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Meine wichtigste Rede

(Gera, Jena u. a.)

 

Im Sommer 1952 begann die Bildung der Bezirke, und ich wurde aus der Landespolizeibehörde Thüringen nach Gera versetzt. Zunächst gehörte ich einem Kommando an, das erste Voraussetzungen für die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) zu schaffen hatte. Die Dienststelle wurde im Gebäude der Energieversorgung Gera, Fabricistraße 1, untergebracht.

Die im Frühjahr 1953 entstandene Situation führte auch in unseren Reihen zu erregten und oft kontroversen Diskussionen. Aber nach der Verkündung des „Neuen Kurses" beruhigten sich die Gemüter, und man wandte sich erleichtert wieder anderen Themen zu. So ist auch zu erklären, daß wir nach dem am 17. Juni 1953 morgens 6 Uhr ausgelösten Alarm eine Dienstversammlung durchführten und über das bevorstehende Kinderferienlager berieten. Zwar schilderte uns der Leiter Paß- und Meldewesen, VP-Oberrat Derbsch, im Pausengespräch ungewohnte Eindrücke von seiner Berliner Dienstreise am Vortag, aber wir hielten seinen Bericht über Streiks und Demonstrationen für stark übertrieben.

Den Ernst der Lage begriffen wir erst, als die an unserer Dienststelle vorbeifahrenden Loks der Deutschen Reichsbahn auffällige Pfeifsignale abgaben und der operative Diensthabende für die Dienststelle der BDVP Gera Objektalarm auslöste. Zuvor hatten sich in den Betrieben der Südvorstadt Demonstrationszüge gebildet, die bereits in Richtung Stadtinneres unterwegs waren. Unmittelbar nach der Alarmauslösung und Verstärkung der Objektwache traf ein Streikkomitee der Wismut AG in der Fabricistraße ein und verhandelte mit dem Chef der BDVP, VP-Inspekteur Engelmann, seinen Stellvertretern Inspekteur Lochmann und Flechner, sowie mit dem Leiter der KVP-Dienststelle Gera, Oberst Thiele, und anderen. Über den Inhalt ist mir nichts bekannt. Es entzieht sich auch meiner Kenntnis, ob die nachfolgende Abgabe unserer Schußwaffen und Polizeiknüppel in dieser Verhandlung festgelegt wurde. Die im Laufe des Vormittags gebildeten Einsatzzüge verfügten jedenfalls weder über Waffen noch sonstige polizeiliche Zwangsmittel.

Gegen 10.30 Uhr erhielten VP-Oberrat Blümel und ich den Befehl, mit zwei dieser Einsatzzüge zur Sicherung der Untersuchungshaftanstalt Gera auszurücken und zuvor Verbindung mit der in Nähe des Bahnhofs gelegenen sowjetischen Kommandantur aufzunehmen. Diese kam jedoch nicht zustande. Unser Ziel erreichten wir ohne Zwischenfälle und bemerkten in den umliegenden Straßen nichts Außergewöhnliches. Ein Aufklärungstrupp stellte allerdings fest, daß sich auf dem Vorplatz der Untersuchungshaftanstalt etwa 1500 Demonstranten versammelt hatten. Wir saßen ab und bildeten eine Schützenreihe. Man eröffnete uns unwillig, aber ohne sichtbaren Widerstand zwei Gassen, und die beiden Züge erreichten den Eingang der Haftanstalt. Dort versuchten Angehörige des Strafvollzugs, Unbefugten den Eintritt zu verwehren. Unsere Züge sicherten den Eingang durch eine doppelte Sperrkette und bildeten eine Reserve im Innern der Haftanstalt.

Die Menschenmenge wogte hin und her und wurde aus dem Hintergrund von unbekannten Personen zum Sturm auf das Gefängnis aufgewiegelt. Am Eingang erschienen immer wieder kleinere Gruppen und forderten Zutritt, um die Insassen zu überprüfen. Wir lehnten dieses Ansinnen natürlich ab. Aber die Lage spitzte sich zu, der Sturm auf das Gefängnis schien bevorzustehen, und einer der Demonstranten begann bereits die Außenfront hinaufzuklettern. Da entschloß ich mich zu einer kurzen Ansprache, in der ich neben der erfolgten Rücknahme von Preis- und Normerhöhungen u. a. darlegte, daß im Zusammenhang mit dem „Neuen Kurs" auch in der UHA Gera bereits Urteile überprüft und Häftlinge freigelassen worden waren. Die von den Demonstranten erhobene Forderung zur Freilassung bzw. Überprüfung der noch einsitzenden Gefangenen sei Aufruhr und ungesetzlich. Deshalb würden wir Volkspolizisten - obwohl ohne Waffen und Schlagstöcke - das Eindringen in die Haftanstalt nicht zulassen. Abschließend forderte ich die Versammelten auf, Ruhe zu bewahren und den Vorplatz der Haftanstalt zu räumen. Inzwischen hatte der Kletterer tatsächlich die Außenfront verlassen. Unmittelbar danach erschienen zwei Aufklärungs-SPW der Sowjetarmee und fuhren in den Hof der Haftanstalt ein, während die Demonstranten fluchtartig verschwanden. Wenig später kehrten unsere beiden Züge in die Dienststelle zurück. Gegen 14 Uhr wurde für die Stadt Gera der Ausnahmezustand ausgerufen.

Über die Ereignisse im Bezirk Gera ist mir aus den Lagebesprechungen bzw. der Meldetätigkeit des Operativen Diensthabenden der BDVP Gera für den Zeitraum vom 17. - 25. Juni 1953 folgendes in Erinnerung geblieben:

Wiederholt gingen Meldungen über das Auftauchen unbekannter Luftlandegruppen und zweifelhafter Fallschirmspringer im Lagezentrum ein, die sich jedoch immer als falsch herausstellten.

In Weida besetzten Demonstranten die örtliche Polizeiwache und bedrohten die anwesenden Volkspolizisten. Angehörige der KVP-Bereitschaft räumten daraufhin mit „Gewehr zur Hand" die Wache und den Vorplatz, ohne daß ein Schuß fiel.

Aus Kahla wurde eine Kundgebung auf dem Marktplatz gemeldet, zu deren Hauptrednerin sich eine ehemalige KZ-Aufseherin aufgeschwungen habe.

Die Dienststelle Jena des Ministeriums für Staatssicherheit wurde von Hunderten gestürmt, die Büroeinrichtungen und Akten auf die Straße warfen. Einer der Mitarbeiter stand in direkter Telefonverbindung mit Minister Zaisser und wurde wiederholt angewiesen, jeden Schußwaffengebrauch zu verhindern. Die letzte Meldung lautete: »Jetzt dringen sie in mein Zimmer ein!" Danach wurden MfS-Angehörige durch die Straßen geschleift, und sogar Schwerverletzten die Aufnahme in Krankenhäusern verweigert. Beim Sturm auf die Haftanstalt befreite man sämtliche Häftlinge, fesselte die kleinste von ihnen mit Handschellen und präsentierte sie den Demonstranten mit den Worten: „... und Kinder haben sie auch eingesperrt!".

Mir aus der früheren Zusammenarbeit bekannte Erfurter Genossen schätzten ein, daß die frühzeitige Ausrufung des Ausnahmezustandes durch den Chef der BDVP, Chefinspekteur König, wesentlich zur Verhinderung ernster Vorkommnisse im Bezirk Erfurt beigetragen hat.

Der Leiter der Registrierabteilung Sömmerda der KVP vereitelte das Eindringen der Demonstranten in seine Dienststelle, indem er die Wache eine Salve in die Luft abfeuern ließ.

So erlebte ich den 17. Juni 1953, und diese Ereignisse prägten mein Geschichtsbild.

Friedrich Krüger 


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