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Leben in Wachtendorf

 Für uns war Krieg die selbstverständlichste Sache der Welt. Meinen Onkel Heinz habe ich nur ein einziges Mal im Leben gesehen, Onkel Rudi sah ich vielleicht dreimal, an Onkel Willi habe ich mehr Erinnerung. Alle drei waren Soldaten und hinterließen mir außer drei Tanten auch einige Cousins und Cousinen.

Aber noch etwas hinterließ Onkel Rudi: Einen Brief von der Front an seine Mutter, den uns die Oma vorlas und von dem nur ein einziger Satz ganz fest verwurzelt in meinem Gedächtnis geblieben ist: „... Ich sah, wie viele meiner Kameraden durch Genickschuß fielen!“ Mir, dem Achtjährigen, schien schon damals, daß mein Onkel von seinem vorauszusehenden Schicksal schrieb, zumal man im Volke sprach: „Die ‚Kettenhunde’ knallen jeden deutschen Soldaten ab, der nicht schnell genug in die vordersten Linien kommt!“ Der nächste Brief von Onkel Rudi war von jemand anders geschrieben.

Doch der Krieg ging weiter, wir warteten in den Kellern auf die Wunderwaffe. Die Fliegeralarme waren Tag und Nacht. Einmal waren wir mit Mutter in Leipzig einkaufen und rannten nach der Entwarnung aus dem Bunker durch die brennende Stadt zum zerbombten Bahnhof. Zu meinem 9. Geburtstag erhielt ich von den Briten und Amis ein ganz besonderes Geschenk: DRESDEN! Am 7. März 1945 sahen wir aus 20 Kilometer Entfernung den hellen, lodernden Feuerschein der brennenden Großstadt Dessau, wo unsere Oma wohnte, die ihr Hinterhaus rettete, indem sie die Stabbrandbomben aus dem Fenster warf und die eben begonnenen Brände löschte. Silberstreifen und Flugblätter warfen die Amis auch über uns ab, worauf stand: „Bitterfeld das große Nest, hol’n wir uns zum Osterfest!“

Ganz in der Nähe, rund um Bitterfeld und zwischen Bitterfeld und Wolfen, lagen Barackenlager. Im Lager Hermine waren Italiener, Franzosen, Holländer und andere. In der Marie waren Polen, Tschechen und andere. Und dann war da noch das Russenlager mit dem zweifachen elektrischen Stacheldraht drumherum und den Fleischerhunden. Wir fürchteten uns vor den Russen.

Nun kam der erwartete Bombenangriff. Wir waren aus der Greppiner Schule in den achteckigen Betonbunker am Rathaus gerannt, dann ging das Erdbeben los. Wir zitterten, manche schrieen, Lehrer versuchten uns zu besänftigen. Endlich war Entwarnung. Rundum standen die Häuser noch. Wir Wachtendorfer liefen alle nach Hause, schnell. Unterwegs Bombentrichter an Bombentrichter. Aber dann Wachtendorf, nicht ein Haus kaputt, die Leute lebten alle noch. Nur in den Angelteich waren Bomben gefallen, Karpfen schwammen oben. Aber das schöne neue Kraftwerk Thalheim, unser Stolz, war futsch. Später erfuhren wir: Die Kraftwerke der Filmfabrik und Farbenfabrik und der dortige Rüstungsbetrieb hatten auch Bomben abgekriegt. Aber ansonsten waren alle Fabriken heilgeblieben und Bitterfeld und Wolfen auch. Das wunderte uns sehr, daß die Amis so dämlich sein sollten und alle Bomben daneben gegangen sind. Wußten wir und andere doch von Dessau und überhaupt, daß die Bomben überall genau die Häuser getroffen haben. Aber bald hörten wir, daß doch Menschen zerfetzt worden waren: Das Russenlager war völlig zertrümmert und die Russen alle, alle futsch. Die anderen Lager mit den anderen Gefangenen waren heil.

Bald wieder was anderes. Flieger und Bomben kamen nun nicht mehr. Dafür pfiffen immerzu, den ganzen Tag lang, Granaten über uns hinweg. Weiße Fahnen hatten die Frauen schon genäht. Wir waren alle im Keller, kommt auf einmal laut rufend die Frau Maischak: „Frau Keechler, de Fahne, de Fahne!“ Fragt unsere Mama: „Ja, welche denn?“ Es war nämlich in der Zeit von Adolfs Geburtstag. Sagt Frau Maischak: „De weiße!“ Die Amis stiegen gleich über die Zäune mit MPi. Draußen fuhren Panzer vorbei.

Es war der bunte Blütenmonat Mai, die Leute brachten ihre Gärten in Ordnung, die Bauern pflegten ihre Felder. Wir Kinder mußten nicht zur Schule, und in den Fabriken wurde nicht gearbeitet. Manche Häuser waren von Amis beschlagnahmt und bewohnt. Man sah sie in den Fenstern sitzen, die Beine baumelten zum Fenster raus. Manches deutsche Fräulein hatten die beschlagnahmt, andere gingen freiwillig zu den Amis, von diesem und jenem die Schwester. Wir Jungens hofften auf Kaugummis, aber die Amis waren geizig. Also lasen wir Kippen auf und drehten uns von dem Kippentabak Zigaretten.

Zu dieser Zeit waren wir mit der Mutter in Greppin bei Tante Hilde. „Wollt ihr mal Russen sehen?“ Wir gingen durch Greppin und die Randsiedlung zum Wasserwerk, dann durch die grünen, blühenden Muldewiesen und auf der Brücke über die übelst stinkende Leine, in der schon ewig Industriebrühe floß. Etwa fünf Kilometer waren es bis zur gesprengten Brücke am Wehr. Die Mulde ist ein reißender Fluß mit vielen Strudeln. Große überhängende Weiden, Pappeln, Erlen, Eichen standen am Ufer und allerhand Hecken und Gebüsch. Angelangt, sahen wir einige Männer ein Seil in Händen halten. Es spannte über die Mulde. Auf einem Floß aus Balken waren drei Menschen, die hinübergezogen wurden zur anderen Seite. Da waren Russen in lässigen Uniformen, vielleicht fünf oder sechs, auch Weiber. Und die Russen zogen an dem Seil, halfen den Deutschen über den Fluß. Wir sahen keine Maschinenpistolen und auch keine schweren Peitschen, womit man uns nach Sibirien treiben wollte. Unser Erstaunen wurde noch größer, als die Russen den drei Männern vom Floß halfen, sie nicht schlugen und fesselten. Dann stiegen drüben drei andere Männer auf das Floß, die rüber wollten zu uns, auf die amerikanische Seite. Einer hatte einen Rucksack. Nun zogen die deutschen Männer auf unserer Seite an dem Seil. Plötzlich schrie einer: „Alle in Deckung, die Amis kommen!“ Ich warf mich ins hohe Gras und schaute nach oben, dachte, die Tiefflieger kommen wieder. Dann hörte ich den Motor eines Flitzers und dann die MPi und kroch noch tiefer ins Gras. Dann war wieder alles vorbei. Das Floß war etwas abgetrieben. Der Mann mit dem Rucksack lag darauf; tot! Die anderen zwei waren wahrscheinlich in der Mulde ersoffen. Die Russen von drüben waren erst mal weg. Die drei Männer bei uns sagten, daß die Amis das hier schon ein paar Mal gemacht hatten.

Der für mich in meinem Leben überhaupt wichtigste Mann kam einige Monate nach der Befreiung aus amerikanischer Gefangenschaft zurück: mein Vater. Wir waren die glücklichste Familie in der Verwandtschaft und auch in der Straße. Vater aber durfte zunächst nicht wieder als Maler arbeiten, sondern beim Wiederaufbau der Eisenbahnbrücke über die Mulde.

Meine Eltern wohnten mit meinem Bruder und mir in Wachtendorf direkt am Wasser, an der „Grube“, die wir auch „alte Stinkgrube“ nannten. Als die Grube Johannes ausgekohlt war, hatte man sie teilweise mit Abraum verfällt und darauf die Siedlung Wachtendorf gegründet, benannt nach einem im 30jährigen Krieg zur Wüstenei gewordenen Dorf. 1936 waren die Häuser fertig und Bäume, vorwiegend Pappeln und Robinien, gepflanzt worden. Genau so alt, wie die Häuser und Bäume immer waren, war auch ich. Ein Wall trennte das schmale Ende der „Grube“ nach Wolfen ab. Darinnen lag eine Rohrleitung mit mehreren Abzügen. Abwasser der Filmfabrik. Anfangs konnte man im anderen Teil der „Grube“ baden oder Schlittschuh laufen. Während des zweiten Weltkrieges steigerte man die Produktion von Kunstfasern immer mehr. Somit kamen immer mehr giftige Abwässer in die „Grube“. Wenn man da reinwatete, konnte man schlimme Hautausschläge kriegen mit häßlichem Grind. Der Wasserspiegel stieg allmählich immer mehr an. Teile des Waldes, unseres Busches, wurden überflutet, die Bäume gingen ein. Landflächen, wo Kinder gespielt, Jungens ihre „Buden“ gebaut, Jugendliche und Erwachsene des Sommers Decken zum Liegen ausgebreitet hatten, waren nun versaut.

Aber eines schönen Tages ging unsere Mama mit uns zum Baden in die „Kohlengrube“. So entdeckte ich das Paradies! Das Wachtendorfer Ufer war entstanden, indem man den Abraum per Wasserstrahl aus Loren in die ehemalige Grube Else spülte. Nur langsam und ohne Gefahr kam man in tieferes Wasser. Gelber feiner Sand war das Ufer, bewachsen mit wenigen Steppenpflanzen und wenig dürrem Gras. An den umliegenden Steilhängen und Steilufern Uferschwalben in Massen, auf dem Bauche liegend, konnte man von oben die Nester erreichen. Aber an manchen Stellen war es gefährlich, besonders an der „Schwarzen“, einer zwei Kilometer langen Steilwand aus Kohle. Rechts, wo das Wolfener Ufer begann, stand ein großer Kohlenbagger im Wasser. So hatten die Schwimmer einen wunderschönen Sprungturm und wir Nichtschwimmer einen romantischen Aussichtsturm.

Das Kraftwerk Thalheim, neu und modern, pumpte Wasser aus der „Kohlengrube“, führte aber das gebrauchte Wasser in einen Bach ab. Da war ein Teich dabei, da gab es viele Arten Lurche und Kriechtiere, Gebüsch, Gestrüpp, Erlen, Hasel, Rosen, Schlehen, Gras und Moos; ein Mini-Urwald-Klein-Yukatan. Hinter der Werkbahnstrecke die Straße Wachtendorf - Thalheim, eine Süßkirschenallee, dahinter die Schonung und in dieser Schonung ein Paradies für die Angler aus Wachtendorf und Greppin: eine ehemalige Tongrube mit klarem Wasser, Angelteich und Karpfenteich genannt, mit vielen Schlingpflanzen, vom Uferrand an sofort gefährlich tief. Größte Karpfen und Teichmuscheln, so groß wie Handteller!

Paradiese für Kinder und Erwachsene mitten in der Industrielandschaft, entstanden durch die Industrie! Aber die Industrie, die IG-Farben, schuf nicht nur Paradiese, sondern auch Sprengstoffe und Giftgase und den Krieg. Unser Angelteich war von den Bombentrichtern viel größer geworden.

Gleichzeitig mit Vater waren die Russen gekommen. Sie machten überall Ordnung, die Filmfabrik arbeitete wieder, und die Giftbrühe floß auch wieder. Für uns waren sechs Monate „Ferien“ vorbei, wir mußten zur Schule. Wir schwänzten erst mal viel Schule und bildeten Banden. Die neuen Lehrer hatten viel Ärger mit uns. Es war auch die Zeit der Not: Ähren lesen, Kartoffeln stoppeln; Erbsen, Mohn, Leinsamen, Möhren, Rüben stoppeln. Kartoffelkäfer sammeln: 1 Käfer - 1 Pfennig. Steine putzen. Bau auf, bau auf! Aber es ging ernstlich aufwärts, und es machte Spaß!

Im kalten Winter 1947 wurde die warme Jauche der „Grube Johannes“ kalt, sie fror zu. Wir konnten aufs Eis und fällten in den schon zu Nazizeiten von der Giftbrühe überfluteten Waldteilen die toten Pappeln. Ich allein fällte vierzehn Stück und schleppte diese in unseren Garten. An der „Kohlengrube“ aber, der „Else“, senkte man mit starken Pumpen den Wasserspiegel um drei Meter ab. Danach forderte man mit aller Technik wieder beste Braunkohle. Mein Bruder und ich förderten ebenfalls Kohle: mit Hacke, Schippe, Sieb. Hätte uns Herr Willi Pahl nicht zurückgezogen, wären wir von der „Schwarzen Wand“ verschüttet worden. Unsere Eltern transportierten jeweils drei Säcke Kohlen mit dem Rodelschlitten heim. Wir kellerten ca. 180 Zentner der schwarz und speckig glänzenden Braunkohle ein.

Als der lange, harte Winter vorbei und die Kohle-Förderung zu Ende war, sahen wir trotz des nun niedrigeren Wasserstandes eine viel größere Kohlengrube. Die „Schwarze“ war weg. Zwei Inselreihen überragten das Wasser. Leider stand der einmalige Sprungturm, der alte Bagger, nun auf dem Trockenen. Dafür hatten wir mit unseren Booten jetzt eine West-Süd-West-Passage zur Förstergrube im Stakendorfer Busch, eine Art Bosporus von unserem Mittelmeer zum Schwarzen Meer. Bei viel Glück konnte man die Schlei’ im Seekraut der Inseln mit der Hand fangen. Auch Wasservögel stellten sich ein. Dann wuchs ein unterbrochener Schilfgürtel. Das Paradies „Kohlengrube“, unser Paradies, war im Sommer 1947 vollkommen. Es wurde bald auch von vielen Badegästen aus Dessau usw. entdeckt und auch vom Angel-Verein und später sogar von der GST-Seesport. Diese Vereine bauten Boots- und Vereinshäuser. Aale und Hechte wurden ausgesetzt. Die meisten Wachtendorfer waren glückliche Menschen, nur die „Grube“ stank.

Schulabschluß ausgezeichnet! Direktor Reetz:: „Du solltest zur Oberschule gehen!“ Vater: „Du brauchst nicht zur Oberschule! Wir waren auch nicht auf die Oberschule.“

Konfirmation. Deutschlandtreffen der Jugend in Berlin. Lehre. Weltfestspiele.

Lehrausbilder: „Du sollst mal rüberkommen zum FDJ-Sekretär!“

Ich: „Guten Tach, Herr Stryzinski!“

FDJ-Sekretär: „Guten Tach, Jugendfreund! Die Herren sind bei uns ausgestorben. Wir bestimmen jetzt, wir, die Kollegen und Jugendfreunde!“ Jugendfreund Bernhard überzeugte mich!

Während der Lehre, die ich vorfristig mit Auszeichnung abschloß, fuhr ich Radrennen. Erst ein Jahr nach der Lehre fand man mich als FDJ-Kassierer, dann Gruppenleiter, dann zur Bezirksjugendschule, Abschluß mit Auszeichnung und Wahl zum FDJ-Sekretär. Einstellung als Hauptamtlicher.

Selbstverständlich wollte ich aktiv am gesellschaftlichen Leben im Wohngebiet teilnehmen. Die Nationale Front des Demokratischen Deutschland organisierte eine Kampagne: „Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit!“ Ich wurde dazu direkt aufgefordert und sollte Grünanlagen gestalten. Doch ich sagte direkt und unverblümt „Nein“ und begründete das mit dem Widersinn dieses Ansinnens. War ich doch von der vergifteten Luft krank geworden (und nach zwei verfehlten Operationen schlechter dran als vorher).

Die damalige Lage war so: Nachdem die vorläufig von der Sowjetmacht geleiteten chemischen Großbetriebe der DDR als Volkseigentum übergeben worden waren, wurde die Produktion ständig gesteigert. Das steigerte auch die Abwassermenge. Dazu mußte eine zweite Rinne vom Werk durch den Busch zur „Grube“ gelegt werden. Die Mündung dieser Rinne lag unseren Gärten direkt gegenüber. Die giftigen Dämpfe brachten der Westwind und leichteste Westdrift, ja sogar Windstille, direkt in unsere Gärten und Häuser und in unsere Lungen und in unsere Mägen, in all unsere Körperorgane, auch über die Haut. Die Giftbrühe aus der Kunst- und Chemiefaserproduktion enthielt verschiedene Schwefelverbindungen, besonders Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff. Diese gelten in entsprechender Konzentration als stärkste Blut- und Nervengifte. Bei zu starker Einwirkung gehen die Pflanzen ein; zu sehen an Bäumen und Kräutern am Ufer. Die Äpfel, die wir ernteten, schmeckten deutlich nach dem Gift. Manche Siedler beantragten deshalb Schadensersatz für das Obst, und der wurde ihnen gewährt. Die Farbanstriche an Fensterläden, Türen und anderen Hölzern waren dergestalt verändert, daß z. B. Rot und Grün zu Silbrig verändert wurde. Gold- und silberhaltige Tapeten wurden schwarz. Ebenso geschah dies bei Lampen! Silberne Uhren und Ringe, Bestecke wurden schwarz. Das kam von West, und von West kommt nichts Gutes. Aber drehte sich der Wind und kam aus der anderen Hauptwindrichtung Süd-Ost, dann hatten wir Gift und Gestank von Werk Nord und von Werk Süd, von dort manchmal sogar Nitrosegase. Aus Nord-Ost und Ost aber kamen die Gase und Dämpfe der Farbenfabrik, wie ätzende Schwefelsäure und ätzende Salzsäure und andere beißende weiße Schwaden. Nur bei extremem Süd war die Luft gut. Bino war um humansten. Aber Südwind war ganz, ganz selten.

Ohne Zweifel war die DDR schon damals die bessere Gesellschaftsordnung in Deutschland. Das Bessere gedeihet aber nicht in einer vergifteten Atmosphäre. Unsere Atemluft, die schon zur Nazizeit schlecht war, wurde von 1947 an immer schlechter und schlechter, je mehr man die Produktion steigerte. Dagegen was zu tun, war mein Ziel. Und jetzt war die große Gelegenheit, dieses Ziel zu verwirklichen.

Ich ging schon einige Zeit in die Versammlungen der Nationalen Front. An den Diskussionen nahm ich aktiv teil. Man wählte mich zum Straßenbeauftragten. Mein Auftrag war, von Haus zu Haus zu gehen, die Leute aufzuklären über die Politik der Nationalen Front und billig Broschüren anzubieten. Ein anderer Straßenbeauftragter, mein Nachbar Heinz Zeidler, wies mich ein; wir gingen gemeinsam. In manchen Häusern ging es schnell, in anderen mußte erst der Selbstgemachte gekostet werden. Beste Kontakte kamen zustande, und die Sache machte Spaß. Ich gewann meinen Nachbarn für die Idee und ging auch in die Filmfabrik Wolfen zum Ersten Sekretär der Parteileitung, Genossen Hahn. Ich setzte ihm das Problem mit der „alten Stinkgrube Johannes“ auseinander. Er kannte das Problem und verharmloste nichts, aber sagte mir u. a. zwei Sätze, die ich nicht vergesse:

1.     „Da sind nur die Kapitalisten schuld, die haben die Betriebe so gebaut“.

Da mußte ich ihm recht geben, aber auch auf seine Pflicht, zu verändern, verweisen. Worauf er, mich meinend:

2.     „Sie sind nicht kompetent...“

Auf der nächsten Versammlung der Nationalen Front in Wachtendorf trug ich meine Idee vor. Viel wurde diskutiert, fast jeder sagte zu diesem Thema was; schließlich ging es alle an. Dann, bei der nächsten Versammlung, war die Bude voll, nicht alle hatten Platz im Kulturraum des ehemaligen Barackenlagers „Hermine“. Alle wußten: Es muß etwas getan werden. Hängen blieb alles an Heinz Zeidler und an mir. Der Rohr- und Kraftwerksschlosser Heinz Zeidler war damals hauptamtlicher Oberkommandeur der motorisierten Kampfgruppe der Filmfabrik Wolfen. Rudolf Stitz, der Vorsitzende der Nationalen Front in Wachtendorf, versprach uns zu unterstützen. Er war mein allernächster Nachbar, tätig als Hauptrevisor in der Farbenfabrik Wolfen. Altes SPD-Mitglied, früherer Musiker im „Reichsbanner“. Unser Dreierkollektiv war also gut besetzt und war von der Versammlung der Nationalen Front Wachtendorf beauftragt.

Zunächst schrieb ich namentliche Briefe an folgende Verantwortliche der drei großen Chemiewerke, die ich für mächtig hielt:

1.  die Hauptdirektoren

2.  die hauptamtlichen Parteisekretäre

3.  die BGL-Vorsitzenden

Danach schrieb ich noch an

4.den Minister des damals zuständigen Ministeriums in Berlin

5.die Wasserwirtschaft in Frankfurt/Oder.

Ich lud die genannten Personen und noch andere im Namen der Einwohner von Wachtendorf zur nächsten Versammlung der Nationalen Front ein. Von überallher kamen Briefe zu uns, lauter Zusagen zu dem Termin, der im Februar 1957 gelegen haben kann.

Tiefster Winter war zu der Zeit. Da treffe ich draußen im Freien den Bürgermeister von Greppin und Wachtendorf, Genossen Pflug, der sagt: „Die Versammlung muß ausfallen; wir hamm keene Koh’n, den Versammlungsraum zu heizen!“ Ich sagte: „Das ist doch Schwindel, das ist Sabotage!“ Ärger, Wut, Verzweiflung! Was sollte ich tun? Ich sprach mit diesem und jenem. Endlich verfaßten Heinz Zeidler, Rudolf Stitz und ich einen Text, die Sekretärin schrieb’s mit Maschine, und wir zwei Aufklärer der Nationalen Front gingen von Haus zu Haus und sammelten Unterschriften. Da lernten wir die Leute und die Menschen kennen. Die Arbeiter unterschrieben alle, ob Alt-KPD, ob Alt-SPD, ob Alt-Nazi, ob parteilos, ob christlich. Manche diskutierten viel. Aber Schwierigkeiten gab es mit den wenigen Intelligenzlern, die in unserer Siedlung wohnten. Die wollten nicht unterschreiben, lamentierten: „Das müßt ihr doch verstehen, ich hab’ eine leitende Stellung, ich kann mir das nicht erlauben, da kann ich meine Stellung verlieren!“

Zwei Tage gingen wir nach Feierabend Unterschriften sammeln, dann sagte mir Heinz: „Wir können nicht mehr Unterschriften sammeln gehen; ich wurde zur Parteileitung zitiert, dort sagte man mir, was wir da tun, sei Zusammenrottung, und wenn wir das nicht lassen, sehen wir uns soo wieder!“ Wobei Heinz seine Hand mit gespreizten Fingern vors Gesicht hielt. So endete bei uns damals, was man heute Umweltinitiative nennt oder Bürgerinitiative!

Obwohl man uns mit der Drohung eingeschüchtert hatte, reagierte die Werkleitung der Filmfabrik Wolfen mit umfassenden Maßnahmen. Man versprach uns, die „Grube“ zuzuschütten, und einige Wochen lang schüttete man jede Art Industrieabfälle scheinbar wahllos hinein. Aber bald hörte man auf und schüttete das Zeug einfach in den Busch, auch Säuren und Laugen. Die Vegetation verkam! Nun erfuhr ich über Heinz Zeidler, und er sagte das auch der Versammlung: Die Grube kann man nicht zuschütten, weil die im Laufe der Jahre gebildete Schlammasse hochgradig brennbar und, mit einer Erdschicht abgedeckt, ein Explosionspotential sei, schlimmer als ein Vulkan. Denn Schwefelkohlenstoff ist hochexplosiv.

Etwa zu gleicher Zeit machte man nun auch noch unseren Trost, unser Paradies „Kohlengrube“ kaputt! Aller zwei Tage brachte man 50 Waggons schwarzer Schlackenabfälle aus dem Leipziger Industriegebiet Borna, Böhlen, Espenhain und schaufelte den Dreck manuell und per Bagger in die „Kohlengrube“. Weil wir im Winter nicht täglich dahinkamen, bemerkten wir die Sauerei nicht gleich. Aber dann machten mein Feund Roland Stitz und ich Fotos. Natürlich waren wir voller Wut und Verzweiflung. über diese Verbrecher und Verräter am Sozialismus. Sogar an Sabotage und Dynamit dachten wir. Aber mit Terror kommen wir Kleinen nicht an gegen den Terror des Staates. Also schrieb ich wieder mal viel für Tageszeitungen und die Betriebszeitung. Man veröffentlichte, aber ohne meine Fotos. Wir riefen das Volk der Umgebung, den Anglerverein und die GST-Seesport zum Widerstand auf. Aber es kam kein Echo, keiner rührte sich. Roland und ich waren wie Sancho Pansa und Don Quichotte. - Doch nein, einer, unabhängig von uns, kämpfte wie wir: Der Herr Sicherheitsinspektor Röder von der Filmfabrik, wohnhaft Wolfen-Süd, veröffentlichte in der Zeitschrift der Sicherheitsinspektion einen langen Beitrag dazu, wie man aus der „Kohlengrube“ ein Naherholungszentrum für Bitterfeld und Wolfen gestalten könne. Es kam zu einem Parteiverfahren gegen ihn, man ekelte ihn raus, er ging nach Westen, sein Haus im Stich lassend. ... Und die Produktion ging weiter. Der „Bosporus“ zur Förstergrube war schon verschüttet, die Drecks-Schlacke schwamm wie Öl auf der Oberfläche der „Kohlengrube“; die ersten Fische auch. Die GST-Seesport und der Angelverein zogen sang- und klanglos ab; Boots- und Vereinshäuser rissen sie ab.

Mich ekelte, ich schmiß den Posten FDJ-Sekretär, ging in die Werkstatt. Heinz Zeidler wurde als Oberkommandierender der motorisierten Kampfgruppe abgesägt, ging als Rohrschlosser.

Danach verlegte man die Ascheleitung des Kraftwerkes Filmfabrik weg von der „Kohlengrube“ - aber in das letzte Paradies der Wachtendorfer, in den Angelteich! Auch das ließen sich die „Männer“ vom Angelverein gefallen! Mich kotzte es an! Aber ich blieb in der Partei, der Kampfgruppe, machte NAW-Stunden, ging in die GST. Was hatten die Wachtendorfer nun noch? Alle Paradiese futsch; nur immer noch arbeiten, arbeiten, arbeiten Wofür?

Blieben nur die FDGB-Fenenplätze. Das waren noch die einzigen Lichtblicke. Als Junghandwerker war ich zum ersten Mal, und zwar ganz auf Kosten der SVK, sogar mit extra Taschengeld und bezahlter Fahrkarte, eine Woche im Harz gewesen. Wunderschön war es in Hasselfelde im Karl-Marx-Heim. Da gab es richtigen weißen Schnee, nicht so schmutzigen wie in Wachtendorf und Bitterfeld. Zum Heim gehörte Skiausleihe, kostenlos. Die nächsten Ferienplätze holte ich mir dann selbst beim FDGB gegen geringe Kosten und Zweidrittel-Fahrpreis. Schierke 1957, Johnsdorf 1958, Schierke 1959, aber schon mit Ehefrau. Und nun die Ferienplätze im Sommer: Prerow, Kühlungsborn, das Schwarzatal, Tambach-Dietharz, Crawinkel, Flecken Zechlin, Meuselbach-Schwarzmühle. Denn damals fuhren wir zwei Wochen im Sommer und eine Woche im Winter!

Der schönste Urlaub war in Binz, 1965, im Jahr der Einschulung meines Sohnes. Man sagte mir: „Aber das ist etwas teurer! Es ist ein Intelligenzplatz und kostet für vierzehn Tage und zweieinhalb Personen 138,15 M.“ Mit Vollpension, sagt man heuer.

Doch zurück nach Wachtendorf. Inzwischen war dort auch wieder ein Sommer, das Jahr weiß ich nicht mehr. Jedenfalls stieg die Produktion, und die Konzentration von Giften in der Luft war so hoch wie noch nie. Die Spatzen fielen von den elektrischen Leitungen auf die Erde und verreckten. Die Schwalben fielen während des Fluges herab, zappelten noch eine Zeit und verendeten dann. Ebenso die Mauersegler. Die anderen Vögel blieben leben, auch die Menschen. Alle Pflanzen rundum in Garten und Busch gingen ein. Alles Grüne wurde braun und schwarz. Die Blätter fielen von den Bäumen. Nur der Sellerie war grün geblieben und stand. In dieser Situation kamen Leute mit Booten von der Wasserwirtschaft aus Frankfurt und brachten die „magische Vier“ mit. Das Lackmus-Papier, das sie an die Bäume zweckten, verfärbte sich in vier Stunden. Die weißen Ratten, die sie im Käfig über die Giftbrühenoberfläche der „Grube“ hielten, waren in 40 Sekunden tot. Der „Forscher“ aus Frankfurt im Boot kippte nach vier Minuten aus den Latschen. Wir mußten ihn rausholen. Die da reingewatet waren, bekamen Hautausschläge, die vierzig Tage dauerten.

Die „Grube“ war in höchster Aktion, sie brodelte und dampfte, sie garte wie ein Weinballon in erster stürmischer Gärung Wieso? Ein Betrieb kochte Buchenholz zur Zellulosegewinnung, ein zweiter produzierte Nährhefe in Massen. Die Abwässer beider mischten sich, und für die Hefebakterien war die Kohlehydratbrühe aus der Zellulose das gefundene Fressen. Auch andere giftige Abwässer kamen in die Grube, auch Silber von der RAFA. Natürlich erneuerten wir unsere Proteste.

Tatsächlich baute dann die Filmfabrik eine neue Rohrleitung, womit die „Hefe“ direkt in die Mulde geleitet wurde. Die stürmische Gärung endete, aber die Schwefel-Kohlenstoffe und Schwefelwasserstoffe hatten wir trotzdem noch im Übermaß.

Zu der Zeit arbeitete ich längst schon in der Filmfabrik und war oft sehr krank Doch immer mußte ich am dritten Tag zur Ärztlichen Beratungskommission und am vierten Tag zur Arbeit. Ich schiß Blut und magerte ab bis auf Haut und Knochen, aber mußte arbeiten. Nichts halfen mir meine ehrenamtliche Funktion als Parteigruppenorganisator und aktives Kampfgruppenmitglied, nicht die vielen NAW-Stunden! In Krankenhäusern war ich oft, sprach mit Ärzten auch über die Giftluft. Aber. „Wir Ärzte sind Staatsbeamte und können uns nicht gegen die Staatsbetriebe wenden!“ Schließlich verließ ich die Kampfgruppe und gab die Funktionen ab.

Die „Grube“ war manchmal so voll, daß sie überzuschwappen drohte. Heute weiß ich nicht mehr genau, ob die Brühe wirklich in die Gärten lief, oder ob es Alpträume waren. Die „Kohlengrube“ war hinüber, der Angelteich zugeschlammt, der kleine Lurchteich hinterm Kraftwerk vertrocknet. Wir gingen manchmal in die Förstergrube am Stankendorfer Busch baden, acht Kilometer. Aber dahinein hatte man vorher etliche Waggons der Leipziger Abfallschlacke gebracht. Dieser feine Schlackestaub lag auf dem Grund und wurde beim Badebetrieb aufgewirbelt und das Wasser zu trüber Suppe. Man hatte Wachtendorf und Umgebung zur häßlichsten Dreckwüste gemacht.

Inzwischen hatte ich Frau und Kind und war Wohnungssuchender. Eine Dringlichkeitsbescheinigung wegen Gesundheitsschaden durch die „Grube“ nützte mir nichts. Im November 1966 zogen wir nach Greiz. Jetzt brauchten wir keinen Ferienscheck mehr. Sowieso war es immer schwerer geworden, jährlich den Ferienplatz zu bekommen, weil die Bauern infolge der LPG uns nun die Urlaubsplätze zunehmend wegnahmen. Früher waren die nie in Urlaub gefahren, nun fuhren sie sogar zur Erntezeit, und wir halfen bei der Ernte. Aber vor 1945 fuhren die Arbeiter auch nicht.

Nach der „Wende“ hörte die zuvor ständig steigende Produktion der Filmfabrik langsam, „sozialverträglich“ auf. Die 17.000 Mitbesitzer sind endlich vollkommen FREI. Mit der „Grube“ geschieht nun genau das, was uns die leitenden Kader vor ca. 40 Jahren versprachen, aber jetzt unter Ausschluß der Wachtendorfer. Das ganze Gelände wurde erstmals abgesperrt. Zur Grube, zum Busch, nach Thaiheim, zur Kohlengrube, zum Angelteich kann man nicht mehr. Mit aufwendigen Maßnahmen wird die Giftbrühe unschädlich gemacht. Das als Besucher zu sehen, hat man Zugang zu einer „Aussichtsfläche“ im Südbereich der Grube. Auf zwei Sichttafeln werden Historie und Geographie der Grube dargestellt, die Historie aber sehr tendenziös, als wäre die „Grube“ bis 1956 harmlos gewesen!

Die anderen großen Umweltvernichter des Chemischen Kombinates Bitterfeld, Werk Süd, Werk Nord, und besonders die Farbenfabrik wollte ich damals abgerissen und vernichtet wissen oder die Menschen umgesiedelt, 70 Kilometer weg. Heuer werden diese meine Wünsche erfüllt. Aber nicht aus Gründen der Umwelterhaltung, sondern zur Ausschaltung der Konkurrenz. Viele Menschen gehen daran kaputt, die Einheit kostet jährlich viel mehr Menschenleben, als die „Mauer“ kostete. Das hat es meines Wissens auf der Erde noch nicht gegeben, daß Menschen, wie 1989 in der DDR, auf der Straße für Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit demonstriert haben.

Die meisten Gebäude und Giftbetriebe und sogar das Kraftwerk der Farbenfabrik sind geschliffen, aber einige sollen verkauft worden sein, und zwar die ältesten Giftbuden. Giftschwaden dringen in den durchfahrenden Zug ein, Giftschwaden kommen bei Südwind und Südtrift nach Raguhn, wo wir jetzt wohnen. Im Telefonbuch steht zwar „Bayer“ und auch „Chemie-AG“, aber erreichbar ist keiner! Aus den hohen Essen kommt nichts! Manche meinen, man läßt das Gift jetzt heimlich, nachts und zum Wochenende raus, zu ebener Erde. Einer behauptet, er habe von Bitterfeld Überbau aus gegen 23 Uhr rotgelbe Schwaden über Greppin gesehen.

Gewiß ist es mit der Umwelt in der Region viel besser geworden. Die Kraftwerke sind ja nun weg, und das der Filmfabrik schafft man auch noch. Die sagenhaft vielen Autos aber schaffen es mit wachsendem Erfolg, die durch Wegfall der Industrieabgase und Kraftwerksasche fehlende Umweltverschmutzung wettzumachen und zu übertreffen. Und da kann einer wieder nichts dagegen tun, denn Autos wollen fast alle, und Mercedes regiert! Vor dem Gift der Wachtendorfer „Grube“ konnte man sich damals noch woanders hin retten, vielleicht nach Thüringen. Jetzt aber kann sich keiner mehr vor den Giftschwaden retten, die Verkehrsadern führen überallhin.

Klaus Kögler 


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