vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag


Ich erinnere mich

Mein Fühlen, Denken und Handeln während und nach der Wendezeit 1989/1990

Wir, meine Frau und ich, stehen im letzten Abschnitt unseres Lebens. Wir hoffen, daß er noch lange andauert, wir bemühen uns, möglichst viel dafür zu tun. Es hat für uns eine Zeit des Erinnerns eingesetzt, wir bedenken die Jahrzehnte, die wir durchlebten, wir sprechen viel darüber und wir beginnen, jeder für sich und dennoch gemeinsam, darüber manches aufzuschreiben. Vielleicht greifen unsere Kinder oder ihnen nachfolgende Generationen einmal darauf zurück. In diesen Zusammenhängen fand meine Frau die Formulierung: „Ich erinnere mich!" Sie ist für uns eine unsere Überlegungen sammelnde Überschrift geworden.

Es fällt mit nicht leicht, aus heutiger Sicht mein Fühlen und Denken wie auch mein Handeln in jener Zeit vor mehr als zehn Jahren so genau nachzuvollziehen. Stets muß ich mich besinnen, weil mir Anmerkungen plötzlich fragwürdig erscheinen, ich mühe mich, sie zu präzisieren, sie anders darzustellen. Aber das ist sicher: Ich habe die Zeit Ende der achtziger bis Anfang der neunziger Jahre als die schwerste Zeit meines Lebens in Erinnerung. Ich war betroffen, deprimiert, insbesondere in der Nacht vom zweiten zum dritten Oktober 1990, als die Deutsche Demokratische Republik aufhörte, zu bestehen. Ich war ihr sehr verbunden.

Dabei hatte ich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges allmählich, sehr verhalten und zögerlich begonnen, mich einer neuen Gesellschaftsordnung zu nähern. Ich war als junger Mensch ein überzeugter Nazi, etwas Anderes als deren Denkweise hatte ich nicht kennengelernt. So habe ich die kriegsbedingten Unterbrechungen meiner Zeit an einer Oberrealschule in Berlin gern in Kauf genommen, konnte ich doch aktiv für den Sieg Deutschlands wirken. Folgerichtig meldete ich mich freiwillig als Reserveoffiziersbewerber zu einer Eliteeinheit der Luftwaffe. Kurz vor Kriegsende wurde ich verwundet. Ich hatte allein während meines verhältnismäßig kurzen Fronteinsatzes Bedrückendes erleben müssen. Das beginnende Nachdenken über das „deutsche Wesen", an dem einmal noch die Welt genesen solle (Emanuel Geibel, 1852) und die von ihm und in seinem Namen begangenen Verbrechen wurde durch viele Umstände beeinflußt. Nachhaltig wirkte gewiß der Umgang mit deutschen Antifaschisten, von denen einige im aktiven Widerstand gestanden hatten, beginnend in einem Kurs für Neulehrer und sich dann stetig fortsetzend. In jener Zeit erinnerte ich mich einiger meiner Oberrealschullehrer, die uns Schülern etwas zu vermitteln suchten, was ich damals als Hitlerjunge nicht verstand und heute als humanistisches Denken bezeichne. Einer von ihnen wurde seiner so bestimmten Grundhaltung wegen - er drückte sie wohl vielerorts aus - in einem Vorortzug Berlins verhaftet. Wir sahen ihn nie wieder.

Während der zweiten Hälfte der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre habe ich mit zunehmender Bedrückung erfahren, was für unsägliche Verbrechen im Namen des deutschen Volkes begangen worden waren. Die Informationen wurden umfassender, genauer. Ich schämte mich, denn durch meinen Einsatz während des Krieges hatte ich dieses Tun wie auch das ihm vorausgegangene Denken indirekt unterstützt, also mitgetragen.

An dieser 1949 entstandenen Deutschen Demokratischen Republik, der DDR, störte mich manches. Ich konnte mich andererseits zunehmend mit der von ihr betriebenen, von ihr ausgehenden Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus identifizieren. Die mir zugänglichen Informationen über das Vorgehen in der Bundesrepublik Deutschland hingegen lehrten mich, den dort praktizierten Umgang mit der deutschen Vergangenheit abzulehnen. Damit lehnte ich auch dieses Staatswesen ab. Heute erscheint mir bemerkenswert, daß die seinerzeit erkennbar gewordenen Defizite während der letzten Jahre erneut - nicht wenige wohl erstmals? - in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Während meines Geschichtsstudiums gewann ich tiefe Einblicke in dieses Geschehen. Deshalb wurde mir, ich kann sagen: wurde uns die DDR nicht nur zur politischen Heimat.

Meine zunehmende Identifizierung mit dieser sich ausbildenden Gesellschaft wurde nachdrücklich durch den Aufbau jener Errungenschaften beeinflußt, von denen wir gegenwärtig immer mehr schwinden sehen. Ich beziehe mich dabei ausdrücklich auf das Mühen um Verwirklichen von Grundrechten, wie das auf Arbeit, auf Bildung, Freizeit und Erholung, Schutz der Gesundheit, Fürsorge durch die Gesellschaft im Alter und bei Invalidität, auf Wohnung, Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft sowie auf die dazu wirksam gewordenen Einrichtungen. Darüber denken nach meiner Beobachtung zunehmend mehr Menschen in den neuen Bundesländern nach, wohl mit viel Wehmut verbunden.

Wir, meine Frau und ich, haben beruflich intensiv gearbeitet, wir waren in gesellschaftliche Verantwortungsbereiche eingebunden, wir nahmen gern am geistig-kulturellen Leben unserer jeweiligen Wohnorte teil. Unsere vier Kinder erhielten eine gute Schulbildung wie auch qualifizierte Studienabschlüsse; wir fuhren jährlich gemeinsam in den Urlaub. Sie hatten eine frohe Kindheit und Jugendzeit. Wir haben bei allem stets bescheiden gelebt, aber das störte uns nicht. Auch der wachsende Wohlstand in der Bundesrepublik, er wurde ja auch uns bekannt, machte uns nicht neidisch.

Es muß Ende der vierziger Jahre gewesen sein, als ich erstmals auf Victor Klemperer und auf sein Buch „LTI" aufmerksam wurde. Vermutlich hatte ich es mir ausleihen können, denn unsere eigene Ausgabe erschien erst Anfang der sechziger Jahre. Dann lernte ich auch seine Tagebücher kennen, zuerst die beiden auf die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg bezogenen Bände. Vieles bewegte mich stark, insbesondere auch, wie dieser lebenserfahrene Wissenschaftler sich allmählich mit der sich ausbildenden neuen Gesellschaft im Osten Deutschlands, mit der dann entstehenden DDR, anzufreunden begann, welche Vorbehalte er dennoch hegte und wie bei allen seinen diesbezüglichen Erwägungen immer wieder der Vergleich zu der in Westdeutschland praktizierten Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft den entscheidenden Anstoß gab, sich für die entstehende DDR zu entscheiden. So schrieb er am 24. Mai 1950 unter anderem: „Bitterer ... ist mein Auseinanderklaffen in allem Geistigen mit der SED. Ich kann aber nicht nach Westen ausweichen - der ist mir noch zuwiderer. Bei der SED ist es nur die Wissenschaft, nur die momentane Überspanntheit, die 150%keit, drüben aber alles, was mir verhaßt ist." (Band 2, Seite 37). Und am 31. Dezember 1950 notierte er: „Der innere Druck, das innere Schwanken: ich will Kommunist sein, ich will mit der SED gehen - aber was sie auf kulturellem Gebiet tut, ist oft so grundfalsch. Nur: was man im Westen tut, ist mir noch 1000x verhaßter." (Band 2, Seite 117). Diese und viele ähnliche Bemerkungen des Wissenschaftlers, aufgeschrieben zu einer Zeit, in der ich ein junger Mann war, riefen jetzt Erinnerungen an manche meiner Überlegungen wach, die ich seinerzeit anstellte. Vieles gleicht einander, auch wenn es mit sehr unterschiedlichen Kenntnissen und Erfahrungen verbunden gewesen ist. Ich wurde jedenfalls erst 1953 nach zweijähriger Kandidatenzeit in die SED aufgenommen. Ich war mir dann aber gewiß, daß diese Partei dafür eintritt, daß an „die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft ... eine Assoziation (tritt), worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". (Manifest der Kommunistischen Partei, Kapitel II, Schlußsatz). Manche Entscheidungen, Überspitzungen etc. erklärte ich mir daher als vorübergehend, um der Sache willen notwendig, deshalb verteidigte ich sie, trug sie mit. Ich bekannte mich zu einem Ziel gesellschaftlicher Entwicklungen, von dem ich überzeugt war, daß es von der DDR als Verbündete der UdSSR und der übrigen sozialistischen Länder angestrebt und schließlich auch erreicht wird.

Vielleicht können diese hier nur anzudeutenden Erinnerungen verständlich machen, daß und warum ich den im Sommer 1989 spürbaren Zerfall dieser Gesellschaftsordnung, die dann folgende Auflösung dieses Staatswesens DDR mit Trauer, mit Betroffenheit mit innerer Verzweiflung erlebte.

 

* * *

 

Ich verstand und verstehe mich als Atheist. Damit beschreibe ich zunächst nur, wogegen ich bin. Ich kann den Glauben an eine außerweltliche, an eine übernatürliche Kraft, Gott genannt, geglaubt als Schöpfer und als Erhalter seiner Schöpfungen, nicht teilen. Meine Eltern, vermutlich vor allem meine Mutter, hatten sich um meine - im üblichen Rahmen gehaltene - christliche Erziehung bemüht. Zugleich aber wirkten wohl Auffassungen der Nazis auf mich ein, ich konnte bereits in meiner Jugendzeit nicht glauben. Wahrend des Krieges, insbesondere während meiner beinahe zweijährigen Zeit als Luftwaffenhelfer im Raum Berlin, dann auch als Kriegsfreiwilliger, habe ich mit innerer Ablehnung bemerkt, daß sowohl in der deutschen als auch in den gegnerischen Armeen Militärgeistliche bemüht waren, die Soldaten und deren Kampfauftrag auf den von allen Christen geglaubten Gott zu beziehen. Es hatte sich in mir eine daraus erwachsene, sich festigende einfache Ablehnung des christlichen Glaubens wie auch seiner Bekenner aufgebaut. Später und sehr allmählich lernte ich erkennen, wieviel als humanistisch zu bezeichnendes Denken dieser Glaube eigentlich enthalt. Ich lernte allmählich zwischen dem persönlichen Glauben christlich bestimmter Menschen und dem Tun mancher kirchenleitender Kräfte zu unterscheiden.

Allmählich lernte ich, neben die einfache Ablehnung religiöser Grundhaltung Inhalte eines weltlich bestimmten Humanismus in mein Weltbild einzufügen. Ich lernte zu verstehen, daß sich diese Vorstellungen notwendigerweise mit den Forderungen nach Toleranz verbinden müssen, wenn sie ehrlich gemeint sind. Ich fand, bei eben unterschiedlichen Denkansätzen, sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen meinem philosophisch-materialistisch bestimmten Weltbild und dem religiöser Menschen. Hervorzuheben ist die Einsicht, daß bislang keine dieser Denkrichtungen auf absolut wahre Aussagen verweisen kann; die religiöse will es ja auch nicht. Mein sich über die Jahre vertiefendes Interesse an diesen Fragen führte mich an die Seite eines Wissenschaftlers, der sich ihnen aus marxistischer Sicht intensiv widmete. Damit erschloß sich mir ein neues Aufgabenfeld im Bereich des Hochschulwesens der DDR. Zunächst vor allem über Literatur, dann auch über persönliche Begegnungen und durch langandauernde persönliche Kontakte kam ich mit dem christlich bestimmten religiösen Denken in Verbindung. Ich lernte, es zu respektieren und nach Ansätzen für Gemeinsamkeiten des Handelns zu suchen. Allmählich festigte sich meine Einsicht, daß es ein schwerwiegender innenpolitischer Fehler in der DDR war, Christen wegen ihrer religiösen Grundhaltung aus einer Reihe von Verantwortungsbereichen auszugrenzen und damit auch ihre persönliche Entwicklung zu behindern. Zudem ist dieser Ansatz im marxistischen Denken nicht zu begründen. Ich hatte an mehreren Kirchentagen der Evangelischen Kirchen teilgenommen. Es kam zu persönlichen Gesprächen, durch sie und durch persönlichen freundschaftlichen Umgang mit Christen wurde mir immer wieder gewiß, daß nicht wenige von ihnen für die von Menschlichkeit bestimmten Zuge einer sozialistischen Gesellschaft aufgeschlossen waren, daß sie politisch „links" standen, auch gegenwärtig stehen. Das Gewinnen dieser Einsichten war für mich gewiß widerspruchsvoll, schwierig verlaufen. Mit Anteilnahme und innerer Freude habe ich das Erscheinen des ersten „Berliner Dialog-Heftes" im Jahre 1990 begrüßt. Haben doch bereits dann mir vertraute Persönlichkeiten, Wissenschaftler mit Überzeugungskraft, Gedanken vorgetragen, mit denen ich weitgehend übereinstimmen konnte. Das wurde mir Anlaß, mich der bis zum Frühjahr 2001 wirkenden „Gesellschaft zur Forderung des christlich-marxistischen Dialogs" anzuschließen.

Obwohl ich zum Jahreswechsel 1990/1991 in den Vorruhestand versetzt worden war, konnte ich im Frühjahrssemester 1991 noch eine fakultative Vorlesungsreihe zu ausgewählten Themen der marxistisch bestimmten Religionswissenschaft anbieten. Zu meiner Überraschung und Freude hatten sich regelmäßig bis zu einhundert Studenten eingefunden. Ich konnte meine Erkenntnisse, meine Erfahrungen vermitteln; es ergaben sich rege Gespräche.

 

* * *

 

Zum Jahresende 1988 begannen die Vorbereitungen zur Gründung eines Freidenker-Verbandes der DDR, leider viel zu spät und in der für uns üblichen Weise. Seine wenigen übrig gebliebenen Mitglieder gehören gegenwärtig dem „Deutschen Freidenker-Verband" (Sitz Dortmund) - DFV - an. Viele meiner mir vertrauten Freunde, Kollegen, Genossen erhofften sich von diesem entstehenden Verband im freundschaftlichen Meinungsstreit zu gewinnende Antworten auf die vielen erkennbar gewordenen Fragen. Wir erhofften hilfreiche, klärende Denkanstöße für einen kulturvollen Umgang von Marxisten und Nichtreligiösen einerseits und christlich denkenden Mitmenschen andererseits. Die hatten die Ansätze zur Entwicklung dieses Verbandes mit Interesse beobachtet, wie mir persönliche Gespräche, auch die während der Tagung einer Evangelischen Akademie im Herbst 1989 deutlich machten.

Durch mein Wirken für die Freidenker - besonders für die Gründung des Fachverbandes für weltliche Bestattungs- und Trauerkultur (sie fand am 31. März 1990 in Berlin statt) - konnte ich viele Kontakte zu Vereinigungen der Freigeistigen Bewegung knüpfen. Mit Bedauern und Enttäuschung mußte ich jedoch allmählich erkennen, daß es einerseits zwar etwa neunzig landesweit oder örtlich begrenzt wirkende Verbände gibt, die dieser geistigen Strömung zuzuordnen sind, daß andererseits ihr tatsächlicher Wirkungsgrad verschwindend gering ist. Zugleich aber setzt sich der Prozeß einer Auswanderung aus Kirchen, die Säkularisierung, fort. In den neuen Bundesländern gehören weniger als 25 Prozent der Wohnbevölkerung einer Kirche oder einer Religionsgemeinschaft an, in den alten Bundesländern wächst die Auswanderung jährlich um mindestens 1 Prozent an, manches wird unklar gehalten. Menschen brauchen eine weltanschauliche, eine geistige Orientierung, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können. Diese Aufgabe haben über große Zeiträume in unserem Kulturkreis die christlichen Kirchen wahrgenommen. Ihre Wirksamkeit nimmt unübersehbar ab. Die Angebote von Verbänden der Freigeistigen Bewegung aber werden kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Von den mehrere Millionen Mitglieder umfassenden Vereinigungen dieser auf säkularem Humanismus und Toleranz begründeten Ausrichtung, wie sie bis zu ihrer Liquiditation durch die Naziherrschaft im März 1933 ein reiches, anregendes Gemeinschaftsleben entwickelt hatten, kann man gegenwärtig leider nur noch träumen.

Dennoch sind diese gegenwärtig wirkenden Verbände trotz mancher Widersprüchlichkeiten ernst zu nehmen. Ich mühe mich jedenfalls, die Verbindungen nicht aufzugeben, ich stelle mich zur Mitarbeit zur Verfügung, publiziere gelegentlich, nehme an ihren Tagungen teil.

Anläßlich einer solchen Zusammenkunft hatte ich spontan auf Fragen reagiert, die einem ostdeutschen Referenten während seines Vortrages gestellt worden waren. In der Pause sprach mich ein älterer Herr an und sagte, ich hätte mich eben als Marxist zu erkennen gegeben, wie denn nun heute meine Einstellung dazu sei. Ich verwies darauf, daß nach den Ereignissen der letzten Zeit intensiv bedacht werden müsse, warum der Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, gescheitert sei. Von meiner dem Manifest der Kommunistischen Partei entnommenen Zielvorstellung einer menschlichen Gesellschaft würde ich mich jedoch nicht abwenden. Mein Gesprächspartner, ein emeritierter Professor für die Geschichte des Mittelalters, bestärkte mich in dieser Meinung mit dem Hinweis, daß er in seinem nun folgenden Vortrag sich ebenfalls auf diese Zielstellung festlegen werde. Das hat er dann auch getan. Dieses und ähnliche Erlebnisse im Zusammensein mit aus den alten Bundesländern kommenden Mitgliedern Freigeistiger Verbände haben mich ermutigt.

 

* * *

 

Ich versuche eine Zusammenfassung:

Der rasch sich vollziehende Zusammenbruch der DDR bis hin zu ihrer völligen Auflösung hat mich stark beeindruckt. Ich hatte manche Ungereimtheiten im gesellschaftlichen Leben dieses Staates gesehen. Ich wünschte mir gegen Ende der achtziger Jahre, daß es Änderungen in der politischen Leitung der SED wie auch in der des Staates geben möge. Diesen Untergang hatte ich nicht erwartet.

Ich meine, daß wir in diesem Staatswesen mit dem Verständnis von Demokratie und mit ihrer Anwendung in der gesellschaftlichen Praxis zunehmend wesens- und lebensfremd umgegangen sind. Die Diktatur des Proletariats, also die Durchsetzung von Interessen einer überwältigenden Mehrheit des Volkes über eine sich ständig verringernde Minderheit, verstanden als höchste Form der Demokratie, wandelte sich in eine Herrschaft des Politbüros. Dennoch habe ich auf lokaler Ebene durchaus demokratisch bestimmtes Handeln erlebt, das aber bezog sich stets auf nachgeordnete Probleme - durchaus nicht unwichtige, jedoch nicht charakteristische für das Wesen der Sache. Und mit der praktizierten Form sozialistischer Planwirtschaft haben wir uns zudem auf ökonomischem Gebiet unser Grab gegraben. Was des Volkes Hände geschaffen haben, ist nun nicht mehr des Volkes Eigentum.

Was haben wir statt dessen erhalten?

Wir sind in der Freien Marktwirtschaft angekommen. Wir haben unbeschränkte ,Freiheit'. Tatsächlich aber übt die ökonomische Macht zunehmend unverhohlen über ihre sich weltweit konzentrierenden Monopolverbände, im Rahmen des eigentlich objektiv erforderlichen Globalisierungsprozesses, Einfluß auf die politische Macht aus. Dieser weltweit sich anbahnende Prozeß einer Annäherung der Völker der Erde und ihrer Länder wird dadurch aber seiner eigentlichen Dynamik beraubt. Einige der in unserem Lande wirkenden politischen Parteien sanktionieren letztlich indirekt diese Vorgänge. Sie lassen territorial begrenzte Kriege zu, obwohl sich auch die nur indirekte Beteiligung deutscher Einheiten verbieten sollte.

Wir leben in einem demokratisch bestimmten Staat. Wir lernen angesichts dieser angedeuteten Vorgänge, daß Demokratie nicht im Selbstlauf entsteht, daß sie erlernt, daß sie täglich aufs Neue erlebt, erprobt, gelebt werden muß. Nach meiner Beobachtung sind die als demokratisch bezeichneten Entscheidungen häufig mit der Niederlage eines der Partner verbunden. Toleranz ist kaum erkennbar, Kompromißbereitschaft aller Beteiligten nicht erkenn- und beschreibbar. Dafür haben wir während der Jahre seit 1990 viele Beispiele erleben müssen. Diese äußerst widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklung wird durch Elemente einer „Erlebnisgesellschaft" bewußt überdeckt.

Diese Entwicklungen und ableitbare Folgen sind eigentlich vor Jahrzehnten bereits von Orwell oder Huxley beschrieben worden. Wahrscheinlich kann ihnen nur durch eine wachsende politische Opposition begegnet werden. Sie setzt kritisches Nachdenken voraus. Ob ihr verbundene Kräfte überhaupt noch Wirkungen erzielen können, erscheint mir mitunter bereits fraglich, ich wünsche es mir jedoch.

Für mich hat die im Manifest der Kommunistischen Partei formulierte Zielvorstellung nach wie vor Gültigkeit für mein Denken und Handeln - nicht zuletzt deshalb, weil ich immer wieder Menschen erlebe, die sich damit ebenfalls identifizieren. Und unter ihnen finden sich immer auch Christen. Es erscheint mir unerläßlich, daß sich alle diese Menschen annähern, miteinander reden, nach gemeinsamem Handeln streben.

Im Rahmen der mir verbleibenden Möglichkeiten will ich in meinen letzten Lebensjahren daran mitwirken, in der Freigeistigen Bewegung, im Landesparteirat meiner Partei, in Gesprächen mit Christen und weltanschaulich anders gebundenen Menschen.

Wolfgang Kaul 


vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag