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Meine Universitäten hießen „Lernen neben der Arbeit“

 

In der DDR bildete sich ein ganzes Netz von Einrichtungen und Formen des zweiten Bildungsweges heraus, die parallel zur Arbeit den Erwerb von Abschlüssen verschiedener Stufen (bis hin zur Promotion) oder den Wechsel von Arbeit und Studium ermöglichten. Auch ich ging diesen Weg.

Im alten Bildungssystem - d. h. in der Hitlerzeit - konnten ich und einige andere Arbeiterkinder die höhere Schule nur besuchen, weil unsere Eltern finanzielle Entbehrungen auf sich nahmen. Ich hatte zwar das Glück, eine halbe Freistelle zugesprochen zu bekommen, aber in jedem Jahr gingen immer noch ca. 100 RM für den Schulbesuch drauf. Und das bei einem Monatslohn des Familienoberhauptes von unter 500 RM!

Nachdem die Schulen im Oktober 1945 wieder eröffnet wurden, fiel zwar das Schulgeld weg, aber aus familiären Gründen (Tod der Mutter, nochmalige Heirat des Vaters, feindselige Einstellung der Schulkameraden gegenüber einem „Roten“, der ich als FDJler und später auch Genosse war) ging ich im April 1949 ohne Abitur von der Schule ab und trat im gleichen Jahr eine Lehre als Werkzeugschlosser/Maschinenschlosser an, die ich 1952 abschloß. Da ich als Mitglied der FDJ-Leitung des Lehrkombinats an der Werbung anderer Lehrlinge für die bewaffneten Kräfte beteiligt war, hielt ich es in Anbetracht der Remilitarisierung Westdeutschlands für selbstverständlich, mit meinen zwanzig Lenzen ebenfalls zur „Fahne“ zu gehen. Meine Entscheidung für den Waffendienst hing aber nicht zuletzt auch damit zusammen, daß ein Cousin von mir 1950 versucht hatte, im Braunkohlenwerk Böhlen eine Förderbrücke in die Luft zu sprengen.

Damals waren in allen höheren Bereichen der Bereitschaftspolizei (später Kasernierte Volkspolizei bzw. Nationale Volksarmee) sowjetische Militärberater tätig, und für diese wurden dringend Russischdolmetscher gebraucht. Also wurde ich an eine Dolmetscherschule der VP in Holzdorf bei Weimar delegiert und in einem einjährigen Studium mit Grundkenntnissen der russischen Sprache plus Militärterminologie „ausgestattet“. Damit war mein persönlicher „zweiter Bildungsweg“ eingeleitet.

Im Oktober 1953 wurde ich in die Dolmetscherabteilung des Hauptstabs der KVP nach Berlin und später Strausberg versetzt. Obwohl ich noch weit davon entfernt war, wirklich Russisch zu können, stellte man mir nach kurzer Zeit nicht nur schriftliche Übersetzungsaufgaben, sondern teilte mich dem Berater beim deutschen Chef der Nachrichtentruppen, einem sowjetischen Oberst, als Dolmetscher zu. Für mich hieß das, mir in kürzester Zeit nicht nur Schreibmaschinenkenntnisse in Deutsch und Russisch anzueignen, sondern außerdem elementare Dolmetschfertigkeiten zu erwerben. Nach Ansicht des deutschen Chefs der Dolmetscherabteilung klappte das nicht so recht, und so schlug er dem sowjetischen Oberst vor, mich durch einen anderen zu ersetzen. Dieser Vorschlag wurde von dem sowjetischen Genossen und vom Chef der Nachrichtentruppen abgelehnt, da ich meine Arbeit zu ihrer Zufriedenheit erledigte. Allerdings weckte der hinterhältige „Ablösungsvorschlag“ meinen Ehrgeiz, und ich büffelte viel in der Freizeit, um meine Sprachkenntnisse und Dolmetschfertigkeiten zu vervollkommnen.

In den nächsten Jahren war der sowjetische Nachrichtenspezialist mein eigentlicher Lehrmeister beim Erlernen der russischen Sprache und der Festigung sozialistischer Grundhaltungen. Dank seiner Unterstützung konnte ich mich an die externe Vorbereitung für das Staatsexamen als Russischdolmetscher heranwagen. Die ersten Bewerber für diese Prüfung wurden 1956 ausgewählt und ihnen im Rahmen der Offiziersausbildung vier Wochenstunden für die Examensvorbereitung eingeräumt. Der Rest der Vorbereitung fiel in unsere Freizeit.

Im Januar 1958 durften wir dann zu einer mündlichen und schriftlichen Vorprüfung an der Dolmetscherschule der Karl-Marx-Universität Leipzig antreten. Hier stießen wir auf die Arroganz mancher Hochschullehrer, die sich dagegen sperrten, Bewerber ohne Abitur zum Staatsexamen zuzulassen. Es stellte sich aber heraus, daß wir „Praktiker“ den Studenten, die vier Jahre Direktstudium hinter sich hatten, mindestens ebenbürtig und in einigen Belangen (Dolmetschen, Sachwissen in Politik und Technik) sogar überlegen waren.

Mit dem Staatsexamen als Russischdolmetscher hatte ich die erste Stufe meines Lernens ohne Direktstudium erklommen. Durch diesen Erfolg fühlten sich ein Freund von mir und ich animiert, uns an der Volkshochschule Strausberg auf das Abitur im Einzelfach Englisch vorzubereiten. Dafür brauchten wir von September 1958 bis Juni 1960. Für meine weitere berufliche Entwicklung erwies sich dieser Schritt als sehr günstig. Allerdings konnte ich zu Beginn der Abiturvorbereitung nicht ahnen, daß meine Tage als Armeedolmetscher gezählt waren.

Den Grund für meine Versetzung in die Reserve Ende Februar 1960 konnte ich zu DDR-Zeiten nie völlig aufklären. Ich bin aber ziemlich sicher, daß die DDR-Abwehrorgane auf meinen Cousin gestoßen waren, der für seine Straftat von 1950 (s. o.) eine Gefängnisstrafe in der DDR verbüßt hatte und anschließend nach Westdeutschland übersiedelte. Von dort aus setzte er seine Wühltätigkeit gegen die DDR fort, und seine Frau arbeitete als Residentin des Bundesgeheimdienstes in Westberlin. Wie in jedem Staat, war man als Geheimnisträger auch in der DDR mit solchen Verwandten ein Risikofaktor. Das hatte für mich halt Folgen.

Durch Vermittlung des Chefs der Nachrichtentruppen kam ich als Dolmetscher und Sekretär der DDR-Delegation in einer Sektion des RGW, Bereich Elektronik, unter. Mein Arbeitsplatz war an der Warschauer Straße, auf dem Gelände des Glühlampenwerkes NARVA. Ich mußte täglich am U-Bahnhof Warschauer Straße vorbei, der bis August 1961 noch geöffnet war. Jeden Morgen tauchten die „Scheuerhadergeschwader“ in den U-Bahnhof ab, arbeiteten in Westberlin als Lohndrücker und kauften abends mit umgetauschter D-Mark die Geschäfte in der Warschauer Straße und in der Karl-Marx-Allee leer. Heute gilt es zwar als Staatsverbrechen, den Bau der „Mauer“ normal zu finden, aber mir fiel ein Stein vom Herzen, als dieses Schlupfloch für Spekulationskäufe und andere kriminelle Handlungen verstopft wurde.

Während meiner neuen beruflichen Aufgabe kam ich weitere Schritte auf dem zweiten Bildungsweg voran. Der Vorsitzende der Sektion Nachrichtentechnik des RGW war ein Tscheche, und so tagten wir mindestens einmal im Jahr in der Tschechoslowakei. Das war für mich der Anlaß, Grundwissen in der tschechischen Sprache zu erwerben. Die eifrige Nutzung des Tschechoslowakischen Kultur- und Informationszentrums und - nach einer mehrjährigen Pause - von Kursen der Volkshochschule befähigten mich später zur Ablegung der Sprachkundigenprüfung III in Tschechisch.

An dieser Stelle möchte ich einige Eindrücke von den Ereignissen des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei einfügen. Über das Tschechoslowakische Kultur- und Informationszentrum und die Tschechisch-Sprachgruppe der Vereinigung der Sprachmittler erhielt ich Einblick in die Dokumente des „Prager Frühlings“ und die entsprechenden Diskussionen. Ich habe bis heute den Eindruck, daß man nicht eindeutig von einer Revolution sprechen kann, ebensowenig wie bei der „Wende“ in der DDR. Fehler und Irrtümer der jeweiligen Führungen sind unbestritten. Aber wer bei der Geschichtsdarstellung die Beeinflussung bzw. sogar Steuerung dieser „Volkserhebungen“ von außen bestreitet oder ignoriert, betreibt schlicht und einfach Geschichtsklitterung. Ich will das mit Beispielen vom September 1968 erläutern. Einen Monat nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei hatten wir eine RGW-Beratung bei Ostrava (in einer Bergbaude, um unnötige Kontakte mit der Bevölkerung zu vermeiden). Bei der Zugfahrt von Prag nach Ostrava kam ich mit einem älteren und einem sehr jungen Tschechen ins Gespräch. Zunächst fielen beide über mich her, da ich Deutscher aus der DDR war. Ich erklärte ihnen, wie ich die Ereignisse verarbeitet hatte. Und in dem anschließenden Disput kamen beide zu dem Schluß, daß irgend etwas nicht stimmen konnte, wenn sich die Westmächte so verdächtig ruhig verhielten. Da die erwähnte Bergbaude entgegen den Hoffnungen der Veranstalter während unserer Beratungen auch von Einheimischen besucht wurde, hatte ich in den Folgetagen mehrfach Gelegenheit, ihren Gesprächen über das Geschehen zuzuhören bzw. an ihnen teilzunehmen. Die Meinungen waren geteilt, und es gab durchaus Stimmen, die das Eingreifen der sozialistischen Länder für notwendig hielten.

Ein weiterer Schritt auf dem zweiten Bildungsweg ergab sich eher durch Zufall. Die häufigen Arbeitskontakte ins Ausland machten den Aufbau einer kleinen Dolmetschergruppe erforderlich, deren Leitung ich übernahm. Als Qualifikation für diese Funktion war „Diplom-Dolmetscher Russisch/Englisch“ vorgeschrieben. Es wurde mir ermöglicht, nach einer Gasthörerschaft an der Berliner Humboldt-Universität (1965-1968) die externe Prüfung als Diplomdolmetscher abzulegen. Dabei zahlte sich die Tatsache aus, daß ich 1960 das Abitur im Einzelfach Englisch abgelegt und in den Folgejahren viel Englisch gelesen hatte. Übrigens waren auch das wieder politisch bewegte Jahre. Die USA hatten den Vietnamkrieg vom Zaun gebrochen. Gegenstand der Dolmetsch- und Übersetzungsübungen waren häufig damit zusammenhangende Texte, und in den Seminargruppen wurde heftig diskutiert, auf wessen Seite man stehen solle. Meine Meinung als „Älterer" (zu Beginn meiner Gasthörerschaft war ich 33 Jahre alt und studierte mit 18- bis 19jährigen Jungen und Mädchen gemeinsam) war da durchaus gefragt. Meine so erworbenen Sprachkenntnisse konnte ich in der weiteren beruflichen Laufbahn gut nutzen.

Während meiner späteren Tätigkeit am Zentralinstitut für Information und Dokumentation absolvierte ich noch eine außerplanmäßige Aspirantur im Bereich der wissenschaftlichen Information, die ich 1977 als Dr. phil. abschloß. Zu Beginn dieser Arbeit am ZIID sollte ich übrigens Zeuge der „Ausläufer" eines großartigen Experiments werden: der Bemühungen um die Einführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Die Lehrgänge für die dafür vorgesehenen Leitungskader fanden im Objekt Wuhlheide statt. Ich erlebte die bildschirmgestützte Simulation von Leitungsentscheidungen in Kombinaten und konnte mir vorstellen, welche Möglichkeiten der Flexibilisierung der Planung und von Leitungsprozessen dadurch zu erwarten waren. Schade, daß diese Experimente nach dem Machtwechsel Ulbricht-Honecker abrupt abgebrochen wurden. Hier lag eine Chance, einerseits von starren zentralen Mechanismen wegzukommen und andererseits rein betriebswirtschaftliche Entscheidungen zu vermeiden, die für den Kapitalismus so charakteristisch sind und zu völlig unsinnigen Vorgängen fuhren: beispielsweise zur Verteuerung der Müllentsorgung für den Endverbraucher, weil dieser sparsam ist und deshalb nicht mehr zwei Mülldeponien zu betreiben sind, sondern nur noch eine; oder zu den jetzt in den östlichen Bundesländern zu beobachtenden Auswüchsen der Privatisierung, durch die es zu Streckenstillegungen im Schienenverkehr kommt, Betriebe trotz voller Auftragsbücher Konkurs anmelden müssen, weil es an Eigenkapital fehlt usw.

In meiner letzten Arbeitsstelle, dem Zentralinstitut für Hochschulbildung, war ich ab 1980 im Informationszentrum tätig und konnte dort Literatur in allen von mir beherrschten Sprachen auswerten. Inzwischen hatte ich mir auch passive slowakische Sprachkenntnisse angeeignet. Dank meiner wissenschaftlichen Qualifikation befaßte ich mich mehrsprachig mit Hochschulterminologie und arbeitete an der Herausgabe eines Terminologischen Wörterbuchs zur Hochschulterminologie sozialistischer Länder mit.

In diesem Zusammenhang erhielt ich auch Einblick in den Stand westlicher Bildungssysteme. Ich wußte also, daß z. B. das Schulwesen der BRD mit seiner frühzeitigen Verzweigung wenig für die Chancengleichheit aller Bevölkerungsgruppen tun konnte (und gar nicht tun wollte!). Es war auf Elitebildung der höheren sozialen Gruppen angelegt. Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß heute - nach 10 Jahren deutscher Einheit - von den unteren sozialen Gruppen der neuen Bundesländer nur noch 4 Prozent der Schulabgänger ein Hochschulstudium aufnehmen können, während der Anteil der „höheren“ Gruppen bei über 30 Prozent liegt; ganz abgesehen einmal von der Selektionswirkung des Geldes über geplante Studiengebühren und ähnliche Mechanismen.

Besonders skandalös ist aber die Nichtanerkennung von Abschlüssen der DDR-Bildung nach der „Wende“. Dem Zentralinstitut für Hochschulbildung war ein Rat für Akademische Grade angeschlossen, dessen Äquivalenzkommission mit anderen - auch westlichen Ländern - zusammenarbeitete. Und ich weiß genau, daß die Bundesrepublik Deutschland in diesem Rahmen die Äquivalenz akademischer Grade sozialistischer Länder mit denen kapitalistischer Länder anerkannt hatte. Davon will heute niemand mehr etwas wissen!

1990 wurde das Institut als „staatsnah“ abgewickelt, und - obwohl ich ein tragfähiges Projekt zur Weiterführung der Terminologiearbeit unter Einbeziehung westlicher Länder (USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Bundesrepublik) vorlegen konnte - auf meine weitere Mitarbeit verzichtet. So hießen die weiteren Lebensabschnitte für mich: 1990 „Altersübergang“ (mit 58) und 1994 „Frührente wegen Arbeitslosigkeit“ (mit 62 Jahren) ...

Aber auch dieses Mal ermöglichte es meine durch „Lernen neben der Arbeit“ erworbene sprachliche Qualifikation, mich nach kurzer Zeit in dem erzwungenen „Freizeitpark für Überflüssige“ zurechtzufinden. Ab 1992 leitete ich Deutschkurse für russischsprachige Juden, die als „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland gekommen und vorübergehend in einem Aussiedlerheim in der Nähe meines Wohnorts untergebracht waren. Bis 1998 führte ich diese ehrenamtliche Arbeit in Form von Konversationszirkeln beim Jüdischen Kulturverein Berlin weiter, besonders für ältere Leute, die von den deutschen Behörden nicht mehr zu Sprachkursen zugelassen wurden.

Mit meinen Englischkenntnissen konnte ich mich ab 1993 innerhalb des Arbeitslosenverbandes nützlich machen und erleichterte es dadurch u. a. älteren Bürgerinnen und Bürgern, die Volkshochschulkurse nicht ohne weiteres finanzieren konnten, sich bei Seniorenreisen ins Ausland in Englisch zu verständigen. Tschechisch war und ist meine Hobbysprache und ermöglicht es mir, mich über alle möglichen Probleme (z. B. das Verhältnis von Tschechien zur EU, seine Entwicklungsschwierigkeiten nach der „Samtenen Revolution“ usw.) aus erster Hand zu informieren.

Dr. Hans Lindemann 


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