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Von einigen wichtigen Dingen meines Lebens

 In den nachfolgenden Texten soll nicht die Rede von „Trabanten“, Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehempfangsgeräten oder bunten Blechautos sein. Nie habe ich zu diesen Dingen eine enge Beziehung gehabt, wenn sie auch irgendwann in meinen Besitz gekommen sind. Statt dessen oder vielleicht gerade deshalb will ich versuchen, aus meinem Leben in der DDR zu erzählen. Denn ich meinte, damals so wie heute, daß es in der Hauptsache nicht materielle Dinge sind, die den Sinn unseres Lebens in der DDR ausmachten und auch heute nicht in der BRD, in Europa und in der Welt.

Mit ganzem Herzen setzte ich mich, nachdem der Krieg mich wieder ausgespuckt hatte, für den Frieden ein. Damit wollte ich jener Rolle gerecht werden, die uns in der ewigen Bewegung von Werden und Vergehen zukommt. Nämlich, uns zu ernähren und fortzupflanzen. Die DDR hat mir das gedankt. Mit Urkunden, Medaillen, Orden und anderen Auszeichnungen. Andere verkaufen heute auf Flohmärkten dieses ihr Leben. Mehr hatten sie dann wohl auch nicht daraus gemacht.

 * * *

 Im bewegten Jahr 1953 wurde ich Kleingärtner. Konnte Bäume pflanzen, Land bestellen. Natürlich alles in „Klein-klein“. Ein Blumengärtner bin ich nie geworden. Auch nach der „Wende“ 1989 hatte ich da meine Schwierigkeiten. Doch mit Frühkartoffeln, Beeren und Gemüse konnte ich die Familie versorgen und, was mir so wichtig erschien, ich konnte immer mit einem Bein auf richtiger Erde stehen.

Bis 1963 waren wir Kleingärtner in der Landwirtschaft ein Stiefkind. Als ich einmal einen Bauern - die Neubauernsiedlung Felsenkellerweg befand sich gleich neben unsern 1953 angelegten Gärten, die wir stolz „Harzblick“ nannten - mit „Kollegen“ ansprach, dachte der sicher: „Größenwahnsinnig, dieser Laubenpieper.“ Unser guter Obstwein war bei verrohten Gemütern als „Schrebergartenjauche“ verschrien. In der Ständigen Kommission für Landwirtschaft befaßten sich deren Mitglieder, sowie Abgeordnete und fachkompetente Bürger nur mit der LPG und dem VEG. In meiner Parteiorganisation sprach man viel von der Landwirtschaft. „Arbeiter aufs Land“ hieß die Losung, und junge Menschen, die der Losung folgten, Jungen oder Mädchen, bekamen sogar 1.000 Mark. Wenn ich aber mal zu dieser oder jener Veranstaltung nicht kam, weil mich agrotechnische Termine in den Garten riefen, dann blickten sich die Genossen vielsagend an, und mein Abteilungsleiter (Ratsmitglied beim Kreis) meinte: „Na, ja, auch bei dem kleinbürgerliche Tendenzen!“ Zwei Jahre verheimlichte ich, daß ich Vorstandsmitglied bei den Kleingärtnern war, Schriftführer. Ich arbeitete gewissermaßen in der „Illegalität“. Es gab für uns auch anderweitige Nachteile. Unsere Bezugsquellen für Obstbaumkarbolineum, Beizen für Saatgut, Kunstdünger u. a. m. waren die Fachdrogerien. Doch diese entwickelten sich, nachdem sie der HO angeschlossen waren, zu Duft- und Seifenläden. Andererseits pflegte die BHG diese Dinge nur tonnenweise abzugeben.

Bei all diesem trat 1962/63 eine Wende ein. Was schon seit langem von Lehrern der hiesigen Bezirksparteischule, die auch in der Stadt wirksam arbeiteten, erkannt wurde, nämlich die ökonomische Kraft der Kleingärtner, und daß das, was dem einzelnen nutzte, auch der Gesellschaft nutzte, und umgekehrt, hatte sich auch bei „Partei und Regierung“ in Berlin herumgesprochen. 850.000 Kleingärtner in der DDR stellten eine Wirtschaftskraft dar und unterstützten das Marktaufkommen. Ein produktiver Garten ist ein schöner Garten, hieß es nun. Mir war das recht.

Am 23. März 1963 besuchte der Bürgermeister persönlich unsere Jahreshauptversammlung. Bereits vorher, im Februar, würdigten die Stadtverordneten in ihrer Versammlung die Leistungen der Kleingärtner unserer Stadt. Wir 109 Kleingärtner hatten neben unserem Eigenverbrauch 3.155,5 Kilogramm Obst, darunter 315 Kilogramm Erdbeeren, an den VEAB oder gleich an die Obst- und Gemüseverkaufsstellen verkauft. Dazu kamen noch fast 500 Kilogramm Gemüse und 4.000 Stück Eier. Nicht alles wurde erfaßt, denn ein Teil unserer Produkte fand ohne amtliches Ablieferungsdokument den Weg zu Freunden und Bekannten. Auf Empfehlung des Bürgermeisters delegierten wir einen Gartenfreund in die Ständige Kommission Landwirtschaft, damit er unsere Interessen dort wahrnehme.

In einem Jahr passierte es, daß wir - ich meine meine Familie - uns zu spät um Gurkensamen kümmerten. Von überall tönte uns das bekannte „Ham wa nich“ und „Kriegen wir auch nich wieder rein“ entgegen. Aber den umgeschaufelten Komposthaufen wollten wir im Sommer schon grün haben. Also erstanden wir für 20 Pfennige ein Tütchen Kürbissamen. Inhalt fünf Kerne. Wir hatten damals ein spätes Frühjahr, und so erblickten in der guten Stube auf dem Fensterbrett, in Töpfen schön verteilt, drei Kürbispflanzen das Licht der Welt und streckten ihre grünen Blätter der Sonne entgegen. Im Sommer haben wir viel Wasser geschleppt, doch der Mühe Lohn wurde allmählich sichtbar. Karli, Paul und Inge begannen zu schwellen. Als sie noch klein waren, ritzte ich mit meiner Hippe diese Namen in die Kürbishaut.

Trotz aller Liebe und Sorgfalt bekamen wir aber nur Karli groß. Als dann nach dem damaligen „milden Winter“ der Garten geräumt wurde, wanderte Karli zunächst in den Keller. Wir waren uns einig, da konnte er nicht bleiben. Wer will einen Kürbis haben? „Können Sie bringen“, sagte man im Gemüseladen in der Allee. „Aber dafür gibt es nicht viel.“ In der Annahmestelle in der Unterstadt sagte der Handelsmann: „Bringen Sie ihn runter“, und er nannte einen Preis, der gut klang. Allerdings stellte sich nachher heraus, das war der Preis für einen Doppelzentner. So schwer war Karli aber nicht.

Mutter und der richtige Karli luden nun den Kürbis-Karli auf den Handwagen. Ein Kissen wurde untergelegt, damit der Kürbis-Karli nicht hart liege. Durch ganz Ballenstedt ging es so, vom Westende bis zum Ostende. Karli hielt den Kürbis-Karli noch mit einem Kälberstrick fest, damit er ja nicht runterkullere, und Mutter zog den Handwagen. Herr Lühr, Chef der Annahmestelle empfing die Prozession persönlich. Vorsichtig legten Mutter und Karli den Kürbis-Karli mitsamt dem Kissen auf die Waage. Herr Lühr meinte, es sei besser ohne Kissen, wegen des Gewichtes, und zog dem Kürbis-Karli das Kissen weg. Ganz vorsichtig. „Das ist schön, daß Sie uns einen Kürbis bringen“, sagte Herr Lühr. „Dieses Jahr war es kein gutes Gurken- und Kürbisjahr. Und jedes Jahr kommt eine Frau, die gern einen Kürbis haben möchte. Ich dachte schon, daß es diesmal nicht klappen wurde, und nun geht ihr Wunsch doch noch in Erfüllung.“ Der Kürbis-Karli hatte seine guten zehn Kilo. Herr Lühr ging in sein Kontor, setzte die Brille auf und fuhr mit dem Finger auf einer großen Liste hoch und runter, bis er die Stelle fand, wo sich Kilo und Mark trafen. Er nannte dann den Preis. „Ja, Karli“, sagte Mutter, „dafür kriegst du keine Eisenbahn“. Das meinte Herr Lühr auch, und da er Karli nicht enttäuschen wollte, suchte er nach einer anderen Liste. Da standen sicherlich die Kürbisse darauf, die nicht auf den Feldern wachsen, sondern die von kleinen Jungen ganz besonders gut in Schrebergärten gepflegt werden. Trotzdem, es reichte nicht für eine Eisenbahn. „Es ist schade“, sagte Mutter, „daß wir Inge in diesem Jahr nicht großgekriegt haben und daß auch Paulchen verfault ist.“ Da stutzte Herr Lühr doch sehr, bis er merkte, daß wir unsere Kürbisse mit Namen geritzt hatten.

Die Entwicklung nahm manchmal einen Lauf, über den man sich nur wundem konnte. Es war in einem der letzten Jahre der DDR, da kam meine Frau nach dem Verkauf eines Eimers voll Stachelbeeren zurück. Ganz entsetzt hielt sie mir zwei Zwanzig-Mark-Scheine unter die Nase: „Das kann doch nicht wahr sein! Da muß doch die Republik kaputtgehen.“ Es war so: Wir erhielten für die Beeren das Doppelte von dem, was der Kunde im Laden zu bezahlen hatte. Beispiele wurden bekannt, wo die Früchte im Laden gekauft wurden, um sie gleich wieder zum doppelten Peis zu verkaufen. Das gab Diskussionen. Eines Tages kam ich im Rathaus mit einem Funktionär höherer Ebene darüber ins Gespräch. Um einzulenken, sagte ich: „Die Genossen in Berlin werden sich schon etwas dabei gedacht haben Über irgendein Ventil wird sich das Ganze schon ausgleichen.“ Da schaute mich mein Gesprächspartner verwundert an: „Der liebe Gott erhalte dir deinen Kinderglauben. Die in Berlin solche Gesetze machen, wissen weder, wie es in einem Kleingarten aussieht, noch gehen sie im Konsum einkaufen.“ So kam dann eben 1989, was kommen musste.

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 Heute spricht kein Mensch mehr darüber. Man dreht den Wasserhahn auf, und schon kommt „Wasser aus Wand“. Das war nicht immer so.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Bevölkerungszahl Ballenstedts durch Umsiedler und Flüchtlinge vergrößert. Industriebetriebe hatten ihre Produktion wieder aufgenommen Neue waren entstanden. Damit stieg auch der Wasserbedarf Jedes Jahr im Sommer, wenn der Wasserverbrauch sowieso höher war, besuchten etwa 2.600 Kinder unsere Stadt. Sie kamen aus den großen Städten unserer Republik und verlebten fröhliche Ferientage in Zelten auf der Bienenwiese und in zu Ferienlagern umfunktionierten Schulen.

Für uns alle kam das Wasser aus dem Klüsing-Stollen. Dieser war 1621 angelegt worden, um das Wasser aus den Stollen des Steinkohlenbergbaues abzuziehen. Das tat er auch. Als es den Steinkohlenbergbau in Ballenstedt nicht mehr gab, versorgte er uns. Wenn aber dann durch den erhöhten Verbrauch in den Sommermonaten das Wasser im Stollen zur Neige ging und der salzige Bodensatz mit „aus der Wand“ kam, wurde es kritisch. Auswärts arbeitende Bürger brachten sich das Kaffee- oder Teewasser in kleinen Milchkannen oder Henkeltöpfchen von ihren Arbeitsstellen mit. Nachts gingen die Frauen zum Wasserholen in die Keller, denn der Druck reichte schon nicht für die oberen Etagen in den tiefer gelegenen Straßen, von den höheren ganz zu schweigen. Und das Krankenhaus liegt auf einem Berg!

Die Lage wurde katastrophal. Um für die Stadt neue Wasserquellen zu erschließen, brauchten wir mindestens 1.600 Meter Rohre. Berlin gab nur 400 Meter frei. Daraufhin fuhr der Bürgermeister am 11. August 1953 zum Ministerpräsidenten nach Berlin. Dort erfuhr er, daß mit Westdeutschland ein Vertrag über 8 000 Tonnen Rohre abgeschlossen sei. Doch der Vertrag wurde von der BRD nicht realisiert. Es war Kalter Krieg.

Ein Regierungsvertreter flog nach Moskau. Er erhielt eine Zusage über 7.000 Tonnen Rohre, Lieferung noch im gleichen Jahr. Im Dezember 1953 lagen der Anger und die angrenzende Krumme Straße voll mit Rohren aus der Sowjetunion.

Das ganze Jahr 1954 hindurch war der Wasserleitungsbau unser Schwerpunkt Nr. 1 im Nationalen Aufbauwerk. Baggerkapazitäten standen für uns nicht zur Verfugung, also mußten wir die Gräben selber ausheben. Sonntag für Sonntag sah man Schulen, Betriebe und Bevölkerung mit Schaufel und Spaten hinausziehen. Ende Mai war der Anschluß an das Selketal hergestellt. Die größte Kalamität war behoben.

Zur endgültigen Absicherung der Wasserversorgung war nun die vier Kilometer lange Leitung zum höher gelegenen Siebersteinsteich in Angriff zu nehmen. Mit Energie und Tatkraft waren die Schüler der Erweiterten Oberschule „Karl Liebknecht“ unter Mitwirkung ihres „Direks“ dabei. Die Arbeiten dauerten bis Ende '54, und ihnen blieb die Pike förmlich im Novemberschlamm stecken. Doch fünfzigmeter- um fünfzigmeterweise arbeiteten sie sich an das Ziel heran. Auch Quedlinburger FDJler hatten sich zum Einsatz bereit erklärt. Aber da war dann wieder kein Fahrzeug für den Personentransport da. Verschwitzt und verschmutzt kehrten Lehrer und Schüler allabendlich nach Hause zurück. Der Unterricht fiel aus und mußte nachgeholt werden.

Was immer man in späteren Jahren in Ballenstedt über die Jugend sagen möge - wie leicht ist etwas vom Zaune gebrochen -, dann sollten die Ballenstedter nie das Jahr 1954 vergessen. Es war die Jugend, die ihre Wasserversorgung absicherte. Dabei beziehe ich die Studenten der Fachschule für Forstwirtschaft und die der Bezirksparteischule der SED „Wilhelm Liebknecht“ ein.

So bin ich auch der Überzeugung, daß die Jugend von heute ebenfalls zu solchen Einsätzen bereit wäre, wenn die Umstände es erfordern und ihnen entsprechende, notwendige Aufgaben gestellt werden.

 

* * *

 

In der Frühe dieses Tages lauschten wir gespannt den Ausführungen des Ministerpräsidenten der DDR. Als wir Grund und Ursache der in der Nacht zum 13. Oktober 1957 beschlossenen Maßnahme erfuhren, erfüllte uns Genugtuung darüber, mit welcher Wendigkeit und Kühnheit unsere Regierung ein derartiges Problem innerhalb weniger Stunden zu lösen in der Lage war.

Überall, ob auf den Straßen, in Gaststätten, in Wohnungen oder sonstwo war das Thema „Sputnik“ von vorgestern durch ein neues, „Umtausch des Geldes“, ersetzt worden. Vorherrschend war Schadenfreude darüber, daß denen, die bisher vom Schwindelkurs profitierten, eins ausgewischt worden war. Einige ältere Damen gerieten in Panik, weil sie mit dem Umtausch eine Entwertung kommen sahen. Doch alle anderen brachten der Anordnung Ruhe und Verständnis entgegen.

Meine Frau lag wegen eines Leistenbruches im Krankenhaus, und ich eilte zu ihr. Dabei bekam ich von anderen Patientinnen Zettel für ihre Männer mit, auf denen sie kundtaten, wo im Haus in welchen Büchsen die Haushaltsreserven lagen. Die Männer staunten nicht schlecht.

Für Stadtverwaltung, Sparkasse und Notenbank und für die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Nationalen Front unserer Stadt kam die 8-Uhr-Durchsage überraschend. „Natürlich gab es Anlaufschwierigkelten“, sagte mir der Vorsitzende der Nationalen Front danach. 250 Mitarbeiter kamen zum Einsatz, und sie mußten mit den Gesetzen und der örtlichen Durchführung vertraut gemacht werden. In kurzer Zeit waren 36 Umtauschstellen besetzt.

Das neue Geld sollte um 12 Uhr kommen. Hier gab es eine Verzögerung. Aber um 19 Uhr konnte sich der Vorsitzende der Nationalen Front davon überzeugen, daß der Ansturm abebbte.

Es war eine tolle Sache. Kein System macht uns das nach. Leute von der Straße holen, ihnen Millionen in die Hand drücken und sagen, das sei umzutauschen. Und abends stimmten die Kassen.

 

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Es war 1976 am Nikolaustag. Nicht, daß mir dieser alte Herr im Coca-Cola-Mantel etwas in die Schuhe geschoben hatte, es war der Ausschuß des Wohnbezirkes 1 in Ballenstedt, der mich zu seinem Vorsitzenden erkor. Das heißt, der mich „einstimmig wählte“. Lange vorher schon war in Abständen dieses Ansinnen an mich gestellt worden. Doch solange ich auswärts arbeitete, alle 12 Stunden, früh um 6 Uhr und abends um 6 Uhr wieder, auf dem Bahnsteig in Ballenstedt stand, ließ das mein persönlicher Zeitfonds nicht zu.

Dieser unser Wohnbezirk war etwa im 16. Jahrhundert entstanden, als es in den Mauern der Altstadt zu eng wurde. Der gerade Weg zum Schloß wurde beiderseitig bebaut. Ab Allee-Mitte bis zum Schloß bildete dieser obere Teil unsere Südbegrenzung. Das Schloß beherbergte seit 1945 eine Fachschule für Forstwirtschaft. Zwar führte die Schule keine erweiterten Rekonstruktionsarbeiten durch, hat jedoch durch das Bewohnen und damit durch eine einfache Rekonstruktion diesen Gebäudekomplex vor dem Verfall bewahrt. Die Westgrenze bildet ein Park, an welchem sich der Generaldirektor der königlichen Gärten in Preußen, Peter Joseph Lenné (1789-1866), Verdienste erworben hatte. Damals war es der Schloßgarten, 40 Jahre hieß er „Friedenspark“, und nach der „Wende“ wurde er flugs in „Schlosspark“ umbenannt. Östlich begrenzte uns die Bebelstraße von Mitte Allee bis zum Westbahnhof, und nach Norden war unsere Grenze offen durch Wiesen und Felder. Hier entstanden zur DDR-Zeit eine Anzahl Bodenreform-Gärten, die Neubauernsiedlung Felsenkellerweg 1-7, vier Wohnblöcke für die Werktätigen der Land- und Forstwirtschaft und die Kleingartenanlage „Harzblick“. Weitere sechs Eigenheime entstanden am „gelben Haus“, einem ehemaligen Chaussee-Haus, und acht Eigenheime in den Straßenlücken unseres Wohngebietes. Hier hatte das Wohngebiet zu DDR-Zeiten eine Produktivität von 12 Tonnen Obst, 60 Schweinen, 1.300 Hühnern und anderem Federvieh, 115 Bienenvölkern und einer nicht erfaßten großen Anzahl Langohren. Erwähnt seien noch zwei Stück Großvieh und ebenso viele Ponys. Wohlgemerkt, hier handelt es sich nicht um erfaßte Kapazitäten der Landwirtschaft, sondern um die Freizeitgestaltung der Bürger.

Profiliert hatten sich ferner in vorhandenen Gebäuden eine pädagogische Schule für Kindergärtnerinnen, eine allgemeinbildende polytechnische Hilfsschule und die LPG-Gärtnerei. Ferner entstand eine Lagerstation für die Obstproduktion der LPG und eine Heimstätte für die Züchter von Dienst- und Gebrauchshunden mit Anlage.

Das alles war schon ein schönes Wohngebiet. Ein 33köpfiges Team von Ausschußmitgliedern und Straßenvertrauensleuten bemühte sich auch 1976 um den Titel „Bereich der vorbildlichen Ordnung und Sicherheit“. Er wurde erreicht und dann regelmäßig verteidigt. So konnten bis 1989 etwas über 7,5 Millionen Mark Eigenleistungen sowohl bei der einfachen Werterhaltung, bei Erweiterungen und bei Verschönerungen sowie Reinigungsarbeiten nachweisbar abgerechnet werden. Wir hatten eine glückliche Hand. Abgeordnete, Ausschußmitglieder und Straßenvertrauensleute engagierten sich nicht nur allseitig, sondern sie haben die Leistungen der Bürger auch sichtbar gemacht. Beides führte zu vorderen Plätzen im Wettbewerb mit den anderen sieben Wohnbezirken unserer Stadt. Als Krönung wurde der Wohnbezirk 1 durch den Rat des Bezirkes Halle und den Bezirksausschuß der Nationalen Front mit dem Ehrentitel „Schöner Wohnbezirk“ ausgezeichnet. Die Leistungen der Bürger in den anderen Wohnbezirken waren nicht geringer. Aber Anstrengungen allein nützen wenig. Man muß sie auch sichtbar machen.

In unserm Wohnbezirk haben bis 1989 in 170 Häusern 1.200 Burger gewohnt, davon 200 Rentner. Genau wie 1959 der eingerichtete Kinderspielplatz verbunden war mit den Namen der Straßenbewohner, sind es auch hier Namen, Namen und immer wieder Namen, die hinter den abgerechneten Leistungen stehen. Das war in der ganzen Stadt so. Denn was blieb uns anderes übrig? In den letzten DDR-Jahren erhielt die Stadt eine jährliche Baukennziffer zur Rekonstruktion von 15 Wohnungen. Damit allein aber konnte man eine knapp 10.000 Einwohner zählende Stadt nicht vor dem Verfall retten. Auch wenn dabei Berlin, Hauptstadt der DDR, immer schöner wurde.

Am 12. November 1993 erschien in der Lokalpresse: „Ballenstedt hat 3,2 Millionen DM Altschulden zu zahlen“, und weiter heißt es, „. ..daß Ballenstedt vergleichsweise gut dran sei“. Ohne eine Polemik über „Altlasten“ anzufangen: Hier wurden uns nachträglich die hohen Eigenleistungen der Bevölkerung, von Betrieben, Handwerk und Institutionen bestätigt.

Im August 1988 besuchten uns in Stadt und Betrieb Nachfahren der Don-Kosaken aus dem Don-Gebiet. Unter ihnen eine Frau, die Germanistik studiert hatte und mit der ich mich auch auf Englisch gut unterhalten und verständigen konnte. Im Ergebnis ihrer Besichtigungen und Erlebnisse sagte sie: „You have done a hard work!“

 

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Der 1. Juli 1949 gilt als Geburtstag des VEB Hydraulik Ballenstedt, jetzt zur Linde AG gehörend.

Der Zweite Weltkrieg hatte eine Werkstatt der Junkerswerke hinterlassen. Sie war in der Turnhalle am Anger, im Schützenhaus, ebenda, und in Räumlichkeiten der Schützenstraße, jetzt Schillerstraße, untergebracht. Hier wurden nun Waren des täglichen Bedarfs, wie Rübensaftpressen, Teigrührmaschinen, Tabakschneidemaschinen, Ersatzteile für LKW und Traktoren der Vorkriegszeit und einige zeitgemäße Produkte mehr hergestellt. Zum oben genannten Datum wurde der Betrieb in den Verband der kommunalen Wirtschaft des Kreises Quedlinburg aufgenommen und nannte sich VEB(K) Mechanische Werkstätten, wobei das (K) für „kommunal“ steht. Mit der Republik wuchs auch der Betrieb oder umgekehrt, mit der Wirtschaft wuchs auch die Republik. Die Produktion änderte sich, die Belegschaft vervielfachte sich und die Technologie wurde durch flexiblere Maschinensysteme abgelöst. Damit änderte sich der Name in VEB(K) Hydraulik Ballenstedt. Dem Betrieb ward die Aufgabe gestellt, mit Hydraulikelementen eine wissenschaftlich-technische Revolution mitzubestimmen. Mir ward das Glück zuteil, aber auch die Freude und die Ehre, diesen Betrieb jahrelang als Hauptbuchhalter zu begleiten. Ja, noch fünf Jahre über mein Rentenalter hinaus als „graue Eminenz“ im Rechnungswesen des Betriebes zu wirken.

Mit der Entwicklung der Wirtschaftspolitik entwickelte sich auch die betriebliche Sozialpolitik. Bungalows und Urlaubsplätze an der Ostsee und in anderen schönen Gegenden unserer Republik standen zur Verfügung. Das Sportcenter der BSG Hydraulik entstand, und am benachbarten Brauberg wurde unter maßgeblicher Beteiligung der Kollegen und Kolleginnen eine Gaststätte eingerichtet, denn Gaststätten waren in Ballenstedt Mangelware.

Alljährlich treffen sich auf Einladung der „Linde AG, Werksgruppe Flurförderzeuge und Hydraulik, Werk VI, Ballenstedt“, so heißt der Betrieb heute, ehemalige „Hydraulik-Mitarbeiter“. So auch im vergangenem Dezember. Der kleine Betrieb in dieser kleinen Stadt überschritt 1998 in der Produktion die 30 Millionen DM, erreichte eine Pro-Kopf-Leistung von 200 TDM, hat 168 Beschäftigte, darunter vierzehn Auszubildende.

„Daß es heute so gut um das Werk steht, was auch dem Umfeld, der Region zugute kommt“, so der Betriebsratsvorsitzende zu den Anwesenden, „dafür habt ihr den Grundstein mit gelegt“, und der Redner sprach uns dafür auch den Dank aus. Etwas leiser, aber mit ebensolchem Stolz, wurde gesagt, daß kein Wessi im Betrieb arbeitet, in keiner Etage.

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Am 13. Juni 1999 war wieder einmal eine Wahl gewesen. In Vorbereitung dazu sagte ein Herr Robert Becker, Vorsitzender der CDU in Kronberg (Westdeutschland), in einem Bürgerbrief der CDU Ballenstedt im März 1999: „Wenn auch 10 Jahre nach dem Fall der Mauer noch nicht alle Wünsche erfüllt wurden, so haben wir jedoch in diesen 10 gemeinsamen Jahren mehr erreicht, als in den 40 Jahren Machtausübung durch die SED.“

Ballenstedter, die hier 40 Jahre oder auch länger gelebt, geliebt, gelitten und gearbeitet haben, die hier die Folgen des Krieges - sei es die Bewältigung des Stromes der Flüchtlinge und Umsiedler, seien es die Demontagen und die Reparationsleistungen bis 1953 - überwunden haben, die hier eine Industrie und Landwirtschaft aufbauten, die sie ernährte, bekleidete und versorgte, die half, ihre Kinder zu erziehen und ihnen eine Ausbildung angedeihen ließ, um die eine westdeutsche Industrie heute wirbt, müssen sich sehr gewundert haben, mit welcher Ahnungslosigkeit, Oberflächlichkeit oder gar Unverfrorenheit ein Westdeutscher, der 1990 erstmals in Ballenstedt war, ein solches Urteil aussprach. Selbst seiner eigenen Partei hat er damit einen schlechten Dienst erwiesen. Sie verlor 20 Prozent ihrer Sitze im Stadtrat und damit die absolute Mehrheit. Obwohl seine Partei in der BRD zu dieser Zeit einen Aufwärtstrend verzeichnen konnte, war es in Ballenstedt umgekehrt.

Haben wir wirklich 40 Jahre verschlafen, gefaulenzt, nur vor der „Glotze“ gesessen? Haben wir 40 Jahre umsonst gelebt, wie manche von sich behaupten? Ich habe versucht, an nur wenigen Beispielen aus meinem Erleben darzustellen, daß dem nicht so war. Denn wie sagte doch die Kosakenfrau: „You have done a hard work!“

                        Hans-Jürgen Meyer 


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