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Ich sprach mit Wilhelm Pieck

 

Am 15. April 1952 zog ich, nach freiwilliger Bereitschaftserklärung, in die Kaserne des Wachbataillons für Staatssicherheit in Halle ein. Meine Verpflichtung lautete auf zwei Jahre (viereinhalb wurden daraus).

Am nächsten Tag hatten wir zwei Stunden Politunterricht, den der Politoffizier unseres Zuges, Kommissar B., durchführte. Da er an meiner Mitarbeit erkannte, daß ich bereits politische Kenntnisse besaß, forderte er mich auf, eine Zusammenfassung des behandelten Themas vorzunehmen. Das tat ich auch und gestattete mir dabei die zusätzliche Bemerkung, daß an diesem Tag, dem 16. April, der Geburtstag des ermordeten Arbeiterführers Ernst Thälmann sei, dies aber weder im Politunterricht, noch an einer Wandzeitung der Kaserne - welche ich übrigens vollkommen vermisse - erwähnt werde. Kommissar B. bedankte sich für meine Ausführungen. Dann begann die Mittagspause. Kaum war sie beendet, als der UvD (Unterführer vom Dienst) in unser Zimmer kam und mir mitteilte, daß ich mich sofort beim Politvertreter des Bataillons melden solle. Mir rutschte fast das Herz in die Hose. Aber der Politstellvertreter begrüßte mich höflich, unterhielt sich ungezwungen mit mir über meine bisherige Entwicklung und kam dann auf den Grund meiner Anwesenheit zu sprechen. „Sie wissen, daß unsere Dienststelle erst im Aufbau ist und da haben wir es noch nicht geschafft, eine Wandzeitung auf die Beine zu stellen.“ Er habe aber meine im Politunterricht geübte Kritik verstanden, und nach meiner bisherigen Entwicklung sei ich der richtige Mann für die Wandzeitungsarbeit. Ich solle mit dem Tischler der Kaserne eine Wandzeitung bauen und immer für Aktualität sorgen. Er werde den Partei- sowie den FDJ-Sekretär beauftragen, mir jede Unterstützung zu geben. Meine Zimmergenossen hatten unterdessen gespannt gewartet, wie es mir ergangen wäre. Nachdem ich berichtet hatte, brach schallendes Gelächter aus, und schnell war die Sache im Zug herum- Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!

Pfingsten 1952 hatten wir unseren ersten größeren Einsatz. Wir fuhren zur Absicherung des IV. Parlaments der FDJ nach Leipzig. Unser erster Einsatzort war der Flugplatz Mockau, wo eine Segel- und Modellflugschau stattfand. Mit einem weiteren Genossen erhielt ich den Befehl, vor dem Eingang zur Flughafengaststätte Aufstellung zu nehmen. Weiter nichts. Nachdem wir einige Zeit dort gestanden hatten, ging die Tür auf und es kamen ein paar Zivilisten heraus, die sich nach rechts und links wendeten und die Gegend beobachteten. Das war für mich etwas Neues. Kurz danach öffnete sich die Tür wieder, und plötzlich stand unser erster Arbeiterpräsident. Wilhelm Pieck, vor uns. Ich hatte mich schnell gefangen und wollte ihm Meldung erstatten. Er winkte jedoch ab, reichte mir die Hand zur Begrüßung und unterhielt sich kurz mit mir über Herkunft, Dienst in der Einheit und eventuelle Probleme. Dann verabschiedete er sich wieder per Handschlag - denn seine Begleiter drängten schon - begrüßte noch den anderen Genossen und schloß sich seinen Begleitern an. Ich war mächtig stolz. Aber dann kamen die Gedanken: „Vor kaum drei Jahren hast du dich darüber aufgeregt, daß der Kommunist Wilhelm Pieck Präsident der neu gegründeten DDR wird1, und nun begrüßt er dich wie seinesgleichen.“ Ich tat ihm heimlich Abbitte.

Am Abend diesen Tages sprach Wilhelm Pieck im Leipziger Filmtheater „Capitol“ zu den Delegierten des Parlaments. Der Saal hätte um ein Mehrfaches größer sein können. Es waren Lautsprecher nach draußen gelegt, aber die Mehrzahl der Jugendfreunde wollte Wilhelm Pieck auch sehen. Wir waren eingesetzt, um die heranströmenden Massen aufzuhalten, sonst hätte es im „Capitol“ eine Panik gegeben. Der Andrang verstärkte sich, mit Koppelgriff bildeten wir eine Kette. Plötzlich riß ein Koppel, und ein paar Genossen fielen hin. Aber sie waren mit Hilfe von Jugendfreunden schnell wieder oben. Es gab keine gewaltsamen Auseinandersetzungen oder bösen Worte. Die Jugendlichen wollten doch nur ihren Präsidenten begrüßen. Über Lautsprecher wurden sie aufgefordert, von weiterem Gedränge abzusehen.

Am nächsten Tag sicherten wir die große Demonstration der FDJ ab. Alles verlief friedlich, und für mich war es ein tolles Erlebnis.

Im August 1958 fand in Halle das III. Pioniertreffen statt. Ich gehörte inzwischen der Deutschen Volkspolizei an. Wir waren viel im Einsatz, und es klappte alles vortrefflich. Im gesamten Stadtgebiet galt für die Zeit des Treffens das Tempolimit 30. Es gab auch keinerlei ernsthafte Vorkommnisse oder Unfälle. Die Anwohner hatten die Straßen der Stadt mit Fahnen, Wimpeln und Girlanden festlich geschmückt. Es war eine Freude, das zu sehen und die Anteilnahme der Bevölkerung zu spüren.

Ein Höhepunkt war die Einweihung des Denkmals für den „Kleinen Trompeter“ am Riveufer, das aus diesem Anlaß in Fritz-Weineck-Ufer umbenannt wurde. Fritz Weineck war Trompeter im Spielmannzug des Rotfrontkämpferbundes Halle gewesen und am 13. März 1925 bei einer Wahlkundgebung des Präsidentschaftskandidaten Ernst Thälmann von einem Polizeioffizier erschossen worden. Mit ihm kamen neun weitere Arbeiterinnen und Arbeiter ums Leben.

Ein weiteres eindrucksvolles Ereignis war die Pionierdemonstration in der Innenstadt von Halle. Es war ein schöner Anblick. Aber da marschierten unter anderem auch die Offizierskadetten der Kadettenschule Naumburg. Schüler ab dem 12. Lebensjahr (oder noch jünger) trugen die Uniform der NVA, auf dem Kopf Käppis. Nur Waffen hatten sie nicht. War so etwas notwendig? Diese alte monarchistische Überlieferung in unserem, den Sozialismus anstrebenden Staat einzuführen, scheint mir noch heute unverzeihlich. War das ein Machwerk Walter Ulbrichts, oder wer trug Verantwortung? Eine ebensolche Fehlkalkulation war der fast zur gleichen Zeit gegründete „Dienst für Deutschland“, eine Organisation, die auf Freiwilligkeit basierte. Mädchen und Jungen wurden in Barackenlagern untergebracht, einheitlich gekleidet und an Aufbauschwerpunkten eingesetzt. Beides wurde schnell wieder abgeschafft. Es ist darüber nichts in der Geschichtsschreibung der DDR zu finden. Nur gut, daß man solche argen Fehler rechtzeitig erkannte und ausmerzte.

Mit Beginn des Jahres 1959 wurde ich als ABV (Abschnittsbevollmächtigter) im Halleschen Stadtteil Glaucha, einem traditionsreichen Arbeiterbezirk, eingesetzt. Es war ein sehr schönes Arbeiten. Viele der alten klassenbewußten Arbeiter wohnten hier. Aber ich erhielt immer wieder davon Kenntnis, daß in Zügen nach Berlin auch Personen aus meinem Abschnitt gestellt wurden, die optische Geräte, wertvolles Porzellan oder andere Wertsachen bei sich hatten, um diese nach Westberlin zu transportieren, wo sie „harte Westmark“ dafür erhielten. Da sich die Wirtschaft der DDR kaum noch vor dem Ausverkauf retten konnte, wurde damals festgelegt, daß z. B. optische Geräte nur noch gegen Vorlage des Personalausweises der DDR verkauft werden durften. Diese Käufe wurden registriert, um den Schwarzhandel nach Westberlin zu unterbinden. In drei Fällen waren es Bewohner meines Abschnittes, die in dieser Hinsicht gegen die Gesetze der DDR verstießen. Einer hatte sich Kupferdraht um den Leib gewickelt, und zwei andere Tannengrün und Blumen mit Kupferdrähten zu Kränzen gebunden, da sie angeblich zu einer Beerdigung nach Westberlin wollten. Für wirklich Trauernde waren solche Kontrollen pietätlos, aber auf Grund der Vorkommnisse unumgänglich. Denn das Buntmetall wurde unserer ohnehin stark strapazierten Wirtschaft entzogen und in Westberlin verschoben. Die Polizeiberichte von damals belegen, daß dies keine Einzelfälle waren und der Volkswirtschaft daraus gewaltiger Schaden entstand.

Doch auch in anderer Hinsicht verursachte uns die offene Grenze zwischen dem Demokratischen Sektor Berlin (DDR) und den drei Sektoren der westlichen Alliierten große Probleme. Ich kann heute keine Zahlen mehr nennen, aber immer öfter geschah es, daß ich morgens bei Dienstbeginn Bescheid erhielt, daß wieder Bewohner meines Abschnittes die DDR illegal verlassen hatten. Und oft genug waren es hervorragende Fachkräfte und Spezialisten, die schwer oder zunächst gar nicht zu schließende Lücken in ihren bisherigen Tätigkeitsbereichen hinterließen. Erinnern kann ich mich noch an einen Chirurgen aus der Universitätsklinik Halle, der in meinem Abschnitt wohnte. Eines Tages erhielten wir von der Klinik Bescheid, daß dieser Arzt mehrere Tage nicht zum Dienst erschienen sei. Die Überprüfung ergab, daß er mit Familie über Westberlin in der BRD gelandet war. Auf ähnliche Art verschwanden eine alleinstehende Krankenschwester und ein Spitzendreher der Maschinenfabrik Halle mit seiner ganzen Familie. Auch vom VEB Neontechnik kam der Bescheid, daß sich ein wichtiger Facharbeiter aus der Piacrylverarbeitung (ein durchsichtiger Werkstoff für Beleuchtungsanlagen) nach der BRD abgesetzt hatte. Es waren allein aus meinem Abschnitt eine ganz beträchtliche Anzahl von Personen, die die DDR illegal verließen, und im DDR-Maßstab hatte das verheerende Folgen.

Am 12. August 1961 begann mein Jahresurlaub, am 14. August wollte ich mit meiner Familie zum Zelten fahren. Aber in den Morgenstunden des 13. klingelte es bei mir, und ich wurde unverzüglich zur Dienststelle beordert. Ich war aus dem Schlaf geholt worden und hatte noch keine Nachrichten gehört. Auf der Dienststelle erhielt ich dann Kenntnis von der Schaffung des Schutzwalles um den Demokratischen Sektor Berlins. Ich muß auch heute noch ehrlich sagen, daß ich diese Maßnahme voll begrüßte. Denn genug Schaden war uns bis dahin zugefügt worden. Natürlich fiel die Resonanz auf diese Maßnahme unterschiedlich aus. Viele DDR-Bürger schimpften darüber - meistens deshalb, weil nun die persönliche Verbindung zu Verwandten und Bekannten in der BRD bzw. Westberlin unterbrochen war. Es gab aber auch eine Menge Zustimmungserklärungen. Mit den beiden Wohnparteiorganisationen und den Ausschüssen der Nationalen Front im Wohngebiet berieten wir darüber, wie wir den Bürgern schnellstens die Gründe für den „Mauerbau“ klarmachen konnten. Aber auch vor der eigenen Familie machten die Auseinandersetzungen nicht halt. Obwohl wir keine Verwandten in der BRD hatten, war eine enge (inzwischen verstorbene) Verwandte über dieses Geschehen sehr erbost und riß mir das Parteiabzeichen der SED von der Zivilkleidung. Erst nach einer längeren Auseinandersetzung konnte ich ihr Verständnis wecken. So war die Zeit nach dem 13. August doch sehr schwer. Aber wo wäre die DDR geblieben, wenn wir diese Maßnahme nicht durchgesetzt hätten? Und wie hatte die Sowjetunion reagiert?

Zu einem anderen Problem der DDR. Besonders die durch Bombenangriffe stark zerstörten Städte brachten in der Nachkriegszeit viele schier unlösbare Schwierigkeiten mit sich. Wir begrüßten damals den Aufbau der Wohnstadt Halle-Neustadt. Hier wurden innerhalb kürzester Zeit Zehntausende Wohnungen gebaut. Daß die Wohnungen und ihr Umfeld bei diesem Tempo teilweise Qualitätsmangel aufwiesen, war kaum zu verhindern. Aber im großen und ganzen waren die Menschen, die dort einzogen, zufrieden. 1975 übernahm ich die Wohnungskommission unserer Dienststelle und konnte vielen Genossen helfen, die arge Wohnungsprobleme hatten. Sie waren mir damals alle dankbar dafür. Als 1979 in meiner bisherigen Wohnung durch Ausfall des Schornsteins ernsthafte Mängel auftraten, erhielt auch ich eine Neubauwohnung: 68 qm, drei Zimmer, Küche, Bad, Korridor und Balkon, das war schon was. Wir fühlten uns wohl in dieser Wohnung. Die vorhergehende war zwar größer, aber sehr kalt gewesen. In der Miete von 101 Mark waren enthalten: Warm- und Kaltwasserverbrauch, Heizung, Einbauküche und Einbaukleiderschrank. Doch war das vom Staat nicht zu sozial gedacht? Einige Bekannte protzten damit, und ich konnte mich persönlich davon überzeugen, daß sie unter fließend Warmwasser abwuschen und täglich badeten - jedes Familienmitglied seine eigene Wanne voll Wasser. Glücklicherweise waren nicht alle so, sondern hatten mehr Verstand. Im allgemeinen war man dem Staat und der Partei dankbar für das beschlossene Wohnungsbauprogramm.

So weit zu mir. Ich hatte das Glück, zur richtigen Zeit geboren zu sein. Um aktiv am faschistischen Krieg teilzunehmen, war ich noch zu jung und zur „Wendezeit“ alt genug für den Vorruhestand, so daß ich meinen Dienst nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland ausüben mußte.

Zu einem letzten Thema. Meine beiden Kinder, Tochter und Sohn, suchten mit Beginn der 10. Klasse eine Lehrstelle. Ein schriftliches Lehrstellenangebot wurde jedem Schüler in der Schule ausgehändigt. Dieses Angebot war sehr umfangreich. Trotzdem war es nicht immer möglich, daß jeder seinen Traumberuf bekam. Meine Tochter wollte Köchin werden. Doch sie kam zu spät, die Stellen waren schon vergeben. Nach einer Besichtigung der Pumpenwerke in Halle entschied sie sich für den Beruf der Kernformerin. Mit Abschluß der 10. Klasse erhielt sie die Lehrstelle und beendete die zweijährige Lehre erfolgreich. Einige Jahre arbeitete sie in diesem Beruf und entschloß sich dann, Kranfahrerin zu werden. Nach entsprechender Prüfung fuhr sie nun einen Gießkran in der Eisengießerei. Eine harte Arbeit, aber es machte ihr Spaß - bis man sie 1991 nicht mehr gebrauchen konnte. Der Betrieb baute Arbeitskräfte ab, und meine Tochter wurde mit einem großen Teil der Beschäftigten arbeitslos.

Mein Sohn hatte den Wunsch, Heizungsmonteur zu werden. Auch hier klappte es nicht. In den Pumpenwerken wurde er zum Zerspanungsfacharbeiter (Dreher, Fräser, Hobler) ausgebildet. Der Beruf gefiel ihm, aber nach seiner Einberufung zum Wehrdienst verpflichtete er sich auf zehn Jahre als Berufsunteroffizier. Später wechselte er zur Transportpolizei und versah dort seinen Dienst bis zum Ende der DDR.

Ich wollte an diesen Beispielen aus meiner Familie erläutern, daß jeder junge Mensch in der DDR seine Lehrstelle erhielt, wenn es auch nicht immer die gewünschte sein konnte. Klappte es gar nicht mit einer Lehrstelle, setzte sich die Schule gemeinsam mit dem Berufsberatungszentrum für den Jugendlichen ein und vermittelte ihm eine Arbeitsstelle. Arbeitslos wurde keiner.

Günter Klein


1 Spurensicherung I. Wege in die DDR. GNN-Verlag Schkeuditz. ISBN 3-89819-016-1


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