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Ein Meer ohne Wasser

Der Versuch, mit dem Aufbau der DDR in Deutschland sozialistisches Gedankengut in die Realität umzusetzen, ist gescheitert. Die Gründe sind vielfältig. Nach den polemischen und subjektivistischen Attacken ab 1990 werden immer mehr objektive Darstellungen erarbeitet, die es eines Tages gestatten werden, die Bedeutung der DDR für das deutsche Volk und für Europa klarer darzustellen. Die Fixpunkte werden sein: Wie verhielt sich die Republik zum Frieden, zum Antifaschismus, aber auch zur Freiheit, Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit (Brüderlichkeit) und wurden ihre Formen und Methoden zur Einbeziehung der Menschen den Anforderungen der Demokratie gerecht?

Ich kann das alles nicht umfassend bewerten, das können nur Kollektivleistungen schaffen. Unsere Form der Leitungsarbeit war eine gute Art, viele Menschen zu Wort kommen zu lassen. Sie hatte sich zunächst bewährt.

Oft haben wir gedacht, die Welt des Sozialismus wird sich trotz Problemen und Rückschlägen kontinuierlich weiterentwickeln und den Menschen Frieden und Wohlstand bringen. Die Partei- und Staatsführungen der sozialistischen Länder machten dies auch immer wieder deutlich. Verstöße gegen diesen Weg wurden mit den besonderen Problemen und der zeitweiligen Zuspitzung des Klassenkampfes begründet.

Über 30 Jahre habe ich in der Chemischen Industrie der DDR gearbeitet. Davon 10 Jahre als Reparaturschlosser für Anlagen und Hebezeuge, 20 Jahre als Parteisekretär und schließlich 1990 noch einige Monate als Anlagenfahrer im Superphosphatbetrieb (Düngemittel). Dann wurde der Gesamtbetrieb durch Treuhand und Währungsreform liquidiert. Zwei Filetstücke, die Pharmazie und ein Stück der Pflanzenschutzmittel-Produktion wurden von westdeutschen Unternehmen übernommen und erwirtschaften diesen heute einen guten Profit.

Unser Betrieb, der VEB Fahlberg-List, war einer der ersten größeren Betriebe der Chemie in Deutschland. Der Hauptbetrieb in Magdeburg-Südost wurde 1886 als Sacharinfabrik gegründet, ein Teilbetrieb in Schönebeck/Elbe wurde bereits vor über 200 Jahren erwähnt. Anläßlich der 100-Jahr-Feier 1986 konnte eine gute Bilanz gezogen werden. Die Warenproduktion erhöhte sich von 1950-1985 auf das 34fache, die verfügbaren Grundfonds stiegen auf das 12fache und die Arbeitsproduktivität wuchs auf das 24fache. Auch danach setzte der Betrieb sein Wachstum bis 1990 fort und sicherte 2.500 Werktätigen Arbeit und Einkommen.

Daß der Betrieb auch ein Kulturhaus mit Ensemble, einen Jugendclub, einen Sportverein sowie Ferienheime und Kinderferienlager mit seiner finanziellen Kraft unterhielt, war zur DDR-Zeit selbstverständlich. Dazu kam noch die Arbeiterversorgung, das Betriebsessen, die ärztliche Versorgung, ein Ambulatorium, Kuren, Arbeitsschutzmittel und -bekleidung sowie Bereitstellung von Wohnungen, Kindergarten- und Kinderkrippenplätzen, die Unterstützung der Polytechnischen Oberschule, der Ingenieurschule und das Betreiben einer kompletten Berufsaus- und Weiterbildung. Somit war der Betrieb die wichtigste Kraft für das Erwerbs- und gesellschaftliche Leben in den anliegenden Wohngebieten.

Also an der Einbeziehung in die Arbeitswelt, an genügend sozialer Sicherheit, an Bildungsmöglichkeiten und Teilnahme am kulturellen Leben kann die Abkehr der Menschen vom sozialistischen Staat nicht gelegen haben. Selbst für die Anforderungen der Sicherheit und Ordnung sowie der Landesverteidigung haben immer genügend Bürger ihre Bereitschaft erklärt.

Wo lagen nun die Probleme?

Wir haben uns nach 1990 in unserer Arbeitsgemeinschaft Senioren in Magdeburg und Sachsen-Anhalt intensiv über diese Fragen ausgetauscht. Wir haben auch mit bekannten Politikern und Ökonomen darüber diskutiert. Es wurden Artikel und Bücher geschrieben. Vieles ist sehr interessant und aufschlußreich. Oft haben sich aber einige nur den Druck von der Seele geschrieben, ohne den Problemen auf den Grund zu kommen. Bei den Autoren gibt es meist zwei Impulse: Einmal will man sich durch möglichst große Objektivität der Wahrheit nähern und zum anderen will man, denn man hat ja Anstand im Leib, dem Gegner und seinen Medien keine Munition für weitere Eskapaden liefern.

Gute Schlußfolgerungen für die eigene Arbeit haben wir aus den Erfahrungen und Darlegungen von Hans Modrow, Werner Eberlein, Christa Luft und auch von „Täve" - Gustav Adolf Schur - gezogen. Trotzdem sind wir mit unseren Erkenntnissen noch nicht am Ende der Fahnenstange angelangt. Persönlich und aus dem Leben meiner Familie, die sich sehr früh in der Arbeiterbewegung zu August Bebel und Rosa Luxemburg bekannte, liegt mir besonders die strikte Beibehaltung demokratischer Positionen in der sozialistischen Bewegung am Herzen. Dazu gehört größte Offenheit und Vertrauen gegenüber den Mitgliedern der Partei und den Bürgern, damit die Möglichkeit zur Mitarbeit und zur Einflußnahme für jeden gegeben ist. Auch wenn der Klassenkampf nicht immer die Entfaltung demokratischer Strukturen gestattete, so hätten wir uns doch an Karl Marx halten sollen, der jegliche Geheimbündelei, z. B. im „Bund der Geächteten" bzw. im „Bund der Gerechten", ablehnte.

Der Verrat der Sozialdemokratie 1914 bei der Bewilligung der Kriegskredite und die Rolle von Ebert, Scheidemann und Noske bei der Zerschlagung der deutschen Revolution 1918 haben dem Sozialismus in Deutschland und Europa bis in die Gegenwart schwer geschadet. Sie waren der Ausgangspunkt für die Spaltung der Arbeiterbewegung.

Desgleichen sollte der Weg der russischen Revolution 1917 von einem freiheitlichen Fanal für die Völker bis zu deren stalinistischer Unterdrückung bei jeder Darstellung der Geschichte des Sozialismus ein Schwerpunkt sein. Die Nichtüberwindung des Stalinismus in Theorie und Praxis war für uns das Haupthindernis auf dem Weg zum Sozialismus. Auch die gemilderten Formen wie Bürokratismus, Subjektivismus der Führung, Stagnation sowie mangelnde Demokratie nahmen der sozialistischen Gemeinschaft die Kraft und die Möglichkeit, erfolgreich voranzukommen. Die Folgen der stalinistischen und poststalinistischen Politik der KPdSU wirkten über ihre „führende Rolle" auch in die sozialistischen Bruderländer hinein.

Hier sei erinnert an:

-     die physische Vernichtung der alten Garde der Bolschewiki, Schaffen einer Situation der Unsicherheit und der Angst;

-     den Verlust an militärischer Kampfkraft und schwere Niederlagen im Zweiten Weltkrieg zu Beginn des faschistischen Überfalles;

-     plumpes Überstülpen des Sozialismusmodells der SU auf die 1945 befreiten Staaten (Prozesse gegen Rajk, Kostoff, Slansky u. a. sowie Maßnahmen gegen Dahlem, Ackermann, Merker usw. einschließlich diverser Kaderentscheidungen); damit wurden vielfach Sozialisten und Sympathisanten in ihrer Mitarbeit gehemmt bzw. vertrieben oder inhaftiert;

-     das konfliktreiche Verhältnis Sowjetunion-Volksrepublik China. Es kostete wesentliches Potential aus der materiellen und auch geistig-kulturellen Basis des Sozialismus. Es ermöglichte die Ausweitung des grausamen Krieges der USA gegen Indochina und besonders Vietnam;

-     das Festhalten in der Wirtschaft und ihrer Planung an der Mengenproduktion und die Abwertung des Faktors Qualität, die Unterbewertung der Ware-Geld-Beziehungen, die Mißachtung der Rolle der Eigentümer an den Produktionsmitteln und am Boden (nicht nur in der Landwirtschaft), die Unterschätzung der Konsumgüterindustrie, die oft mangelhafte Qualität landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die Fragwürdigkeiten der Ex- und Importpolitik;

-     das widerspruchsvolle Denken und Handeln in der Frage Krieg und Frieden. Die SU ließ sich durch die USA zur Hochrüstung verleiten. Sie beteiligte sich am Krieg in Afghanistan, wodurch riesige Kosten entstanden und die Friedensbewegung verfiel.

-     Die Partei- und Staatsführungen fanden keine Mittel gegen antisozialistische Kräfte in den eigenen Ländern; es gab keine demokratischen Auseinandersetzungen und progressive Alternativen (eigentlich reagierten auf ihre Art nur Kuba, die VR China und Vietnam).

-     Die Politik Gorbatschows beschleunigte das Abgleiten der SU in die Bedeutungslosigkeit bis zu ihrer Auflösung. Ob er es wollte oder nicht - sein Wirken war das eines Renegaten (heute nennt er sich Sozialdemokrat, was auch immer er darunter versteht).

Diese Politik der größten Macht des Sozialismus schlug auch auf die DDR zurück. Sie spielte gegenüber der SU stets die Rolle eines Juniorpartners und ihre Eigenständigkeit war gering. Geschwächt von Anfang an durch Kriegsschäden, Reparationen, Demontagen und die Umwandlung von Betrieben in Sowjetische Aktiengesellschaften; von der BRD und den kapitalistischen Staaten politisch nicht anerkannt und ökonomisch bekämpft, hatte es die Ostzone/DDR schwer, wirtschaftlich Tritt zu fassen.

Die schwache Kapitalgrundlage, erhebliche Eingrenzungen des Zugangs zu langfristigen Krediten, das Technologieembargo und vieles andere ließen umfassende erweiterte Reproduktionen, Modernisierungen und neue Technologien nur in geringerem Maße zu. So wurde die Kraft auf Schwerpunkte gerichtet, was wieder neue Probleme schuf (z. B. der forcierte Aufbau von Berlin oder das Wohnungsbauprogramm).

Zur Weiterbildung nahm ich an Lehrgängen am Zentralinstitut der Sozialistischen Wirtschaft in Rahnsdorf teil. Dort wurde in den Lehrveranstaltungen und Seminaren freimütig diskutiert, wurden die Probleme nicht heruntergeredet oder unterbewertet. Nachdrücklich wurde auf die Notwendigkeit des Erhalts des RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe der sozialistischen Staaten) hingewiesen und auf die Bedeutung der Sowjetunion als Rohstofflieferant und Hauptauftraggeber unserer exportorientierten volkseigenen Industrie. Der Export von Produkten mit hoher Veredelung wurde gefordert, um die gestiegenen Rohstoffpreise - besonders für Erdöl - abzufangen. Mit den achtziger Jahren wurden die Probleme auf allen Gebieten komplizierter und größer. Bisherige Strategien wurden fragwürdig, die Kontinuität der gesellschaftlichen Entwicklung brach ab. Die Forderungen der Bürger nach materiellen Gütern wuchsen und die für Investitionen zur Verfügung stehenden Mittel des Staatshaushaltes gingen immer mehr zurück.

Die Verkrustungen in der Partei- und Staatsführung begannen sich nun negativ auszuwirken. Keine der sich verändernden Lage angemessene Strategie, auch keine Flexibilität wurden erkennbar. Diese Konzeptions- und Sprachlosigkeit nutzte der Gegner aus. Seine Medien und immer mehr Bürger machten die Frage der Reisefreiheit zu einem zentralen Thema. Erst hieß es noch, wir wollen einen besseren Sozialismus, dann aber kurze Zeit später: Nie wieder Sozialismus. Die so dachten, behielten die Oberhand. Die DDR verschwand, aus der Einheit wurde eine Angliederung, und viele der damaligen Aktivisten für eine „Wende" lassen heute nichts mehr von sich hören.

Ich hoffe, das Thema Sozialismus ist nur zeitweilig auf Eis gelegt. Doch eine Lehre sollten wir heute schon ziehen: ohne Vertrauen in das Volk und ohne Demokratie ist der Sozialismus wie ein Meer ohne Wasser.

Jonny Haegebarth


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