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Kopflosigkeit, Inkompetenz ...

(Leipzig)

 

Seit 1948 lebte ich als Studentin in Leipzig. 1952 schloß ich im Alter von 22 Jahren mein Studium als Finanzökonomin mit dem Diplom ab und arbeitete danach als Übersetzerin in der Fremdsprachenabteilung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Durch die Verwaltungsreform 1952 -Auflösung der Länder und Bildung der Bezirke - gab es eine Zeitlang in unserem Beruf keine Arbeit. Viele Absolventen meines Abschlußjahrgangs waren einige Monate arbeitslos und erhielten ihr Stipendium weiter. Da mein Stipendium nur 50.- M betrug und meine Eltern mich finanziell nicht unterstützen konnten, nahm ich die erste Arbeitsgelegenheit wahr, die sich mir bot. Zugute kam mir, daß ich auch als Übersetzerin für Russisch ausgebildet war.

Der 17. Juni 1953 war ein schöner Tag mit bereits sommerlichem Wetter. Meine Kollegin und ich nutzten die Mittagspause zu einem kleinen Einkaufsbummel in der nächsten Umgebung unserer Arbeitsstelle. Da wir keine Westsender hörten, hatten wir nicht die geringste Ahnung von den Ereignissen dieses Tages und denen des Vortages in Berlin. Dann das erste Zeichen, daß etwas nicht in Ordnung war: im Rinnstein lagen weggeworfene Parteiabzeichen der SED. An einem Straßenstand kauften wir Eis und wurden Zeugen einer Unterhaltung, die uns endgültig verwirrte: ein Mann verkündete triumphierend, daß es endlich den „verdammten SED-Bonzen auch in Leipzig an den Kragen gehen werde." Als wir uns in die Unterhaltung einmischten, lachte man uns wegen unserer Ahnungslosigkeit regelrecht aus. Aber davon wurden wir auch nicht schlauer. Nach Rückkehr in die Universität erzählten wir unser Erlebnis und wurden für verrückt erklärt. Es glaubte uns einfach keiner. Niemand war informiert oder alarmiert worden. Wir gingen wieder an unsere Arbeit.

Gegen 14 Uhr hörten wir durch das offene Fenster Sprechchöre: „Nieder mit Walter Ulbricht, weg mit der Regierung!" Nun wurden endlich die Vorgesetzten munter. Wir versammelten uns in einem Raum mit Blick auf den Karl-Marx-Platz und sahen entsetzt und hilflos zu, wie sich einige hundert Menschen vor dem Haus der Staatlichen Versicherung drängten, mit der offenbaren Absicht, das Gebäude zu stürmen. Dieses Haus war bis vor kurzer Zeit Sitz der Kreisleitung der SED gewesen. Das Gebäude unserer Arbeitsstelle, das Franz-Mehring-Haus, war zwar endlich abgeschlossen worden, aber viel geholfen hätte uns das im Ernstfall auch nicht. In der Ritterstraße sah ich später selbst, wie die aus dem Fenstern der FDJ-Bezirksleitung geworfenen Möbel und Akten auf der Straße verbrannten. Gewalt gegen Menschen erlebte ich an diesem Tag übrigens auf keiner der beiden Seiten.

Der Tumult auf dem Karl-Marx-Platz wurde immer stärker und besorgniserregender. Die Verantwortlichen unserer Fakultät waren offenbar immer noch nicht über notwendige Maßnahmen instruiert worden. Gegen 16 Uhr sahen wir sowjetische Panzer aus Richtung Hauptbahnhof kommen. Sie taten nichts weiter, als sich langsam auf die Menschenansammlung zuzubewegen. Es gab an dieser Stelle Leipzigs keine Schießerei. Die Menschen kamen offenbar allmählich zur Vernunft und zerstreuten sich.

Endlich erhielten wir eine Weisung unserer Vorgesetzten: die Lage in der Stadt habe sich dank des Einsatzes der sowjetischen Armee beruhigt. Da keine Straßenbahnen fuhren, wurde uns empfohlen, schleunigst den Heimweg anzutreten. Gefahr gebe es keine mehr. Dies traf zu. Unterwegs begegnete ich kleinen Grüppchen aufgeregt diskutierender Menschen. Besonders in Erinnerung blieb mir eine ältere Frau, die mit einigen Arbeitern ins Gericht ging, die an dem Aufruhr teilgenommen hatten. Verlegen versuchten sie ihr zu erklären, warum sie mit allem unzufrieden waren. Aber so richtig kamen sie gar nicht zu Wort. „Wenn ihr zu Hause mit etwas unzufrieden seid, schmeißt ihr doch auch nicht gleich den Küchenschrank um", sagte die erboste Frau. Recht hatte sie, und die Arbeiter verteidigten sich nur noch sehr lahmherzig. Als ich am Bahnhofsvorplatz vorbeikam, brannte dort der Informationspavillon der Nationalen Front lichterloh. Rund um den Hauptbahnhof standen die Panzer der sowjetischen Armee. Während ich vorbeiging, gab es keinerlei Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung. Die Streitkräfte wurden respektiert.

Dieser Tag offenbarte eine Kopflosigkeit und Inkompetenz unserer staatlichen Organe, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ohne den Einsatz der Sowjetarmee hätte nach meiner Auffassung alles schlimm geendet - nämlich mit der Beseitigung der DDR.

Dr. Marianne Lein 


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