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Stadtfunksprecher

(Rostock)  

Von den Ereignissen des 17. Juni erfuhr ich aus dem Rundfunk. In Rostock - wo ich in jenen Tagen Leiter einer Praktikumsgruppe des 1. Studienjahres der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität war - blieb die Lage im allgemeinen ruhig und überschaubar. Hier und dort sah man mal Dreier- oder Vierergruppen lebhaft diskutierender Leute. Oft waren es Genossen, obwohl die Parteiabzeichen plötzlich an Schwindsucht zu leiden schienen. Offenbar hatten einige Karrieristen Schwierigkeiten, die Nadel durchs Revers zu stecken. Lediglich auf der Warnow-Werft - wo der Rote Stern und die DDR-Fahne von Rowdys heruntergerissen wurden und eine stürmisch verlaufene Versammlung mit einigen zentralen Funktionären zu verbaler Konfrontation führte - spitzte sich die Lage für kurze Zeit scharf zu. Sowjetische Marineinfanterie stellte dann mit umgehängten Maschinenpistolen, aber ohne Schußwaffeneinsatz, die durch eine randalierende Minderheit leicht ins Wanken gebrachte Ordnung wieder her. In anderen Betrieben der Stadt, wo die Arbeit meist nur für Stunden unterbrochen worden war, fanden Versammlungen statt. Größere Demonstrationen, gewalttätige Ausschreitungen oder Opfer hat es meines Wissens nicht gegeben.

In der Nacht vom 17. zum 18. Juni erhielten wir im Rathaus eine Einweisung in zeitweilige Sonderaufgaben. Ich weiß nicht mehr, ob es nur Parteimitglieder der SED betraf. Ich selbst hatte für einige Tage den amtierenden Oberbürgermeister Kaieck zu begleiten. Dabei blieb ich, wie alle übrigen Zivilisten, unbewaffnet. Da der landesweite Ausnahmezustand auch eine nächtliche Ausgangssperre vorsah, erhielt ich einen Sonderausweis mit deutschem und russischem Text, der mich zum jederzeitigen Betreten der Straße berechtigte. Im Laufe der Nacht fuhren wir dann mit einem PKW des Rates der Stadt - unterwegs durch sowjetische Marinestreifen hin und wieder kontrolliert - die kleinen und mittleren Betriebe Rostocks ab, um deren Sicherheit zu inspizieren. Überall herrschte völlige Ruhe. In keinem der VEB und kommunalen Unternehmen befanden sich - außer den Nachtwächtern, die wir zum Teil erst geduldig herausklingeln mußten - irgendwelche fremde Personen.

Am Vormittag des 18. Juni wurde ich als Sprecher für den Stadtfunk eingeteilt. Mit knappen Texten unterrichtete ich die Bürger über den Zusammenbruch des ersten großangelegten Versuchs, den begonnenen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus zu blockieren und das politische System der DDR zu beseitigen. Auch Abschreckung spielte dabei eine Rolle. So erinnere ich mich, daß ich mehrere Male eine Meldung verlas, die etwa so lautete: „Die zu lebenslanger Haft verurteilte frühere Aufseherin des KZ Ravensbrück Erna Dorn, die in Halle aus der Haft befreit und an die Spitze eines selbsternannten 'Bürgerkomitees' gestellt worden war, ist von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt und anschließend erschossen worden."1

Vielleicht noch ein Wort dazu, wie ich den 17. Juni damals empfunden habe. Aus Rostocker Sicht hielt ich die von DDR-Seite gebrauchte Vokabel „faschistischer Putsch" für überzogen. Von einem „Arbeiteraufstand" oder einer „Volkserhebung" hatte ich aber auch nichts feststellen können. Wer RIAS hörte - und das taten in diesen Tagen natürlich noch mehr Leute als sonst - konnte keinen Zweifel daran haben, daß der Westen gewaltig ins Feuer geblasen und auch personell kräftig die Strippen gezogen hatte. In Rostock kam das allerdings nicht zum Tragen, und auch die übrigen Mecklenburger waren da wohl kaum mitgegangen.

Dr. Klaus Steiniger


1 Lt. einer Veröffentlichung des Dietz-Verlages („Die Kommandeuse", Berlin 1993) ist die wahre Identität der Erna Dorn bisher ungeklärt. Fest steht, daß sie am 22.6.1953 vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Halle/Saale in einem Verfahren, in dessen Durchführung nach heutiger Erkenntnis Fehler auftraten, zum Tode verurteilt und am 1.10.1953 in Dresden hingerichtet wurde. Sofern sie in den
vorliegenden Zeitzeugenberichten erwähnt wird, geschieht das im Sinne damaliger subjektiver Erlebnisse und Informationen


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