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Die rettende List

(Leipzig)

Juni 1953. Ich war 29 Jahre alt und Studentin im 1. Studienjahr der Pädagogischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig. Für die heutige Studentengeneration vielleicht ein Widerspruch. Aber damals gab es viele, die erst nach 1945 die Möglichkeit gehabt hatten, durch die Vorstudienanstalt, die Abendoberschule oder die Arbeiter-und Bauernfakultät zum Hochschulstudium zu gelangen, das übliche Alter eines Studienanfängers also längst überschritten hatten. Zu denen gehörte ich allerdings nicht. Ich hatte die Hochschulreife bereits 1941 in der Emigration in England erworben. Aber ich war damals der Meinung, es sei unverantwortlich, Geschichte zu studieren, anstatt in irgend einer Weise tätig in die Geschichte, in den weltweiten Kampf gegen den Faschismus, einzugreifen. Und als ich 1946 nach Deutschland zurückgekehrt war, gab es auch unmittelbar Wichtigeres zu tun, als zu studieren. So leistete ich mir diesen „Luxus" erst nach weiteren fünf Jahren.

Der Juni war, jedenfalls bei den Pädagogen, Praktikumsmonat. Es muß damals ein ziemlich langweiliges, wenig ereignisreiches Praktikum gewesen sein - ich erinnere mich weder an die Schule noch an die Klasse, in der wir es absolvierten. Das einzig Erwähnenswerte waren Diskussionen innerhalb unserer Praktikumsgruppe - zwei Studentinnen, drei Studenten - über die Beschlüsse des Ministerrates vom 11. Juni, mit denen einige Maßnahmen, die Ende Mai in Zusammenhang mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage der DDR getroffen worden waren, korrigiert wurden.

Auch der 17. Juni 1953 unterschied sich in nichts von den anderen Schultagen. Weder an der Schule selbst noch auf dem Weg zu unserer Fakultät fiel uns irgend etwas Ungewöhnliches auf. Erst in der Fakultät erfuhren wir, daß es in der Stadt Unruhen gäbe, und man forderte uns auf, in die Ritterstraße im Zentrum der Stadt zu gehen, in der sich randalierende Gruppen vor der Bezirksleitung der FDJ versammelt hatten, um beruhigend auf die Gemüter einzuwirken.

Das Bild, das sich uns in der Ritterstraße bot, war allerdings umwerfend. Nein, nicht wir wurden umgeworfen, dafür aber die Autos der Menschen, die dort wohnten oder arbeiteten. Im Haus der Bezirksleitung der FDJ waren die Fenster zerschlagen, Stühle und weitere kleinere Möbelstücke, auch Schreibmaschinen auf die Straße geworfen worden, die außerdem übersät war mit unbeschriebenen FDJ-Mitgliedskarten und anderen Dokumenten der Jugendorganisation. Die Telefonapparate baumelten an ihren Strippen aus den Fenstern. Vorhänge waren heruntergerissen und wurden von den Füßen der Anfeuernden und der Schaulustigen in den Schmutz getreten. Kurz, das Ganze bot ein Bild, das man heute als „Werk von Chaoten" - und zwar der schlimmsten Sorte - bezeichnen würde. Allerdings waren es gewiß keine „linken Chaoten", denen dieser Tage so gern jedes ungebührliche Verhalten in die Schuhe geschoben wird. Mit der Menge zu diskutieren, erwies sich als unmöglich. Niemand war bereit, uns zuzuhören, keiner in der Lage, uns zu erklären, was man mit all der Zerstörung bezweckte. Von einem „Volksaufstand" - etwa mit dem Ziel, das System der DDR zu verändern - war nichts zu spüren. Einer unserer jüngeren Kommilitonen, der sich wohl gerade mit Lenins Ausführungen über die Revolution beschäftigt hatte, meinte abschätzig: „Die wissen ja nicht mal, daß man bei einer Revolution zuerst die Bahnhöfe und die Postämter besetzen muß. Als ob man durch Zerstörung der FDJ-Bezirksleitung die Regierung stürzen konnte."

Plötzlich tauchten in diesem ganzen Durcheinander sechs Volkspolizisten auf. Ob sie bewaffnet waren, weiß ich nicht, aber offenbar hatten sie Schießverbot und hielten sich daran. Sofort wurden sie von einer johlenden, schimpfenden Menge eingekreist, gegen die sie völlig hilflos waren. Zu unserem Entsetzen stellte sich plötzlich sogar einer unserer Studienkameraden an die Spitze dieser Meute, beschimpfte wie sie die Polizisten und führte sie in das Gebäude der Bezirksleitung, wo sie dem randalierenden Mob völlig ausgeliefert sein mußten. Was war nur in unseren Freund gefahren? Aber da stand er bereits wieder freundlich lächelnd neben uns. „Was habt Ihr euch denn gedacht?" fragte er. „Ich kenne doch das Haus genau, und wahrend die anderen sich mit ihren Kumpanen berieten, führte ich die Genossen zu einem Hinterausgang und riet ihnen, sich schleunigst davonzumachen."

Auf einmal sahen wir von der Seite des Leipziger Marktes Rauch und Flammen. Dort ging gerade der Pavillon der Nationalen Front in Flammen auf - Rowdytum und Brandstiftung gehören nun mal zusammen. Und dann geschah nach meiner Erinnerung ein Wunder. Sicher hatten wir das Rattern gehört, aber in dem allgemeinen Lärm nicht darauf geachtet. Nur die ehemaligen Kriegsteilnehmer erkannten es. Auf dem Karl-Marx-Platz, wenige hundert Meter von unserem Standort entfernt, waren sowjetische Panzer aufgefahren. Jedenfalls trat plötzlich Ruhe ein. Es fiel kein Schuß. Aber die Straße vor uns, in der eben noch ein tolles Durcheinander geherrscht hatte, war plötzlich wie leergefegt. Zumindest von den „Aufständischen". Die kaputten Möbel und das Papier lagen nach wie vor herum, und mit uns standen noch einige andere Burger kopfschüttelnd und etwas verloren zwischen der FDJ-Bezirksleitung und dem gegenüberliegenden Universitätsgebäude.

Später erhielten wir die Erlaubnis, im Rektoratsgebäude Wache zu halten. Immer drei patrouillierten auf der Straße, wahrend die anderen im Haus blieben. Ich erinnere mich, daß eine Frau von der Straße zu uns gebracht wurde, die einen Packen Vorhänge unter dem Arm trug. Wir hatten sie schon am Tag gesehen. Jetzt zeigte sie uns unaufgefordert ihren Personalausweis. Sie stammte aus einem kleinen Ort in der Umgebung. Angeblich hatte sie gehört, daß in Leipzig „was los sei" und war deshalb in die Stadt gekommen. Sie habe mehrere Kinder und sei nach Einbruch der Dunkelheit nochmals zur FDJ-Bezirksleitung zurückgekehrt, weil sie aus den dort herumliegenden Gardinen etwas für ihre Kinder nähen wolle. Was davon stimmte - außer den Eintragungen im Personalausweis - weiß ich nicht. Wir behielten jedenfalls die Gardinen da und schickten die Frau nach Hause zu ihren Kindern.

Als ich zwei Tage später mit der Straßenbahn zu unserer Fakultät im Süden Leipzigs fuhr - vorbei am Ernst-Thälmann-Haus, dessen große Schaufensterscheiben restlos zerschlagen waren - äußerten sich viele Fahrgäste empört über diesen Vandalismus, der niemandem nutzte, aber der Gesellschaft hohe Kosten verursachte. Das war wohl die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung, nur leider - damals wie heute und auch schon früher - ist das immer eine „schweigende Mehrheit". Sie ist zwar nicht einverstanden, glaubt aber, indem sie sich aus allem heraushält, auch keine Verantwortung zu tragen.

Rahel Springer 


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