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Plötzlich fielen Gewehrschüsse

(Magdeburg)

Damals war ich als Apothekenassistent in der Storch-Apotheke der Neuen Neustadt beschäftigt. An diesem Morgen kam mein Chef ganz aufgeregt zum Dienst, denn er hatte sich die ganze Nacht vom RIAS beschallen lassen. Aber auch unsere Sender funkten dazwischen: „Die Feinde des Sozialismus im Innern der DDR nutzen die Unzufriedenheit und Mißstimmung von Werktätigen für ihren konterrevolutionären Putschversuch aus" usw. usf. Mein Apothekenleiter war großzügig und ließ mich ab 9 Uhr los, um in Buckau bei meiner Familie nach dem Rechten zu sehen. Aber wie hinkommen? Die Straßenbahn fuhr nicht. Also zu Fuß.

Bereits an der Lübecker Str. standen protestierende Gruppen - Plakate zeugten davon. Am Boleslaw-Bierut-Platz war es schon ein Demonstrationszug. Er bewegte sich in Richtung Stadtmitte. Mir fiel ein Mann auf, der mit Megaphon auf einem LKW stand und zum Sturz der Regierung aufrief. Am Boleslaw-Bierut-Platz hatten sich inzwischen Tausende versammelt. Vor dem Gebäude des FDGB-Bezirksvorstandes in der Karl-Marx-Straße (HO-Gaststätte Ratswaage) sah ich bis dahin Unvorstellbares: man schmiß aus den Fenstern Bilder, Akten, Schreibmaschinen, Mobiliar und anderes auf die Straße. Was änderte man mit solchem Irrsinn denn daran, daß Partei oder Gewerkschaft in einigen Fragen versagt hatten?

Am Hasselbachplatz stand ein älterer Mann mit Blindenbinde auf einem LKW-Büssing, fuchtelte mit den Armen und schrie. Er verlangte, die Massen zum Gefängnis zu dirigieren. Neben ihm sah ich mit Karabinern bewaffnete junge Männer. Inzwischen bewegte sich alles zum Gerichtsgebäude. Plötzlich ein Auseinanderrennen der Menge. „Der Russe kommt", schrieen einige. Tatsächlich, ein T-34! Er hielt mitten auf dem Hasselbachplatz, drehte die Panzerkanone hoch - aber es fiel kein Schuß. Nach zehn Minuten fuhr er in die Hallische Straße, Richtung Strafvollzug. Danach traute ich mich wieder aus einem Hausflur heraus, in dem ich Schutz gesucht hatte und ging aus Neugier ebenfalls zum Gerichtsgebäude.

Auch hier flogen alle möglichen Sachen aus den Fenstern und wurden angezündet. Vor dem Gefängnistor brannte ein Feuer, und die Demonstranten versuchten das Tor mit einem Balken einzurammen. Hinter dem Gerichtsgebäude, an der Klinke, wurden Volkspolizisten verprügelt und ihnen die Uniformen heruntergerissen. Plötzlich fielen Gewehrschüsse. Dies war für mich das Signal, den Ort fluchtartig zu verlassen. „Denn: wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um." Monate später erfuhr ich, daß es tatsächlich Tote gegeben hatte.

Erneut am Hasselbachplatz angekommen, sah ich noch, wie zwei Demonstrationszüge - einer von der Parteischule mit dem roten Banner an der Spitze und der aus Buckau kommende - zusammentrafen. Danach begann eine mordsmäßige Schlägerei. Glücklicherweise wurde sie durch das Eintreffen eines weiteren Panzers unterbrochen.

In Buckau kam ich an der FDJ-Stadtbezirksleitung vorbei. Da ich hier Wohngruppensekretär war und jeden der „Hauptamtlichen" kannte, ging ich hinein. Überraschenderweise herrschte Ruhe. Nachdem ich in der Stadt erlebt hatte, wie man Funktionäre wegen ihrer Parteiabzeichen bedrohte und sie ihnen gewaltsam abriß, schlug ich vor, diese sicherheitshalber zeitweilig abzulegen. Außerdem nahm ich auf Bitte der Jugendfreunde vorübergehend sämtliche Stempel der Stadtbezirksleitung in Verwahrung.

Bei einem Anruf in der Apotheke hatte meine Mutter erfahren, daß ich in der Stadt unterwegs war und sich deshalb große Sorgen gemacht. Nun war sie sehr erleichtert, daß ich heil durch alle Randale gekommen war. Auch meine Frau, die im Kinderheim Reichelstraße arbeitete, hatte mehrfach telefonisch in der Storch-Apotheke nachgefragt und befand sich in heller Aufregung. Nun konnte ich sie beruhigen. Sie blieb dann über Nacht im Kinderheim, weil ihr der Heimweg zu gefährlich war.

Da ich Nachtdienst hatte, lief ich am Abend zur Apotheke zurück. Unterwegs traf ich auf sowjetische Streifen und Patrouillen. Sie ließen mich anstandslos passieren.

Vielerorts sah es aus, wie nach einer Schlacht. Und es war ja auch eine - gegen den Sozialismus. Ich möchte die damalige Situation und den Streik - denn damit fing es ja nachweislich am 16. Juni 1953 in Berlin an - keineswegs herunterspielen. Aber meine Auffassung vom Charakter der Ereignisse deckt sich weitgehend mit der von Pfarrer Schorlemmer, welcher sinngemäß sagte: Die Menschen waren mit der Art des Aufbaus des Sozialismus nicht einverstanden. Soziale Unzufriedenheit hat sich in politischen Unruhen entladen. Nach meiner festen Überzeugung setzte jedoch spätestens nach den ersten Streikaktionen eine Steuerung von außen ein, deren Hintermänner in Bonn und der „schwarzen Zentrale" Paderborn saßen. Es war schließlich seit langem ihr erklärtes Ziel, unseren jungen, noch ungefestigten Staat zu beseitigen.

Herbert Rasenberger


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