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Sicherheit und Menschlichkeit

 Man kann ohne Zweifel sagen, daß wir in der DDR ruhig und sicher gelebt haben. Nachdem ich jahrzehntelang in den staatlichen Organen tätig war, kann ich mich dabei auf meine Kenntnis des damaligen Bezirks Potsdam, insbesondere der Kreise Gransee und Neuruppin, stützen. Wir hatten z. B. im Altkreis Gransee in der Zeit von 1960 bis 1988, also in fast 30 Jahren, ein einziges Tötungsdelikt, verursacht durch einen geistig behinderten Menschen. Überfälle auf Banken, Sparkassen, Tankstellen, Einkaufszentren etc. gab es nicht. Der Schußwaffenmißbrauch war von vornherein ausgeschlossen, weil kaum jemand die Möglichkeit hatte, an diese Mordwerkzeuge heranzukommen, und somit waren derartige Delikte in unserer Kriminalanalyse auch nicht zu finden. Raubüberfälle waren echte Fremdworte. Die Menschen konnten sich trotz manchmal dunkler Straßen und Wege zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne Angst vor Überfällen frei bewegen.. Vielfach wurden die Wohnhäuser nachts überhaupt nicht verschlossen, weil sich keiner fand, sie nachts oder gar am Tage auszuräumen, wie das heute täglich der Fall ist.

Neben den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Kräften leisteten vor allem die Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei eine geduldige Überzeugungsarbeit. Sie besaßen das Vertrauen der Bevölkerung. In jedem Kreis waren eigenständige Justizorgane vorhanden, so z. B. in den Kreisen ein bis zwei Staatsanwälte und zwei bis drei hauptamtliche Richter. Sie besaßen gute Ortskenntnisse und damit die Möglichkeit, die regionalen Entwicklungsprozesse bei der Lösung ihrer Aufgaben zu berücksichtigen. Auch sie waren oft in Arbeitskollektiven und Einwohnerversammlungen unterwegs, um Aufklärungsarbeit zu leisten und vorbeugend darüber zu sprechen, welche Faktoren die Kriminalität begünstigten.

Im Vergleich mit den heutigen Verhältnissen klingt das alles märchenhaft, aber es war so, und darauf können wir stolz sein. Damit ist nicht gesagt, daß uns die Kriminalität nicht beschäftigte. Wir bemühten uns, sie ständig zu senken und die Aufklärungsrate zu erhöhen. Im Kreis Gransee lag diese bei etwa 88 Prozent. Hauptsächlich traten Körperverletzungen (meist unter Alkoholeinfluß) auf. Auch kleine Diebstähle (Geld, Fahrräder, Alkohol) sowie Einbrüche in Bungalows beschäftigten uns schon. Ab und zu gab es auch einmal eine Unterschlagung oder ein Sittendelikt, jedoch niemals in solchen Ausmaßen, wie das heute an der Tagesordnung ist.

Man muß natürlich fragen, warum derart krasse Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten existierten, denn die gegenwärtige hohe Kriminalität im Osten Deutschlands ist für die BRD ja keine neue Erscheinung, sondern war in Westdeutschland schon immer Realität. Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen versucht man heute aus der Klemme zu kommen. Einer soll immer versagt haben: die Staatsanwaltschaft, die Polizei, die Justiz usw. In der Tat passieren hier unvorstellbare Fehler. Aber man löst diese Probleme auch nicht durch die weitere Aufstockung des Personals. Die Ursachen liegen ganz einfach im gesellschaftlichen System, das unfähig ist, die Ursachen der Kriminalität zu beseitigen. In einer Gesellschaft mit Massenarbeitslosigkeit, einer Jugend ohne Perspektive, einer Gesellschaft mit mangelndem Kultur- und Freizeitangebot, einem Fernsehen, das jeden Abend Mord und Totschlag anbietet, mit vielen Menschen, die in Not und Armut leben, wird die Kriminalität zwangsläufig zum Tageserlebnis. In einer Gesellschaft, wo die Kriminalität, wo Ellbogenmanieren, Bestechung, Untreue, Korruption und Betrug großen Umfangs bei den Reichen und Mächtigen beginnen, schwappt das natürlich auf einen breiten Personenkreis über.

Typisch für die DDR war, daß die trotz aller Vorsorge Gestrauchelten nicht alleingelassen wurden. War ein Bürger straffällig geworden und zu einer Haftstrafe verurteilt, dann wirkte die Fürsorge der staatlichen Organe auch über seine Entlassung hinaus. Ein Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten kümmerte sich um alle notwendigen Maßnahmen zur Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben. Sobald ihm von der Staatsanwaltschaft bzw. der Haftanstalt die bevorstehende Entlassung des Bürgers angekündigt wurde, hatte dieser Kollege die Bereitstellung von Wohnraum und, sofern erforderlich, auch von Möbeln zu klären. Ebenso wichtig war die Vermittlung eines Arbeitsplatzes am Wohnort oder in unmittelbarer Nähe. Dieser mußte mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein, und es war ein Arbeitskollektiv auszuwählen, in dem es keine sogenannten „begünstigenden Faktoren“ für eine erneute Straftat (z. B. Alkoholmißbrauch) gab.

Danach hatte sich der Bürger mit seinen Entlassungsunterlagen in der Abteilung Innere Angelegenheiten zu melden. (Aus meiner langjährigen Praxis ist mir kein Fall bekannt, wo dies nicht geschehen ist; es sei denn, der Betreffende hatte sich kurzfristig für einen anderen Entlassungsort entschieden.) In einem ausführlichen Gespräch wurden alle seine Probleme beraten, weitere Anliegen vermerkt und deren Realisierung in die Wege geleitet. In den jeweiligen Arbeitskollektiven war man auf die Eingliederung eingestellt, und die meisten Vorbehalte konnten bereits im Vorfeld ausgeräumt werden. Das ging nicht immer konfliktlos vor sich, denn mancher Betriebsleiter sträubte sich zunächst, einen solchen Menschen aufzunehmen.

Viele der ehemals Gestrauchelten zogen die richtigen Schlußfolgerungen, und es gab keine neuen Probleme. Sie erledigten gewissenhaft ihre Arbeit und vermieden übermäßigen Alkoholgenuß. Aber in einer Reihe von Fällen mußten die Arbeitskollektive und Konfliktkommissionen der Betriebe auch weiterhin Erziehungsarbeit leisten, und mancher fand sich sogar als Wiederholungstäter in einer Haftanstalt wieder. Die Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben gelang also nicht immer, obwohl die Negativzahl relativ gering war.

Auch die Gesundheits- und Sozialpolitik der DDR sicherte jederzeit die zuverlässige Betreuung aller Bürger, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Beruf und Geldbeutel.

Es gab ein gut ausgebautes System von Krankenhäusern, Polikliniken (Ambulanzen), staatlichen Arztpraxen und Zahnarztpraxen. So hatte z. B. der Altkreis Gransee drei leistungsfähige Krankenhäuser: in der Kreisstadt Gransee (Einzugsbereich 15.000 Einwohner), in Zehdenick (Einzugsbereich 20.000 Einwohner) und in Fürstenberg (Einzugsbereich 10.000 Einwohner). Jede dieser Städte besaß außerdem eine mit dem örtlichen Krankenhaus kombinierte Poliklinik. Hier waren nicht nur der Allgemeinmediziner, sondern auch der Internist, der Chirurg, vor allem aber die Röntgenabteilung und das Labor vorhanden, so daß die Patienten viel Zeit sparten.

Obwohl nicht überall die allerneuesten Geräte zur Verfügung standen, wurde die medizinische Versorgung auch bei komplizierten Fällen durch Kooperationsbeziehungen (z. B. mit dem Bezirkskrankenhaus Neuruppin oder verschiedenen Berliner Einrichtungen) stets in guter Qualität abgesichert. Das Krankenhaus Gransee war vor allem im Bereich der Chirurgie technisch gut ausgestattet. Nachholebedarf hatten unsere Krankenhäuser insbesondere im Sanitärbereich. Da mangelte es ebenso an Baukapazität wie an Geld, und jede größere Rekonstruktionsmaßnahme hätte auch eine unerwünschte Bettenreduzierung zur Folge gehabt. Nach Einverleibung der DDR durch die Alt-BRD wurden die Häuser in Zehdenick und Fürstenberg dichtgemacht. Gransee überlebte nach langen Auseinandersetzungen.

Für Berufstätige waren die in mittleren und größeren Betrieben vorhandenen Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens besonders günstig. Arztpraxen bestanden z. B. in den VEB Isolierwerk Zehdenick, Ziegelkombinat Zehdenick, oder auch im Meliorationskombinat Potsdam, Betriebsteil Lindow (mit ca. 400 Beschäftigten). Die dort praktizierenden Ärzte hatten die gleichen Rechte wie Allgemeinmediziner, nahmen auf Arbeitsschutzmaßnahmen Einfluß und konnten vorbeugende oder Heilkuren vorschlagen. In den Kureinrichtungen der DDR erfolgten Behandlung, Unterbringung und Versorgung ebenfalls kostenlos. Auch die An- und Abreise per Bahn brauchte man nicht bezahlen.

Im vergleichenden Rückblick erinnert man sich immer wieder daran, daß zu DDR-Zeiten überhaupt jegliche Behandlung und gesundheitliche Betreuung kostenlos war. Auch ein Krankenhausaufenthalt brachte dem Patienten keinerlei finanzielle Belastungen. Die auf Rezept verschriebenen Medikamente erhielt man ohne jede Zuzahlung. Den Ärzten waren bei der Verordnung keine Beschränkungen auferlegt. (Allerdings führte diese Großzügigkeit manchmal zur Verschwendung von Arzneimitteln. Es kostete ja nichts.) Heute dagegen muß jeder, der, wie ich, ständig Medikamente braucht, jeden Monat tief in die Tasche greifen. Und so erlangt das Wort Falladas erneut Bedeutung: „Weil du arm bist, mußt du früher sterben.“

Ein wichtiges Kapitel der Gesundheits- und Sozialpolitik der DDR war die Sorge um die alten Menschen. Die Kranken- und Pflegebetreuung zu Hause durch Fürsorger, die Volkssolidarität usw. erfolgte auch hier praktisch ohne Bezahlung. Meine Mutter brauchte aufgrund ihres schweren Herzleidens und der damit verbundenen Bettlägerigkeit eine Hauswirtschaftspflege (Einkaufen, Wohnungsreinigung etc). Nach ärztlicher Bescheinigung (mit festgelegter Stundenzahl) wurde das kostenlos organisiert.

Mancher ging auch ins Feierabendheim. (Es gab allerdings lange Wartezeiten, denn die Plätze reichten nicht aus, und viele neue kamen nicht hinzu.) Der Vorteil bestand darin, daß die Unterbringung frei von finanziellen Zwängen war. Jeder alte Mensch erhielt einen Teil seiner Rente als Taschengeld. Niemand fragte, welcher Angehörige für die Kosten aufkommt oder zwang den Heimbewohner, sein Grundstück und sonstiges Eigentum zu verkaufen. Verpflegung, Unterkunft, Betreuung und medizinische Versorgung waren auch ohne diese rigorosen Maßnahmen staatlicherseits gesichert.

Aber die übrigen alten Menschen wurden ebenfalls nicht vergessen. Sämtliche Betriebe, Genossenschaften und Einrichtungen waren verpflichtet, in ihrem Kultur- und Sozialfonds Mittel für die Betreuung der aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedenen Veteranen einzuplanen. Die Organisierung von jährlich mehreren Veranstaltungen sowie die Besuche zu „runden“ Geburtstagen betrachteten jede Betriebs- und Gewerkschaftsleitung als Ehrensache. Veteranentreffen waren sehr beliebt. Die Betriebsleitungen berichteten über Neues im Werk. Arbeitskollegen trafen sich wieder und hatten sich viel zu erzählen. Kulturprogramm, Musik, Speise und Trank sorgten für gute Stimmung. An- und Abreise wurden vom Betrieb organisiert. So freute man sich schon monatelang vorher auf solche Zusammenkünfte. - Hinzu kamen regelmäßige Veranstaltungen der Volkssolidarität in den Wohngebieten, der Sportler, Angler, Kleingärtner usw.

Das heißt: Der Mensch blieb dank der Fürsorge aller bis zu seinem Lebensende ein Mensch.

So gab es in der DDR auch keine Obdachlosen aus sozialer Notlage. Grundsätzlich besaß jeder eine Wohnung oder entsprechenden Wohnraum, niemand wurde auf die Straße gesetzt, jeder hatte seinen Arbeitslohn, seine Rente oder ein anderes Einkommen. Die Begriffe „arbeitslos“ oder gar „dauerarbeitslos“ waren quasi Fremdworte. Und das bei einem hohen Beschäftigungsgrad der Frauen! Jedem daran interessierten Schulabgänger wurde ein Ausbildungsplatz garantiert, wenn es auch nicht immer der gewünschte sein konnte. Wir waren ein Staat, in dem chronischer Arbeitskräftemangel herrschte. Werbeanzeigen der Betriebe für die Arbeitskräftesuche waren eine seltene Ausnahme. Sie mußten von den Ämtern für Arbeit genehmigt werden.

Wenn ich mit anderen Bürgern über die Arbeitslosigkeit in Westdeutschland oder die hervorragende kostenlose medizinische Versorgung in der DDR sprach, dann wurde das zur Kenntnis genommen. So recht begriffen haben die meisten den Unterschied angesichts der im Westfernsehen gezeigten vollen Schaufenster, der glitzernden Reklame und der davon ausgehenden Illusion allgemeinen Wohlstands aber wohl nicht. Immerhin schien es bei vielen Rentnern, die zu Besuch nach Westdeutschland oder Westberlin reisen konnten, mehr und mehr zu dämmern. Nur wenige kehrten nicht in die DDR zurück. Die meisten meinten: Es ist ganz schön dort, man konnte die Verwandten besuchen und das einkaufen, was es in der DDR nicht gab. Aber ständig in dieser Ellbogengesellschaft leben, das wollten sie nicht. Und sie waren sehr froh, daß die DDR ihren Kindern und Enkeln sichere Arbeitsplätze und berufliche Perspektiven bot.

Allerdings beschäftigten uns Kommunalpolitiker auch Leute, die nicht arbeiten wollten: die Arbeitsbummelanten. Ihr bester Freund war meist der Alkohol. Sie fanden sich vor allem in Baubetrieben, in der Landwirtschaft und in Betrieben mit schwerer körperlicher Arbeit. Doch auch sie wurden nicht sich selbst überlassen. Mit hohem gesellschaftlichen Aufwand versuchten staatliche Organe, Arbeitskollektive und persönliche Betreuer, sie von ihrem falschen Weg abzubringen. Manchem haben diese Maßnahmen geholfen, mancher konnte es trotz allem nicht lassen.

Das Gesunde im Menschen wollten wir wecken und fördern.

Heute ist das alles nicht diskutabel: „Entweder du arbeitest, oder du fliegst. Es sind genügend andere da.“ Und so entwickeln sich solche Menschen zu Außenseitern, zu Verbrechern oder zurück vom Menschen zum Tier.

Horst Kugel 


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