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Man versuchte, das Tor einzurammen

(Leipzig)

 

Vorerst will ich unsere Einstellung zu diesem Staat DDR verdeutlichen. Dazu muß ich uns und unsere Ausgangssituation vorstellen.

Wir wohnten in Leipzig. Mein inzwischen verstorbener Mann: während des Rückzuges aus Frankreich schwer verwundet, über Jahre im Krankenhaus nachbehandelt, Eltern verstorben, Geschwister eigneten sich das bescheidene Erbe an, Arbeit im erlernten Beruf (Former in Stahlgießerei) nicht mehr möglich. Meine eigene Familie: in Chemnitz ausgebombt, krank, erholten sich meine Angehörigen davon nie wieder richtig. Nach verschiedenen Gelegenheitsarbeiten erfüllte ich mir meinen ursprünglichen Wunsch und erlernte den Schwesternberuf. Vorher war ich Kaufmannsgehilfin. Wir hatten Vertrauen zu unserem Staat, denn uns standen alle Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung offen.

An die Situation im 1. Quartal 1953 erinnere ich mich gut. Wir kauften noch auf Lebensmittelkarten ein. Oft wurde abends der Strom abgeschaltet, und man mußte sich an den ohnehin kurzen Tagen zum Feierabend mit Kerzenlicht begnügen. Durch Westsender und Flüsterpropaganda wurden Gerüchte verbreitet, daß dies oder jenes teurer würde. Es war so schon knapp.

Ich arbeitete damals in zwei Schichten in der Mitteldeutschen Kammgarnspinnerei als Betriebsschwester. Einige Tage vor dem 17. Juni durchforsteten angebliche DGB-Delegationen unseren Betrieb. Sie unterhielten sich leutselig mit den Arbeitern. Man begegnete ihnen überall. In diesen Tagen hörten wir im Radio, daß Regierungsmitglieder in Betrieben zur Situation sprachen, sich für Fehler entschuldigten und Verbesserungen versprachen. Ich dachte, in welchem Land gibt es das noch, daß eine Regierung ihre Fehler öffentlich eingesteht?!

Am 17. Juni war im Gesundheitswesen Zahltag. Damals holten wir unser Geld persönlich in der zuständigen Dienststelle ab. Mein Mann, der eine Umschulungswerkstätte in Eisenberg besuchte, mußte an diesem Tag wieder dorthin zurückfahren. Wir beschlossen, auf dem Weg zum Bahnhof in der „Pony-Diele" zu speisen, die sich Ecke Wächterstraße, in Nähe des Gefängniskomplexes, befand. Leider hatte die Gaststätte geschlossen.

Wir sahen aber, daß eine kleinere Menschenmenge gerade das Gefängnistor einzurammen versuchte und gingen näher heran. Bei der uns danach am nächsten stehenden Gruppe aufgebrachter Menschen handelte es sich scheinbar um Handwerker, die lautstark gegen ungerechte Steuern protestierten. Das Gebäude selbst bot einen chaotischen Anblick. Ein Mann - kein Arbeiter und auch nicht DDR-handelsüblich gekleidet - betätigte sich eben als Fassadenkletterer. Möglicherweise waren vor ihm bereits welche hinaufgelangt, denn aus den Fenstern des 1. Stockwerkes hingen Telefone. Polizeimützen wurden heruntergeworfen, ebenso Schreibmaterial.

Die Fenster des Erdgeschosses waren durch Rolladen geschützt. Mein Mann bemerkte, daß von innen mit einer Pistole auf die inzwischen großer gewordene Menschenansammlung gezielt wurde. Er sprang vor und versuchte zum Ausdruck zu bringen, daß nicht geschossen werden sollte. Sicherheitshalber stellte ich mich aber noch mit meinem gut erkennbaren Sechsmonatebauch vor ihn. In der Ferne - etwa aus Richtung der sowjetischen Kasernen - waren Geschoßdetonationen zu hören, vermutlich Warnschüsse. Kurz danach fuhr bei uns ein Mannschaftswagen mit Sowjetsoldaten vor, und vor dem Gefängnisgebäude trat Ruhe ein.

Auf unserem Weg zum Bahnhof begegneten wir danach einer großen Menschenmenge. Wahrscheinlich waren die meisten davon Arbeiter. Von einigen horten wir, daß sie Schaufenster eingeschlagen und Material angebrannt hatten. Wir sollten mitkommen. Als mein Mann sagte: „Ihr schadet euch doch nur selbst", wurden sie sehr zornig. Wahrscheinlich verdanken wir es nur meinem dicken Bauch, daß sie nicht über meinen Mann herfielen und es bei der wütenden Frage „Du bist wohl einer von denen?!" beließen.

Am und im Bahnhof herrschte ziemliches Durcheinander. Sowjetische Offiziere machten uns Platz, damit wir zu den Zügen gelangen konnten. Junge Arbeiter, offenbar vom Bau, trugen einen der ihren auf einer Trage und riefen sinngemäß: „Der Arbeiter- und Bauernstaat hat einen Arbeiter erschossen". Ein sowjetischer Offizier feuerte seine Pistole in Richtung Hallendecke ab. Aber wir beide kamen unbehelligt zum Zug und ich anschließend nach Hause.

In der Mitteldeutschen Kammgarnspinnerei wurde die Produktion nicht gestört. An einem der nächsten Tage fand eine Betriebsversammlung statt, auf der die Kollegin Topfer vom FDGB1-Bundesvorstand sprach. Anschließend forderte unser Werkleiter die Belegschaft zur offenen Meinungsäußerung auf und versprach, daß keine Repressionen zu befurchten seien. Da meldete sich ein Betriebshandwerker und verlangte eine andere Regierung. Es war bekannt, daß er Westverwandtschaft: hatte. Später erzählte man sich, der Werkleiter habe Wort gehalten und den Kollegen gewarnt, so daß er rechtzeitig seine Verwandten aufsuchen konnte.

Eine Zeitlang herrschte in Leipzig noch Ausnahmezustand. Ab 22 Uhr bestand Ausgehverbot.

Damals wie heute habe ich den Eindruck, daß die 1953 in der DDR bestehenden Schwierigkeiten zwar für große Teile der Bevölkerung belastend waren, von der Regierung jedoch bereits vor dem 17. Juni erkannt und korrigiert wurden. Nach Einleitung des Neuen Kurses gab es keinen Grund mehr für Streiks oder Protestaktionen und für Ausschreitungen sowieso nicht. Aber der Tag X war wohl schon angeschoben worden und durfte unter keinen Umstanden einfach im Sande verlaufen. Wer an den Ereignissen des 17. Juni 1953 wirklich Interesse hatte, bewiesen sehr bald die heuchlerischen Aktionen von BRD-Seite, die sich auch in der Gegenwart fortsetzen und nun die nachträgliche Verunglimpfung der DDR bezwecken.

Vielleicht kann man nach alledem ja sogar ein wenig verstehen, daß wir unsere Fehler seit damals nie wieder so öffentlich zugegeben haben? Ich schreibe absichtlich „wir", obwohl ich nie SED-Mitglied war.

Eleonore Welz


1 FDGB - Freier Deutscher Gewerkschaftsbund


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