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Für Begradigung der Norm demonstriert

(Hennigsdorf)

Die Ereignisse in Hennigsdorf spielten an diesem Tage eine wesentliche Rolle. Nicht nur die Bauarbeiter der Stalinallee in Berlin, sondern auch die Stahlarbeiter und Kollegen der LEW Hennigsdorf haben an diesem Tage gestreikt. Wie ist das zu erklären? Hatten sich die Streikenden vorher verabredet und dann gemeinsam losgeschlagen? Warum gerade am 17. Juni, da ja die Normenfrage schon am 16. Juni geklärt war? Im Laufe des Tages hätten alle Kollegen dies erfahren, und dann wäre ab 18. Juni ein Streik unmöglich gewesen.

Zu dieser Zeit war ich hauptamtlicher Leiter des Volkskunstensembles im Stahlwerk Hennigsdorf, das aus etwa 90 Mitwirkenden bestand. Am 17. Juni konnte ich wegen einer heftigen Verdauungsstörung meinen Dienst nicht antreten. Dafür besuchte mich in den Vormittagsstunden der stellvertretende BGL-Vorsitzende und begrüßte mich mit den Worten: „Gott sei Dank, Du bist zu Hause!" Er erzählte mir, daß von den 6.000 Kollegen etwa 2.000 nach Berlin zum Streiken unterwegs seien. Ich wollte das nicht glauben, aber es war bittere Wahrheit. Im Laufe des Tages wurde viel gemunkelt, und es kamen unterschiedliche Berichte von den Berliner Ereignissen nach Hennigsdorf. Am 18. Juni lief aber die Produktion im Stahlwerk wieder.

Im Auftrag der BGL befragte ich danach alle Mitglieder des Ensembles mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß keinem Kollegen aus der Streikteilnahme ein Nachteil entstehen würde. Es stellte sich heraus, daß von den 90 Mitgliedern nur drei an diesem Marsch teilgenommen haben. Ein Mädchen von 16 Jahren erklärte, daß ihr der Fußweg (hin und zurück ca. 40 km) zu beschwerlich gewesen und sie vorzeitig umgekehrt sei. Die beiden anderen Kollegen sagten sinngemäß: nachdem wir am Potsdamer Platz sahen, wie Teilnehmer des Streiks das Columbus-Haus anzündeten, hatten wir die Nase voll. Wir wollten doch friedlich für die Begradigung unserer Norm demonstrieren Außerdem berichteten sie folgendes als wir durch Westberlin zogen, hatten die Geschäftsleute am Straßenrand Stände aufgestellt und verteilten kostenlos Apfelsinen, Bananen, Schokolade und Getränke an die Streikenden Erstaunlich, diese schlagartige Solidarität!

Nach den Ereignissen wurden im Stahlwerk zwei oder drei Versammlungen mit den Beschäftigten durchgeführt, die äußerst heftig verliefen. Dabei wurden fünf oder sechs Beschäftigte als Agenten Westberliner Geheimdienste entlarvt. Heute wird die Rolle dieser Organe geleugnet, und die Ereignisse sollen auch nichts mit Klassenkampf oder dem kalten Krieg zu tun gehabt haben. Meine Meinung ist da eine andere. Und immer wenn ich in Berlin am Brandenburger Tor bin, denke ich an diesen Tag und seine Lehren Denn durch diese Straße sind ja die Hennigsdorfer marschiert Sie heißt jetzt Straße des 17 Juni.

Harry Koscol 


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