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Wir hatten sofort eine Gasse

(Halle)

 

Den 17. Juni 1953 erlebte ich als Schüler der Kfz-technischen Offiziersschule der KVP in Halle. Unser Kasernenalltag hatte wie stets mit 6 Uhr Wecken, Frühsport, Revierreinigen und Frühstück begonnen. Unterrichtsbeginn war 8 Uhr. Fünf Minuten vor 13 Uhr kam plötzlich der UvD1 in unseren Klassenraum und löste Alarm aus. Unser Lehrer wollte den Unterricht allerdings unbedingt bis 13 Uhr fortführen. Dann könnten wir immer noch zum Alarm gehen. Aber da wir den Klassenraum nicht verließen, kam der UvD zurück und wiederholte seine Aufforderung. Wir stürmten also los und glaubten an eine Übung. Nachdem wir mit Waffe und Marschgepäck angetreten waren, erklärte uns ein Vorgesetzter jedoch, daß in der Stadt Demonstrationen gegen Partei und Regierung stattfänden und wir zur Herstellung von Ruhe und Ordnung eingesetzt werden sollten.

Später erfuhr ich, wie es zur Auslösung des Alarms gekommen war. Einer von uns hatte sich auf dem Rückweg von einem Arztbesuch in der Stadt noch ein bißchen die Schaufenster angeguckt, bis ihn eine FDJlerin am Arm faßte. Er solle möglichst schnell verschwinden, wenn er noch heil in die Kaserne kommen wolle. Danach sah er selbst, daß auf den Straßen irgend etwas nicht stimmte, rannte in die Kaserne und meldete seine Wahrnehmungen dem Vorgesetzten. Da es so etwas bis dahin nicht gegeben hatte, glaubte ihm erst keiner. Aber schließlich holte der Schulleiter doch Erkundigungen ein und erhielt wohl auch einen Einsatzbefehl.

Auf dem Kasernenhof wies man uns dahingehend ein, daß wir zum Schutz der SED-Kreisleitung kommandiert würden und nur den Kolben der Waffe - ausschließlich zu unserem eigenen Schutz sowie zum Zurückdrängen der Leute - einsetzen sollten. Das Schlagen mit dem Kolben war nicht gestattet, und die Demonstranten durften auch keinesfalls beschossen oder anderweitig verletzt werden. Aber wir hatten ja ohnedies keine Munition. Danach wurde unser Zug auf einen LKW verladen und zur Kreisleitung gebracht, die sich in der Nähe des Hauptbahnhofs befand. Dort warteten wir stundenlang, ohne daß weitere Informationen gegeben wurden.

Am späten Nachmittag erhielt jeder fünf Schuß scharfe Munition, denn inzwischen eskalierten die Ereignisse. Wir hörten, daß die Bezirksleitung der SED gestürmt worden sei und einige Leute dabei waren, Akten auf die Straße zu werfen. Danach sollte unser Zug in das Gefängnis Kleine Steinstraße verlegt werden. Zunächst wurden wir ein Stück mit dem LKW gefahren, der aber bald durch die verstopften Straßen am Weiterkommen gehindert wurde. Wir saßen also ab, traten an und marschierten dann unter Führung eines Hauptmanns - des Parteisekretärs der Schule - in Richtung Gefängnis. Ich sah nur so viel, daß wir rechts und links von der Masse eingekreist waren. Unser Hauptmann gab das Kommando „Gewehr zur Hand". Das bedeutete: aufgepflanztes Bajonett nach vorn. Wir hatten sofort eine Gasse, denn eine Truppe mit Ge wehr zur Hand sah natürlich gefährlich aus. Danach kam der Befehl „Durchladen". Und obwohl wir keine Munition in der Waffe hatten - die erhaltenen fünf Schuß steckten wohlverwahrt in der Patronentasche - führten wir das Kommando wie auf dem Exerzierplatz aus. Es rasselte auch ganz schön laut, als unser Zug die Gewehrschlösser öffnete und wieder schloß.

Im Vorgebäude des Gefängnisses trafen wir auf die damalige Offizierskompanie der Schule. Ihr war es im Zusammenwirken mit anderen Einheiten gelungen, die aufgeputschte Menge wieder aus dem Gebäude zu verdrängen. Zuvor hatte sich folgendes zugetragen: das Gefängnis war durch eine unserer Schülerkompanien gesichert worden, die aber dem Druck der Straße nicht standhalten konnte. Die KVP-Angehörigen wurden entwaffnet und alle Gefangenen herausgelassen. Am nächsten Tag erfuhren wir, daß darunter sogar eine ehemalige KZ-Kommandeuse gewesen sein sollte, die danach auf dem Hallmarkt verkündet habe, daß sie nun bald wieder ihre geliebte SS-Uniform anziehen könne. Im Nachhinein erhielten der Kompaniechef und sein Politstellvertreter Zuchthausstrafen von 6 und 4 Jahren. Meines Wissens hätten sie aber gar nicht anders handeln können, da die Waffe nicht benutzt werden durfte und die Übermacht zu groß war.

Wir sollten nun vom Gefängnishof aus das Tor sichern, denn von draußen wollten sich erneut Menschen hereindrängen. Von ihnen wurde sogar ein Feuer entzündet, um das Tor abzubrennen. Unsere Leute schütteten Wasser nach draußen und versuchten zu löschen. Tatsächlich hielt das Tor erst mal stand. Im Gefängnis befanden sich noch sechs weibliche Häftlinge. Sie waren nicht weggegangen und versorgten uns später sogar mit Verpflegung. Wir wunderten uns, daß sie nicht auch geflohen waren. Aber sie meinten, daß der Spuk in einigen Tagen sowieso vorbei wäre und die anderen bald wieder drinsäßen. Ihnen dagegen hätte der Staatsanwalt versprochen, daß sie dann draußen wären. Und so kam es denn schließlich auch.

Um 19 Uhr wurde in Halle der Ausnahmezustand verkündet. Das hieß u. a., es durfte sich nach 20 Uhr niemand mehr auf der Straße aufhalten, der dazu nicht ausdrücklich berechtigt war. Außerdem war inzwischen vor unser Gefängnistor ein sowjetischer Panzer gerollt, und das hatte selbst die Brandstifter vertrieben.

Als ich nachts draußen Posten stand, sah ich, wie ausgebrochene Gefangene zurückgebracht wurden. Da sich die Bürger nach 20 Uhr in ihren Wohnungen aufhielten, blieben nur sie auf der Straße und wurden von den Sicherheitskräften wieder eingefangen.

Soweit ich mich erinnere, wurden wir am 19. Juni in die Kaserne zurückverlegt. Damit war die Alarmbereitschaft aber nicht aufgehoben, und mein Gewehr lag noch eine ganze Zeitlang neben mir im Bett. Wir hatten danach auch Betriebe zu sichern, um das Eindringen unbefugter Personen zu verhindern. In diesem Zusammenhang informierte man uns darüber, daß am 17. und 18. Juni auf dem Hallenser Bahnhof von Berlin kommende Leute in Schlosseranzügen und -kombinationen festgestellt worden waren, die wenig Ähnlichkeit mit Handwerkern hatten, aber offensichtlich die Situation in Halle anheizen sollten. In den Wochen nach dem 17. Juni übernahm unser Zug Sicherungsaufgaben in Bitterfeld, Wolfen, Bernburg und in den Chemiebetrieben der Region.

Von Angehörigen unseres Zuges erfuhr ich, daß in einem Dorf im letzten Moment eine Bluttat verhindert werden konnte. Als die KVP-Angehörigen dort eintrafen, waren irgendwelche Leute gerade damit beschäftigt, den Bürgermeister und eine weitere Person aufzuhängen.

Der normale Schulbetrieb wurde etwa am 20. Juli 1953 wieder aufgenommen.

Horst Schreiber


1 UvD - Unteroffizier vom Dienst


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