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Vom Glück, Menschen helfen zu können

  Mein Name ist Renate Rzesnitzek. Geboren wurde ich 1938 in Berlin Prenzlauer Berg; 4. Stock Hinterhaus, Stube und Küche. Wir lebten zu viert glücklich und zufrieden in dieser Einzimmer-Wohnung, bis mein „großer“ Bruder, dreizehn Jahre älter als ich, mit 17 Jahren in den Krieg mußte und wir 1943 zum ersten Mal beim Bombenangriff unsere Wohnung verloren.

Überglücklich waren wir aber, daß unsere Familie im Unterschied zu anderen Verwandten den Krieg trotz mehrfachen Ausbombens und insgesamt sechs Jahren Front und Kriegsgefangenschaft meines Bruders lebend überstand.

Als wir im April 1945 endlich aus den Luftschutzkellern konnten, sagten wir, wie so viele: „Nie wieder Krieg, lieber trocken Brot ein Leben lang“. Ich werde die schrecklichen Erlebnisse und Ängste des Krieges nie vergessen. Deshalb nahm und nehme ich auch in der Gegenwart an allen Antikriegs-Demonstrationen, Protesten und Unterschriftensammlungen, z. B. gegen den Kosovo-Krieg, teil. Kriege sind niemals Mittel zur Lösung von Konflikten, sie verschärfen sie. Das Töten unschuldiger Menschen ist durch nichts zu rechtfertigen.

Zurück zu meiner Biographie: Der Schulunterricht wurde zwar zeitweilig unterbrochen, aber durch Überspringen einer Klasse konnte ich trotzdem im Jahre 1956 die Reifeprüfung ablegen. Meine Mutter war Fabrikarbeiterin, unser Vater Anstreicher. Beide wünschten uns Kindern ein leichteres Berufsleben. Mein Bruder wurde Neulehrer, ich Außenhandelskaufmanns-Lehrling beim Deutschen Innen- und Außenhandel - Textil, im Spitzenkontor. Eigentlich ein schönes Gebiet für eine Achtzehnjährige: Ich sah in meinen Ausstellungsräumen die prächtigsten Stoffe, Plauener Spitze, hübsche Wäsche, Pullover u. a., alles unter schwierigen Bedingungen hergestellt, aber in unseren Geschäften damals nicht anzutreffen. Trotzdem fand ich keine Freude an diesem Büroleben und wäre sicher auch keine „geschäftstüchtige“ Kauffrau geworden.

Als ich 19 Jahre alt war, erkrankte mein Vater an Lungenkrebs und verstarb nach kurzem schwerem Leiden. Meine Mutter war nahe am Rentenalter und nicht mehr berufstätig, so daß ich den Lehrvertrag (mit monatlich 40 Mark Lehrlingsentgelt) lösen mußte, um Geld zu verdienen.

Ich wollte praktische Arbeit leisten. So wurde ich Hilfslaborantin der Humboldt-Universität, zunächst in der Landwirtschaftlichen Fakultät, später in der Veterinärpharmakologie. Hier hatte ich auch Hörsaaldienst und war in praktischen Kursen für Studenten tätig. Da aus meiner Familie zuvor niemand studierte, kam ich trotz Abitur nicht auf die Idee, selbst einmal ein Studium zu beginnen. Erst durch den Kontakt mit den Studenten bemerkte ich, daß sie auch viele offene Fragen hatten und nicht nur klug und weise waren.

Um nicht länger als ungelernte Kraft zu arbeiten, besuchte ich zwei Jahre lang die Medizinische Fachschule und war anschließend zwei Jahre als Röntgen-Assistentin im Krankenhaus Weißensee tätig. Das bedeutete damals „Knochenarbeit“, denn 1961 gingen zwei private Röntgen-Institute aus Weißensee nach Westberlin, so daß wir mit unserer damaligen Technik viel Mühe hatten, die Patienten eines großen Einzugsgebietes rund um die Uhr zu versorgen. Hier lernte ich wiederum, daß Ärzte auch nur Menschen und keine Halbgötter sind. Nun hatte ich den Mut, mich zum Medizinstudium zu bewerben.

Zu meiner großen Freude wurde ich vorimmatrikuliert und meine bisherige Tätigkeit sogar als „praktisches Jahr“ anerkannt, das damals gerade für die Bewerber zum Medizinstudium eingeführt wurde.

In dieser Zeit konnte man Mitglied einer AWG mit Aussicht auf eine Neubauwohnung werden, wenn man sich auch zu bestimmten Eigenleistungen verpflichtete. So ging ich nach meiner täglichen Arbeit oft noch als Wächterin in kleine Betriebe oder auf Baustellen. Wiederholt wurde ich von der Zentrale gewarnt, da z. B. auf den Baustellen Omnibusbahnhof und Milchhof mehrfach Sabotage verübt wurde. So freute ich mich stets, wenn sich der ABV in meiner Hütte etwas aufwärmte und mir die Angst nahm. Während dieser Wächtertätigkeit lernte ich gleichzeitig für das Kleine Latinum und die Vorbereitungsprüfungen zum Studium. Diese Doppel- und Dreifachbeschäftigung empfand ich damals nicht als Belastung. Denn ich konnte es kaum fassen: studieren zu dürfen ohne finanzielle Probleme und gleichzeitig eine Neubauwohnung in Aussicht zu haben - beides war in meiner Familie erstmalig. Ich fühlte mich sehr, sehr reich.

Mein Stipendium betrug einschließlich Leistungsstipendium monatlich 245 Mark. 43 Mark kostete die Miete unserer Zweieinhalbzimmer-Wohnung, 9 Mark die BVG-Monatskarte, 15 Mark die Mensa-Monatskarte. Neben weiteren Ausgaben zum Lebensunterhalt blieb noch Geld für regelmäßige Theaterbesuche und Bücher. Ein Theateranrecht für Studenten war sehr preiswert, und im Sommer gab es oft Karten für nur 50 Pfennige. Wenn es unsere Zeit erlaubte, kannten wir fast den gesamten Spielplan.

Bis zum August 1961 gingen wir gelegentlich nach Westberlin in Jazz-Konzerte, z. B. mit Louis Armstrong und Ella Fitzgerald. Dort kamen wir mit jungen Menschen ins Gespräch, die uns etwas verkaufen wollten: Eis, Bücher, Zeitschriften u. a. Wenn wir dann zögernd sagten, daß wir zwar in die Konzerte gingen, aber kein Geld für weitere Ausgaben hatten, da wir aus Ost-Berlin kamen, meinten sie, daß wir es gut hätten. Sie mußten arbeiten, um studieren zu können, wenn das Elternhaus keine Unterstützung gewähren konnte. Das gab es bei uns nicht; es sei denn, Studienkollegen hatten schon eine Familie oder sie lebten über ihre Verhältnisse.

Nach dem Ende meines Studiums im Jahre 1968 waren nur wenige „Berlin-Stellen“ im Angebot, so daß auch die meisten Berliner ihre Facharztausbildung in der DDR erhielten. Ich bekam zunächst einen Ausbildungsvertrag für das Krankenhaus Eberswalde. Da es dort aber keinerlei Wohnraum für mich gab, wurde ich doch zur Facharztausbildung (Radiologie) in die Geschwulstklinik der Berliner Charité delegiert.

Diese Tätigkeit war psychisch sehr belastend: oft genug Kinder und Jugendliche sterben zu sehen, nur lindern und nicht helfen zu können. Ich versuchte immer wieder, Trost und Hoffnung zu geben, und ein Patient erzählte mir einmal, daß man mich „Doktor Sonnenschein“ nenne; aber keiner sah, daß ich oft weinend den Heimweg antrat. Ich besuchte meine Patienten manchmal auch außerhalb der Dienstzeit. So ging ich mit einer jungen Frau kurz vor ihrem Tode an einem Sonntag zum Palast der Republik. Ihr Mann mußte die drei kleinen Kinder versorgen und konnte nicht jedes Wochenende aus der Republik nach Berlin kommen.

Nach sieben Jahren hatte ich keine Kraft mehr für das tägliche menschliche Leid. Heute kaum vorstellbar: Ich kämpfte ein Jahr mit dem Direktor der Charité, dem Klinikdirektor und anderen, um die Charité verlassen zu dürfen.

Danach wechselte ich zunächst in die Betriebspoliklinik des Fleischkombinates, der Leiteinrichtung des Betriebsgesundheitswesens im Prenzlauer Berg. Hier lernte ich die schwere Arbeit der Fleischer schätzen. (Bei jedem Schnitzel müßte man sich indirekt vor der Leistung dieser Menschen verbeugen, war meine Meinung.) Die Röntgenabteilung der Betriebspoliklinik hatte leider eine sehr leistungsschwache Röntgeneinrichtung, wodurch die Aussagefähigkeit der Aufnahmen eingeschränkt war. Der „Geräteverteiler“ von Berlin, befreundet mit dem Charité-Direktor, wollte mir kein neues Röntgengerät geben, ich solle zur Charité zurückkehren. So etwas gab es eben auch. Eines Tages wurde dieser Herr aber abgelöst.

Durch viel persönliches Engagement gelang es mir später, eine leistungsstärkere Röntgeneinrichtung einbauen zu lassen. Bei Herstellung der Baufreiheit für die viel gefragten Röntgentechniker unterstützte uns die Betriebsleitung mit Handwerkern und Material beinah rund um die Uhr. Sie zeigte auf diese Weise ihr großes Interesse an einer guten medizinischen Versorgung der Arbeiter und Angestellten. Leider schätzten das nicht alle Betriebsangehörigen. In der Geschwulstklinik waren mir die Patienten für jede Linderung und Hilfe dankbar gewesen. Im Fleischkombinat erkannten dagegen viele junge Menschen nicht den Wert der Gesundheit. Sie versuchten, sich besonders in den Sommermonaten durch Krankschriften zusätzlichen Urlaub zu verschaffen. Als Mitglied der damals eingerichteten Betriebsärzte-Beratungskommission wurde ich oft beleidigt und sogar bedroht, wenn wir die nachweislich gesunden jungen Menschen wieder arbeitsfähig schrieben. (Wie ich später erfuhr, wiesen auch die Krankheitsstatistiken anderer Länder einen Gipfel junger Männer auf; insbesondere dann, wenn sie noch keine Verantwortung, z. B. für eine Familie, übernommen hatten.)

Im Fleischkombinat wurden stets Vertragsarbeiter aus Polen, Mocambique, der Mongolei und anderen Staaten beschäftigt. Eigentlich sollten nur gesunde, im Heimatland untersuchte Menschen in die DDR kommen. Trotzdem mußten wir bei unseren Einstellungsuntersuchungen oft schwere Erkrankungen der Lunge, Leber, Nieren u. a. feststellen. Diese Patienten wurden dann nicht nach Hause „abgeschoben“, sondern fanden Aufnahme in Spezialkliniken (Berlin-Buch) und wurden manchmal monatelang kostenlos behandelt. Das war die praktische Solidarität der DDR. Wir sammelten für diese Patienten - u. a. durch Solibasare - Geld, damit sie sich bei uns z. B. neue Schuhe oder Kleidung kaufen konnten. Welch krasser Gegensatz nach der „Wende“, als mich z. B. ein verzweifelter Vater aus Rußland mit seinem an einem Tumor erkrankten Kinde ansprach! Ärzte aus der Charité bzw. aus Berlin-Buch waren zur Operation bereit, doch fehlten die finanziellen Mittel. Sehr oft wird heute in den Medien um Geld für schwerkranke ausländische Kinder oder Jugendliche gebettelt - das macht mich immer wieder traurig und wütend zugleich. Die „arme“ DDR hatte für diese humanistischen Gesten keine Bettelei nötig!

Quelle Bildarchiv d Märk .Allgem.

Qualifizierte medizinische Behandlung und Ausbildung in der Fachstation für Tropenmedizin der Karl-Marx-Universität Leipzig

  Fachärzte für Radiologie waren damals rar. So wurde man oft von mehreren Einrichtungen gleichzeitig angesprochen, wenn man den Wunsch nach Veränderung äußerte. Zunächst überzeugte mich die Amtsärztin von Prenzlauer Berg, daß die Schwerpunktpoliklinik in der Christburger Straße unbedingt meine Unterstützung brauchte. Als dann der neue Stadtbezirk Hohenschönhausen gebildet und die erste Poliklinik in der Reichenberger Straße eröffnet wurde, fehlte ein Leiter der Röntgen-Abteilung. Ich übernahm diese schöne neue Aufgabe, war für längere Zeit der einzige Radiologe dieses Stadtbezirks und arbeitete inmitten eines großen, engagierten Kollegenkreises. Mein einziges Problem war der lange Anfahrtsweg. Im Winter kam es vor, daß die Straßenbahnen ausfielen und ich bei Eis und Schnee eineinhalb Stunden zu Fuß gehen mußte. Außerdem betreute ich mehrmals wöchentlich meine Mutter, weil ich sie nicht in ein Heim geben wollte. So war mir später das Angebot der Betriebspoliklinik des Handels am Alexanderplatz sehr willkommen. Meine täglichen Wege verkürzten sich dadurch erheblich.

Dieses Haus am Alex gehörte vordem der Sparkasse. Bis 1990 waren neben einer Sparkassenfiliale große Möbel- und Kunstgewerbe-Geschäfte, mehrere Werkstätten und auf zwei Etagen die Betriebspoliklinik des Handels untergebracht.

Nach der „Wende“ erhielt die Sparkasse ihr Eigentum zurück, alle anderen Einrichtungen mußten das Haus verlassen. Es wurde aufwendig restauriert, im Erdgeschoß und Keller mieteten sich Geschäfte und Gaststätten ein.

Lange hoffte unsere Poliklinik, in kleineren Räumen überleben zu dürfen. Ich versuchte, nicht mehr benötigtes Mobiliar und ähnliches anderen Einrichtungen zu übergeben. So freuten sich die Beschäftigten eines ABM-Projekts für Grünanlagen über unsere Metallschränke, da sie diese für ihre Arbeitskleidung benötigten. Im Gegensatz dazu hörte ich damals von Patienten, daß in den aufzulösenden Gaststätten (z. B. dem Rathauskeller), Läden und Dienststellen auch das noch Verwendbare unbedenklich „entsorgt“ wurde.

Aber als ich eines Tages unsere Poliklinik betrat, stand da ebenfalls ein großer Müllcontainer, der eben mit neuen, noch verpackten Glasspritzen beladen wurde Der vom Stadtbezirk eingesetzte „Abwickler“ - unser ökonomischer Leiter - wollte den bestell ten Container unbedingt füllen und abholen lassen, was ich (beinahe mit körperlichem Einsatz) verhinderte Die geretteten Spritzen brachte ich danach zur russischen Botschaft bzw. gab sie unseren inzwischen niedergelassenen Kollegen, die sich ja schon mit anderen Dingen hoch verschulden mussten.

Obwohl meine Röntgen-Abteilung als einzige Fachabteilung schwarze Zahlen schrieb, ich zwei schwerbehinderte Mitarbeiter hatte und zwei weitere Röntgen-Abteilungen im Stadtbezirk mitbetreute, mein Mann bereits arbeitslos war und sich unsere Tochter in Ausbildung befand, wurde ich als nächste entlassen, sicher auch, weil ich dem Ökonomen bei seinem hemmungslosen „Aufräumen“ zu unbequem war. Dank der Unterstützung eines Rechtsanwalts mußte er die ungerechtfertigte Kündigung später zurücknehmen. (Allerdings rief er mich nach ca. einem halben Jahr an, um mir Mobiliar aus weiteren aufzulösenden Polikliniken, z. B. in der Leipziger Straße, anzubieten. Im Interesse der Bedürftigen brachte ich alles Verwendbare auf den Weg.)

Zunächst hatte ich Glück und konnte in der Röntgen Abteilung der Poliklinik „Theodor Brugsch“ in Marzahn arbeiten, bis die Abteilung privatisiert wurde. Dieses mit einer hohen Verschuldung verbundene Risiko wollte ich im Alter von 54 Jahren und mit einem arbeitslosen Ehemann nicht mittragen. Glücklicherweise suchte die ehemalige Bauarbeiterpoliklinik in Marzahn einen zweiten Radiologen und übernahm mich. Da ich aber im „Überhang“ des Senats blieb, konnte ich überall kurzfristig eingesetzt werden und war oft gleichzeitig auch Urlaubsvertretung in Pankow und Adlershof. Als in der „Rest“-Poliklinik des Transformatorenwerkes Oberschöneweide ein Radiologe fehlte, ging ich dorthin, bis diese Röntgenabteilung eines Tages trotz vorhandenen Bedarfs ebenfalls geschlossen wurde.

Den von all diesen Auflösungen betroffenen Mitarbeitern mußte ich immer wieder Trost zusprechen. Aber trotz der eigenen Probleme waren die meisten bereit, mir beim Packen, Sortieren und Transportieren der brauchbaren Materialien und Geräte für andere Einrichtungen oder andere Länder behilflich zu sein. Für die fachgerechte Demontage von Röntgen-Einrichtungen stellte sich sogar mancher Röntgen-Techniker freiwillig zur Verfügung. So konnte eine wertvolle Röntgen-Einrichtung über „CUBA SI“ nach Kuba, eine zweite über den Solidaritätsdienst-International e V nach Rußland geschickt werden. Viele andere Dinge, wie Geschirr, Kaffeemaschinen, Decken, Wäsche usw. erhielten beispielsweise Obdachloseneinrichtungen.

Mein letzter Arbeitsplatz wurde mir in der Tuberkulosefürsorge in Charlottenburg angeboten. Zunächst hatte ich Befürchtungen, als „Ossi“ im Westen tätig zu sein, doch man begrüßte mich freundlich mit Blumen und bemühte sich sogar darum - allerdings vergeblich -, daß ich West-Arbeitszeit (1/2 Std. weniger pro Tag) und West-Gehalt bekäme. Als ich nach kurzer Zeit schon wieder zum Versorgungsamt abgezogen werden sollte, verhinderte die Unterstützung der Chefärztin unserer Einrichtung den erneuten Arbeitsplatzwechsel. Statt dessen wurde mir die „58er-Regelung“ angeboten. Dies bedeutete, daß ich im Alter von 58 Jahren freiwillig aus dem Berufsleben ausscheiden sollte, um mit 60 Jahren in Rente zu gehen (und nicht erst mit 63, wie es zu dieser Zeit geplant wurde). Meine damals bereits 96jährige Mutter lebte inzwischen in unserem Haushalt und war intensiv zu betreuen. Ich wollte meinem Mann diese schwere Aufgabe nicht noch weitere Jahre allein zumuten und nahm das Angebot 1996 an.

 

Zurückblickend auf meine berufliche Tätigkeit kann ich sagen, daß ich trotz mancher Probleme stets zufrieden und glücklich war, Menschen helfen zu können.

Mir ist nie in den Sinn gekommen, die DDR zu verlassen. Durch mehrtägige Besuche in den achtziger Jahren bei meinen Verwandten in Westberlin wußte ich etwas mehr über das dortige Leben, als die westlichen Medien unseren Menschen vorgaukelten. Meine eigene Verwandtschaft kämpfte oft selbst mit der Arbeitslosigkeit, ein Bekannter nahm sich vor der Zwangsräumung seiner Wohnung wegen Mietschulden das Leben, ehemalige Kollegen berichteten von ihren Schwierigkeiten, mit der eigenen Praxis schuldenfrei zu werden. Am meisten erschütterte mich der große Gegensatz zwischen arm und reich, sichtbar am Kurfürstendamm frierende Obdachlose vor Protzgeschäften.

Zu schätzen wußte ich, daß ich mit meinem bescheidenem Elternhaus in der DDR so sorglos studieren konnte. Ich fühlte mich reich beschenkt, daß ich gesund war, eine glückliche Familie, meine sichere Arbeit und ein ausreichendes Auskommen hatte Auch meinte ich, in der gerechteren Welt zu leben und diese mit meiner Arbeit unterstützen zu müssen Bei uns in der DDR fühlte ich mich gebraucht und bestätigt.

In Diskussionen wird heute oft bezweifelt, daß ich während meiner gesamten ärztlichen Tätigkeit - meist als Leiterin einer größeren Röntgen Abteilung - nie gebeten wurde, Mitglied der SED zu werden bzw, daß ich nie zur „Stasimitarbeit“ angesprochen wurde. In all den Einrichtungen war aber die fachliche Kompetenz gefragt.

Besonderes Glück hatte ich in den Jahren nach der „Wende“ - ich konnte noch lange berufstätig sein, ohne mich verschulden zu müssen, wie viele meiner Kollegen.

Dafür kümmere ich mich nun um Obdachlose und andere Bedürftige. Als Mitglied der Interessengemeinschaft Soziales im Friedrichshainer Komitee für Gerechtigkeit und der dortigen Sondersozialkommission sowie als Bürgerdeputierte im Gesundheitsausschuß der BVV versuche ich, durch Einrichtung von Notunterkünften, Sammelaktionen für Sach- und Lebensmittelspenden, Aktionen zum Erhalt von Obdachlosenbetreuungen, Unterstützung bei Amtswegen u. a. das Leben der Obdachlosen etwas zu erleichtern. Wir helfen auch den Einrichtungen der Obdachlosenzeitungen. Als Urlaubs- und Krankenvertretung halte ich ärztliche Sprechstunden für Obdachlose im Friedrichshain und in der Bahnhofsmission ab.

Regelmäßig unterstützen wir Solidaritätstransporte über „CUBA SI“ nach Kuba und über den Solidaritätsdienst-International e. V. nach Rußland, Serbien u. a. Im Juli 1999 fuhren drei Mitglieder unserer Interessengemeinschaft Soziales mit einem Kleintransporter voller Sachspenden zu einem Waisenhaus nach Belorussland. Diese Aufzählung wäre fortzusetzen. Das alles ist ein kleiner Beitrag dazu, in dieser Wegwerfgesellschaft wenigstens einige Dinge einem guten Zweck zuzuführen, die große Ungerechtigkeit in der Welt etwas auszugleichen. Allerdings ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man bedenkt, daß der Überfluß in unseren Kaufhäusern und Läden auf Kosten der ärmsten Länder existiert, in denen täglich Kinder verhungern.

Meine Haltung zur heutigen Gesundheitspolitik bringe ich im Rahmen unserer Öffentlichkeitsarbeit, z. B. auf Gesundheitsforen, in lokalen Informationsblättern u. a. zum Ausdruck. Man „erfindet“ heute bereits bewährte Strukturen des DDR-Gesundheitssystems neu, z. B. die Facharztausbildung zum Allgemeinmediziner, die dreijährige Ausbildung des medizinisch-technischen Personals, das Krebsregister usw. Nun soll auch wieder die zentrale Stellung des Hausarztes gefördert werden - wie bei uns in der DDR schon in den achtziger Jahren. Die enge Zusammenarbeit zwischen ambulantem und stationärem Bereich soll ebenfalls wieder gestärkt werden - bei uns war sie seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit.

Selbst Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer betonte während einer Podiumsdiskussion von „Bündnis 90/Die Grünen“ im August 1999 in Potsdam: „... Es gab seitens des Westens kein Interesse an einem differenzierten Umgang und daran, daß auch der Westen vom Osten hätte lernen können.“ Sie bezeichnete die Arbeit der Polikliniken und Ambulanzen und die bessere betriebliche Gesundheitsversorgung in der DDR ebenfalls als positiv. Ich meine, daß auch anderes von unserem Gesundheitswesen zu übernehmen wäre, z. B. das effektivere und preiswertere Rettungssystem. Heute wird die medizinische Erstversorgung der Patienten durch den Ersteinsatz der vom Gesundheitswesen finanzierten Feuerwehr oft verzögert. Das „teure“ Gesundheitswesen könnte preiswerter werden, wenn man die z. Z. vorhandenen 550 Krankenversicherungen mit ihrem Riesenwasserkopf reduzieren und nicht, wie u. a. vorgesehen, allein im Berliner Gesundheitswesen 8.000 Mitarbeiter entlassen würde. Vernünftig wäre es auch, unseren Sozialversicherungsausweis wieder einzuführen: Alle wichtigen Informationen waren da zusammengefaßt und große Ordner gleichen Inhalts überflüssig.

Wenn man auch nach zehn, elf Jahren gelegentlich zugibt, daß man von uns hätte lernen können, sollten wir doch immer wieder auf unsere bewährten DDR-Strukturen und Erfahrungen hinweisen, um die gegenwärtig und zukünftig anstehenden Probleme besser lösen zu können - und das nicht nur im Gesundheitswesen.

Dr. Renate Rzesnitzek


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