluhm an. Otto Lembke wollte nicht mitfahren, weil seine Elisabeth Straßenbahnschaffnerin war und an diesem Sonnabend nicht freibekommen würde.

Auf Drängen der Brigadiere Metzdorf, Bluhm, Zechmann, Foth und Joswich richteten es die „BGLer" Fettling und Brosda so ein, daß sie bei diesem Ausflug „unter sich bleiben würden".

Während Fettling dabei nicht ganz wohl war, kam Brosda dem Wunsch der Brigadiere bedenkenlos nach. Er schlug vor, einen großen und einen kleinen Dampfer zu bestellen. Eigentlich hatte Max Fettling an die „Friedenswacht" gedacht, auf der im Vorjahr sämtliche Teilnehmer - etwa 300 - gemeinsam Platz gefunden hatten. Aber nun besorgte er bei der DSU die Dampfer „Trumpf - mit 110 Plätzen - und „Seid bereit", die 115 Personen transportieren konnte. Die Einordnung der Brigaden und Betriebsbereiche wurde in der „Dampferkommission" beschlossen und danach vom verantwortlichen Kartenverteiler Dieter Köhler, im Hauptberuf Abrechnungstechniker, genau gesteuert.

Mit der „Trumpf bekamen die sechs Brigadiere „ihren" Dampfer, aber auch die Brigaden Rust und Pfeiffer wurden dort einquartiert. Hinzu kamen je eine Brigade von den Baustellen Schule Rüdersdorfer Straße sowie VP-Inspektion Marchlewskistraße, letztere auf Forderung des dortigen BGL-Vorsitzenden Wahl. Die der Brigade Hein Görlich angebotenen Plätze schlug dieser aus: „Prügeln können wir uns auch auf dem Bau." Aber der Hucker Hanne Himmel bekam von Georg Brosda eine Karte zugesteckt. Darüber hinaus durften Georg Brosda neun und Alfred Metzdorf sechs Gäste auf die „Trumpf mitbringen.

Alle übrigen wurden auf der „Seid bereit" einquartiert, so die Brigaden Gruhl, Brüggemann, Kunze, Ernst, Tiedke und Meißner vom Block 40. Die ebenfalls ständig dort arbeitenden neunzig Lehrlinge und ihre Ausbilder berücksichtigte die „Dampferkommission" des VEB Industriebau nicht, da sie offiziell beim VEB Lehrlingsbau beschäftigt und deshalb als „betriebsfremd" anzusehen waren. Dafür sollte sich aber die ganze restliche Belegschaft - darunter das gesamte technische Personal und die Büroleute - samt Ehepartnern auf der „Seid bereit" vergnügen. Auch Alfred Lux - Chef der Aufbauleitung Stalinallee - und sein Verantwortlicher für Transport und Material -der später berühmt gewordene Erhard Gißke - sowie der Parteisekretär des Oberbauleitungsbereiches, Erich Gutzeit, erhielten Einladungen, lehnten diese aber aus den verschiedensten Gründen ab.

Die von der „Dampferkommission" besonders umworbenen Funktionäre des VEB Industriebau, Betriebsleiter Gerhard Sprafke, Technischer Leiter Gerhard Busse, Leiter der Abteilung Arbeit Otto Meissner, Parteisekretär Rosteck und BGL-Vorsitzender Kühntopp verzichteten ebenfalls auf die Teilnahme.

Das Gerücht wurde bereits seit acht, neun Tagen von Mann zu Mann weitergeflüstert, und inzwischen wußten - mit Ausnahme einiger Funktionäre - fast alle, weshalb Dieter Köhler so unentwegt für die Dampferfahrt warb. Es ging gar nicht um die Auslastung der Schiffe. Dagegen verbreiteten Metzdorf und Bluhm ihre Absicht, in der Gaststätte „Rübezahl" - wo möglichst viele Beschäftigte des VEB Industriebau versammelt sein sollten - für den 15. Juni 1953 zum Streik aufzurufen.

Der 67jährige Bauschreiber Max Hoffmann hatte auf seinem Rentnerposten viel Zeit und wurde - wie sich später herausstellte - von Köhler aufgefordert, ihn bei der Werbung für die Dampferfahrt zu unterstützen und natürlich auch selbst mitzufahren. Der Alte meinte zwar: aus Dampferfahrten mache er sich nichts mehr, und für Streik habe er kein Ohr frei, erklarte sich jedoch bereit, telefonische Auskünfte „über Streik und so'n Schietkram" zu erteilen. Was er dann offenbar auch fleißig tat.

In die Liste der Teilnehmer schrieben sich ein: die Abrechner Winkler, Hinnemann, Wenzel und Wustrow, die Lohnrechner Sumpfnagel und Behrend; Materialverwalter Rössner; der Magaziner Egon Walter und die Budenfrau Frieda Fettling; die Stenotypistinnen Schmidt und Fischer; die Betriebsassistentin Kollner; Bauingenieur Behlendorf und TAN-Bearbeiter Wolf. Zu den Bauleitern Kunz, Kersten und Roepke gesellten sich die Bauleiter Schröder, Wenk und Reimann, Oberpolier Callies sowie die Poliere Schulze, Rothe, Wilhelm, Quixemall und Bastian.

Aber bei vielen verzichtete man auch darauf. Beispielsweise mußte ich mich ebensowenig eintragen wie ein bestellter Harmonikaspieler, der Fliesenleger Zoch von Block A, ein unbekannter blondbartiger Schlacks und die zahlreichen Angehörigen von Metzdorf, Bluhm und Foth samt deren „Mitbringseln".

Zunächst kam ich mir auf dem Schiff recht verloren vor. Alle hatten ihre Frau bei. Aber meine kränkelte, und wir waren auch unsere drei Kleinkinder nicht losgeworden. Glücklicherweise zogen mir dann Ingenieur Kurz einen Stuhl an seinen Tisch. Er sagte mir, daß Bauleiter Roepke mit einem Betriebs-PKW direkt zur Gaststatte „Rübezahl" kommen wurde.

Je mehr die Sonne in den Mittag stieg, desto herrlicher wurde unsere Fahrt die Spree entlang, und ein bißchen kreuz und quer auf dem Müggelsee. Allerdings wurde das aus einer kleinen Konsumluke dargereichte Angebot an Bockwurst mit Salat, Buletten und Schmalzschrippen dem warmen Sommertag und der gehobenen Ausflugsstimmung nicht gerecht. Auch die plärrende Viermann-Combo des VEB-Industriebau nicht. Auch nicht Dünnbier und 32er Korn, „Pisolini" und „Sabbelwasser". Immerhin hatte jede Brigade in weiser Voraussicht ihr eigenes Bier und Hochprozentigen mitgebracht. Deshalb schwappten über kurz oder lang doch jede Menge Lange und Kurze wie Bugwellen und krauselten sich wie Heckstrudel in den Köpfen der Bauarbeiter, die besonders in dem verräucherten, abgewirtschafteten Salon der „Trumpf“ zunehmend lauter wurden, wie man später erzählte.

Das normalerweise von Angetrunkenen bevorzugte „Thema 1" - Frauen - mußte ausgeklammert werden, da die meisten ihre Angetraute neben sich hatten. Also stürzte man sich desto ingrimmiger auf Thema 2 - Politik -, das in diesen durch die angeordnete Normenerhöhung schwerbelasteten Tagen ohnehin besonders gut lief. Zu den aggressivsten und unversöhnlichsten Wortführern sollen sich „Qualitatsbrigadier" Foth, sowie Brosda, Köhler, Bluhm und Metzdorf aufgeschwungen haben. Aber auch auf der „Seid bereit" schlugen die Wogen allmählich höher. Besonders der stets besoffene Bauleiter Kersten kurvte herum und plärrte wichtigtuerisch etwas von Protest. Deshalb war ich froh, am Tisch von Kurz zu sitzen, der als Respektsperson galt.

Aber immerhin strahlte die Sonne, und gegen Mittag gab es auf dem Vorschiff keinen freien Sitz und nicht mal mehr einen Stehplatz an der Reling. An uns vorüber rauschten andere Dampfer der „Weißen Flotte" wie die „Wintermärchen II", “MS ,Spree" oder „Komet" - alle Vorschiffe und Salons voller heiterer und entspannter Menschen.

Im „Rübezahl" erwartete jeden Teilnehmer eine vom Betrieb spendierte Portion Bockwurst mit Salat. Ich ließ mir statt dessen Sülze und Dünnbier kommen. Die inzwischen zu uns gestoßenen Roepkes aßen Bratkartoffeln mit Spiegeleiern, wahrend Frau Kurz dazu eine Bulette bevorzugte. Nur ihr sparsamer Mann nahm die „Betriebsverpflegung" in Anspruch. Allerdings waren meine Bratkartoffeln mit „Wagenschmiere" - der minderwertigsten Margarine - gebraten, und die Schweinesülze bestand größtenteils aus stark essigversetztem Geliermittel. An manchen Schwartenhappen schienen neue Borsten gewachsen zu sein.

„Da hört man ja fast inoch das Quietschen", griente Roepke. Aber wenig später meckerte er vor seinem eigenen Teller über die „Plansollhennen", welche offenbar auf Kosten des Eigelbs eine Normerhöhung vorgenommen hatten.

Es dauerte über eine Stunde, ehe alle abgefüttert waren. Dabei verzichteten manche - unter der Nachwirkung von Dampfer-Bockwurstpelle und Fusel - schon vorsichtshalber auf das Gratis-Essen. Denn einige Unersättliche kotzten es gleich wieder aus, und andere erbrachen schon, bevor sie die „Rübezahl"-Kellnerinnen überhaupt gesehen hatten. Viele nutzten jedoch wie wir die Möglichkeit und bestellten preiswerte HO-Gerichte. Mit meiner besonders billigen Sülze hatte ich Pech gehabt, aber für etwas mehr Geld - nämlich 1,70 M - hatte ich Zunge, für 2,90 M ein Kotelett und für 3,50 M sogar ein Filetsteak — sämtlich mit Salzkartoffeln - essen können. Die wahlweise angebotenen Kompotts kosteten zusätzlich etwa 35 Pfennige. Das war wohl für jeden erschwinglich. Aber Fliesenleger Wilhelm Zoch vom Block A - sein Sohn Klaus war Dozent an der Humboldt-Universität und einer meiner Wohnungsnachbarn -bestellte auch nur Bratkartoffeln mit Sülze, obwohl er jeden Monat mit 850 M und mehr nach Hause ging.

Die HO-Speisekarte des „Rübezahl" erinnerte mich daran, daß wir im Februar mal über Funk die betriebliche Speisekarte des LEW „Hans Beimler", Hennigsdorf, verlesen hatten: „1 Tasse Brühe 20 Pfennig; Deutsches Beefsteak mit Salzkartoffeln 1 Mark; Diätangebot: 1 Tasse Brühe, Kalbsragout mit Kartoffeln 1 Mark". Und wir meinten, es wäre gut, wenn man auch den Bauarbeitern der Stalinallee solch preiswertes warmes Essen (für das keine Markenabgabe notwendig war) anbieten könnte. Unser Vorschlag hatte ein geteiltes Echo gefunden: Kopfschütteln, und -wiegen, aber auch Nicken. (Und tatsächlich sollten bereits 1954 längs der Stalinallee hier und da helle Essenbaracken stehen, in denen die Bauarbeiter ordentlich zu Mittag essen konnten, und zwar zu „HO-Rübezahl-Preisen". Aber das wußte ich am 13. Juni 1953 natürlich noch nicht.)

Die Veranstaltung zog sich hin und wurde immer lauter. Denn die Combo-Männer aus der Brigade Metzdorf versuchten mit aller Kraft und Technik gegen das Stimmengewirr der Plaudernden und Lachenden anzukämpfen. Ich verüugte mich auf die Toilette und sah, als ich zurückkam, Georg Brosda von einem Stuhl in der Mitte des Saales heruntersteigen. Er hatte eine - zumindest nach seiner Ansicht – witzige Rede gehalten. Die meisten lachten - je nach Sympathie, Intelligenzgrad oder inhalierten Promille.

Roepke winkte ab: „Kalter Kaffee; will wieder mal glänzen." Dabei stand er auf „Jetzt bin ich dran. Nee, nee", reagierte er auf mein erstauntes Gesicht, „das haben wir so festgelegt; wir und Pfeng und Sprafke."

Mit „wir" meinte er die anderen Bauleiter des Betriebes. Tatsächlich: da auch Oberbauleiter Pfeng nicht mit von der Partie war, konnte Roepke hier sozusagen als oberster Vertreter des VEB Industriebau gelten. Er sprach dann allerdings nur drei vier Sätze: Begrüßung und Schmus um das Sommerwetter, Kompliment an die charmanten Frauen der Kollegen und die glänzende Stimmung. Sein letzter Satz galt dem „lebensvollen Kelch, den man heute bis zur Neige leeren müsse", um am Montag mit neuer Kraft und neuem Schwung das Gewerk anzupacken.

Viel Beifall, Murmeln, lautstarkes Lachen und Krächzen aus der Saalmitte, wo Metzdorfs Leute saßen, flankiert von der Qualitätsbrigade Foth und der Brigade Bluhm. Offenbar saßen da auch noch die anderen von der „Dampferkommission" plazierten Brigaden sowie die heute führerlosen „Lembkes".

Als mich Wilhelm Zoch zu einem Schnaps an den Tresen einlud, hob Richard Gruhl grüßend sein Glas. Die Maurerbrigadiere Brüggemann und Hartmann nickten mir zu, bevor ich an der Theke anlangte. Aber ausgerechnet Bert Stanike vom Block 40, ein guter Bekannter und bestes Pferd im Stall der Maurerbrigade Brüggemann, sah demonstrativ weg. Schietegal, sagte ich mir und mußte nach Zochs und meinen vier Klaren an die Luft. Mir war, als kitzelten mich die Schweineborsten. Und zu allem Überfluß schien auch das „Thema 1" dieser Tage irgendwie Gast an den „Rübezahl"-Tischen zu sein.

Der Wind raschelte leise im Blätterwerk der Bäume, als ich am Strand entlang zur „Müggelperle" ging. Im klaren Wasser schnatterten Enten. Ältere Leute, Liebespaare und Familien kamen entgegen, überholten mich. Die Luft war so rein, daß ich sogar den Appetit auf eine „Turf“ unterdrückte.

„Du hast was verpaßt", empfingen mich Roepke und Kurz, als ich nach etwa einer Stunde geläutert zum „Rübezahl" zurückkehrte. Alfred Metzdorf hatte sich auf einen Stuhl gestellt und eine Rede gehalten. Im Suff, natürlich im Suff, betonten sie - und nahmen ihn trotzdem ernst. Und das nicht nur, weil sie den brauseköpfigen Transportbrigadier seit langem kannten. Da war auch die Reaktion der Menschen im Saal gewesen - Hunderte hatten erst erschrocken den Atem angehalten, danach stürmisch applaudiert, viele getrampelt und gejohlt.

Eines stand fest: Metzdorf war unendlich sauer auf die beschissenen wirtschaftlichen Zustände, in denen er zu leben hatte. Er wollte mehr haben und besser leben, wollte das Westberliner Marshallplan-Schaufenster daheim in der Marchlewskistraße haben. Bei Gott, wer wollte das nicht. Ein Hundsfott, wer das „Kartenleben" liebte. Unter gewissen Bedingungen wollte ich das Westschaufenster auch. Augenscheinlich fühlte sich Metzdorf aber in diesen wirren Tagen berufen, mit seiner vierzehnköpfigen motorisierten Truppe „Aufklärer und Stoßtrupp" zu sein, eine Bresche hinüber zu den Marshallplan-Schaufenstern zu schlagen, Signalist eines Großangriffs zu werden. Und doch war ich davon überzeugt, daß er eigentlich - wie die Mehrheit im „Rübezahl"-Saal - nur stets Butter auf der Stulle, Fleisch im Topf, sich einen ordentlichen Sommermantel kaufen und auch mal sagen wollte: „Ulbricht ist Scheiße."

Alfred Metzdorf hatte gegen die diktatorische Regierungsanweisung zur Normenerhöhung gesprochen. Das war angekommen. Aber als er die Regierung beschimpfte, flaute der Beifall ab - wohl mehr aus zurückhaltender Vorsicht. „Wenn die Regierung", sollte er gesagt haben, „die undemokratische Normenerhöhung nicht zurücknimmt, Kolleginnen und Kollegen, werden wir ab Montag streiken!"

Rundum hatte es vielstimmig gerufen: „Wir auch! Wir auch!" Danach wieder Metzdorf: „Wir müssen der Regierung beibringen, daß ihre Demokratie nicht unsere ist. Ihre Demokratie ist Zwang!"

Bei meiner Rückkehr in den Saal hatten erregtes Stimmengewirr und Tabakrauch die Atmosphäre beherrscht und die Combo-Männer hilflos an ihrem Tisch gesessen. Selbst jetzt noch versuchte Max Fettling den hochgradig erregten Metzdorf zu beruhigen..

„Wir müssen der Regierung beibringen, daß ihre Demokratie nicht unsere ist ..." Das hatte ich schon mal gehört, wahrscheinlich vom SFB- oder RIAS-Kommentator Alexander von Bentheim. Und es gab außer mir noch manchen im Saal, der darin die pure Feindlichkeit, Hetze, Aufwiegelei spürte.

Inzwischen Debatten überall, kein Tisch ausgenommen. Die Auseinandersetzungen wurden heftiger, es kam zu Stoßereien, Rangeleien, Fausthieben. Auch draußen prügelten sich Bauarbeiter, die im Grunde dasselbe wollten, nur nicht die gleichen Worte fanden und die gleichen Wege suchten. Metzdorf und andere heizten die Situation weiter an, entzweiten die scheinbaren Gegner immer mehr. Im Saale schwebte das für die einen anrüchige und für die anderen befreiende Wort „Streik". Und es fuhr auf den zurückkehrenden Dampfern mit nach Berlin hinein und weiter in die Stuben der Bauarbeiter. Es beherrschte das sommerliche Wochenende. Weniger das von Frau Kurby, mehr das von Otto Pfeng. Weniger das von Bäckermeister Kurtzer, Paule Lehmann, Hein Görlich oder Radio DDR I; mehr das von Gustav Rebetzky, Hermann Axen, Otto Grotewohl - und RIAS Berlin.

Teil 2


1  Edith Baumann - damaliges Mitglied des Sekretariats des Zentralkomitees der SED

2 Valentin Falin Politische Erinnerungen Verlag Droemer Knauer, München, S 305)

3 Przybylski Tatort Politbüro, Bd 1 Rowohlt Berlin, S 240).

4 Ebenda, S. 241,242, 243, 246)

5 Zur Entstehung dieses Kommuniques siehe den im Anhang veröffentlichten Beitrag von Dr. Kurt Gossweiler über die Hintergründe des 17. Juni 1953).


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