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Meine Leipziger Demos 1989

Meist berichten zu dieser Thematik „aufrechte Bürgerrechtler". Das kann und will ich nicht gewesen sein.

Und so beginne ich mit dem 10. September 1989. Es war ein freundlicher Herbsttag. Wie in jedem Jahr war es das erste Wochenende im September, an dem man sich auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig (zu Kaisers Zeiten und zu Zeiten seiner Generäle1 - Augustusplatz, im 1000-jährigen Reich Adolf-Hitler-Platz, jetzt wieder Augustusplatz) versammelte, um der Opfer des Faschismus zu gedenken.

Was veranlasste mich, an dieser Demo teilzunehmen? Ich könnte es mir einfach machen und sagen, der Opportunismus hat mich wie viele andere dazu bewogen. Aber das war es nicht. Ich hatte mich sehr viel mit der Geschichte des Dritten Reiches befasst und war mir der Opfer seiner Widerständler sehr bewusst. Natürlich wurden zu DDR-Zeiten im wesentlichen die Opfer aus der Arbeiterklasse und die, die mit ihnen Kontakt gehalten hatten, also durchaus auch bürgerliche Leute, zu solchen Anlässen erwähnt.

Auch hatte in letzter Zeit das Gedenken an die Widerständler des 20. Juli in der DDR zugenommen. Ich fand es berechtigt und vernünftig, im Interesse einer gedeihlichen Zukunft einmal im Jahr dieser Menschen zu gedenken, die im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben gelassen hatten. So strömte ich also mit vielen anderen zum Karl-Marx-Platz. Es gab sowohl bei mir als auch bei vielen anderen die Hoffnung, dass bei den Reden etwas über Gegenwart und Zukunft der DDR gesagt werden würde. Es war die Zeit nach dem Europatag in Ungarn und es war die Zeit verstärkter Ausreise-Bestrebungen. Es war auch die Zeit der vermehrten Sprachlosigkeiten von Partei und Regierung.

Der sozialistischen Tradition gemäß wurden gern öffentliche Veranstaltungen dazu benutzt, um politische Neuigkeiten bzw. politische Tendenzen zu artikulieren. So erhoffte ich mir von dieser Veranstaltung einige Antworten auf aktuelle Probleme. Wie mir ging es einer weiteren Anzahl von Teilnehmern. Sie hatten gleichfalls erwartet, es würde zu den aktuellen Problemen der Zeit Stellung genommen werden. Das Vertrauen in die Politik von Partei und Regierung war wohl bei den meisten der dort schon Versammelten etwas erschüttert. Aber es gab noch Hoffnungen auf die Zukunft.

Ich meinerseits führte mir vor Augen, dass wir gerade die Periode des Sommerurlaubs hinter uns hatten. Nun, wo die sozialistische Obrigkeit wieder im Amte tätig war, erhoffte man sich einige zukunftsweisende Orientierungen. In der Vergangenheit war diese Hoffnung meist mehr oder weniger erfüllt worden. Wie war es an diesem Tag?

Zunächst wurde eine einführende Rede gehalten, die wieder vor Allgemeinplätzen und Phrasen strotzte und so gut wie mit keiner Silbe auf die aktuellen Probleme des Landes einging. Ich weiß heute nicht mehr, wer sie hielt. Ich weiß nur noch, als der Redner endete, war eine große Stille auf dem gesamten Platz. Niemand applaudierte den üblichen Gepflogenheiten gemäß. Mein Blick ging in die Runde. Es war doch auf vielen Gesichtern Verdrossenheit zu erkennen. Nach einem peinlichen Schweigemoment rührte jemand auf der Tribüne weit ausholend die Hände und begann zu applaudieren. Die Versammelten zogen nach und es plätscherte ein leichter Beifall, der nach meinem Empfinden sehr wohl schon als politische Verdrossenheit hätte interpretiert werden können und hätte interpretiert werden müssen.

Insbesondere diese „Schweigeminute" ließ eigentlich keine andere Deutung zu. Es sprachen dann noch einige Widerstandskämpfer in kurzen Worten, der Platz begann sich zu leeren.

Mein Blick ging in die Runde. Die mitgeführten Trage- und Winkelemente waren schon verschwunden. Ich ließ meinen Blick über die Gebäude und den Platz schweifen, er blieb bei den Glockenmännern des Krochhauses hängen. Das Krochhaus befand sich nach wie vor im Besitz irgendwelcher Amerikaner. So wusste es der Volksmund zu erzählen. Ich las die Inschrift unter der Glocke, sie lautete „omnia vincit labor". In Oberschulzeiten hatte ich Latein gelernt, vincit labor war mir sofort klar, das heißt, es siegt die Arbeit. Aber omnia, was heißt das omnia, ich grübelte nach, omnia müsste so was wie überall oder bei allen heißen. Also überall und in allem siegt die Arbeit. So müsste man das übersetzen.

   

Die Glockenmänner am nunmehrigen Augustusplatz in Leipzig

  Quelle Privatfoto 

Die Inschrift gab mir eigentlich sehr zu denken und ich schlug (Tage später) in Lateinbüchern nach, was denn nun eigentlich das omnia heißen sollte. Ich fand nichts besseres als mir mein Gedächtnis schon sagte, also es blieb dabei, überall und bei allem siegt die Arbeit.

Während ein tschechischer Widerstandskämpfer sprach (er erhielt von den stets ausländerfreundlichen Leipzigern beachtlichen Applaus) nahm ich mir vor, künftig stärker nachzudenken, was es mit dem Überall siegt die Arbeit auf sich hatte. Der Platz leerte sich zusehends während der Veranstaltung. Ich nahm das zum Anlass, um mich unter den Stehenden bis zur Tribüne vorzuarbeiten. Ich wollte in die Gesichter der auf der Tribüne Stehenden sehen und wollte daraus erfahren, ob sie die gleiche Zukunftsungewissheit erkennen ließen, wie ich sie bei mir fühlte.

Gewiss, es war bei dieser Veranstaltung vieles wie bei allen anderen Massenveranstaltungen dieser Zeit. Es war zu erkennen, manche Teilnehmer gaben sich Mühe, erkannt zu werden. Andere suchten Bekannte, um in ein kleines Gespräch zu kommen, was sonst nur schwierig zu arrangieren war.

Aus heutiger Sicht erscheint mir diese Veranstaltung als die letzte DDR-charakteristische Massenveranstaltung im Leipzig des Jahres 1989. Es begannen dann die Montagsdemonstrationen um den Ring. Ich habe daran nicht teilgenommen. Meine Überlegung war, diese scheinbar spontanen Demonstrationen führen zu nichts. Einmal im November nahm ich dennoch an einem Teil dieser Demonstrationen teil und das kam so:

Ich bereitete mich auf eine Reise in die damalige Sowjetunion vor. Ich wollte dort, wie schon seit Jahren, Experimente durchführen. Nun konnte ich mir ausrechnen, meine sowjetischen und auch anderen ausländischen Kollegen wollten sicherlich von mir Eindrücke über die Leipziger Demonstrationen haben.

Ich verließ mich schon damals wie bis zum heutigen Tag nicht mehr auf die Medien und wollte mir einen unmittelbaren Eindruck verschaffen. Also parkte ich meinen Trabant auf dem Dimitroff-Platz, das war an einer Ecke des Leipziger Rings, und ging der Demonstration entgegen. Es war beeindruckend, wie viel Leute daran teilnahmen. Sie gingen zum größten Teil schweigend und hatten Transparente mit ihren Forderungen. Diese Forderungen sollten geistreich erscheinen, die Mehrzahl der Demonstranten empfand das so. Ich konnte das nicht so sehen. So ging ich am Rande des Demonstrationszuges in Richtung „Runde Ecke" (MfS-Bezirksverwaltung Leipzig). Die Demonstration wurde lauter, es war ein gellendes Pfeifkonzert wahrzunehmen. Gleich mir gingen auch viele Passanten und einige Bekannte in der gleichen Richtung. Sie wollten wohl ebenfalls unmittelbare Eindrücke sammeln. Auch im Demonstrationszug sah ich wiederum manche Bekannte aus meinen verschiedenen Arbeitsverhältnissen; ich arbeitete Jahre lang in einem Akademieinstitut, später dann an der Technischen Hochschule Leipzig. Meine anwendungsorientierten Forschungen brachten mich in vielen Betrieben Leipzigs mit vielen Leuten zusammen, darüber hinaus auch meine gesellschaftliche Tätigkeit insbesondere im Rahmen der DSF (Gesellschaft für Deutsch-So-wjetische Freundschaft). Viele sah ich wieder, sie erkannten mich auch, senkten wohl auch hin und wieder den Blick.

Ich kam vor bis zur „Runden Ecke", dort wurde das Pfeifen nahezu ohrenbetäubend. Ich sah mit eigenen Augen auch die Sicherheitskette, die von verschiedenen Akteuren der Wendezeit um dieses Gebäude gezogen wurde, um damals Auswüchse zu verhindern. Weiterhin nahm ich ein amerikanisches Fernsehteam wahr und sah auch, wie begierig jemand von den Demonstranten seine Person ins Bild zu rücken suchte. Die Situation war zweifelsohne gereizt. Mein Blick ging über die Häuser nach oben, es war Nebel im Anzug und dichte Nebelschwaden lagen über dem Demonstrationszug. Ich hatte nun genug gesehen und wollte wieder zu meinem Fahrzeug. Schließlich musste ich noch zu meinem Wohnort (30 km entfernt vom Arbeitsplatz) gelangen. Jetzt kam für mich die Frage: „Gehe ich neben dem Demonstrationszug zurück oder im Demonstrationszug?" Neben dem Demonstrationszug zurück zu gehen hätte mich in die Nähe von Schnüfflern gerückt. Das wollte ich nicht. Mit dem Demonstrationszug gehen, hätte für mich bedeutet, mich mit diesen Losungen zu identifizieren, die im Zug mit geführt wurden. Das wollte ich auch nicht. Ich fand die meisten Losungen unüberlegt und oberflächlich. Plötzlich kam eine kleine etwas klägliche Gruppe an. Es waren Behinderte, einige fuhren in Rollstühlen. Sie führten ein Transparent mit: MEHR AUFMERKSAMKEIT FÜR DIE BEHINDERTEN. Sofort war mir klar, mit dieser Losung kann man sich identifizieren. Ich trat in den Demonstrationszug ein und ging bis zur Ecke Dimitroff-Platz mit. Dann löste sich der Zug auf, einige gingen zum Rathaus, ich ging auch noch mal zum Rathaus, um zu sehen, ob sich dort noch irgend etwas abspielte (Man würde heute sagen: ob dort noch action war). Das war nicht der Fall, also setzte ich mich in meinen Trabbi und fuhr im dichter werdenden Nebel nach Hause.

Das Gesehene hatte mich etwas aufgewühlt und ich begann mir Fragen zu stellen, auf die ich damals keine Antwort fand.

Auch nun wieder die heutige Sicht. Viele damalige Losungen sind nicht verwirklicht worden und die Experten grübeln heute noch darüber nach, inwieweit sie von außen hinein getragen worden sind und welche spontan in der DDR-Bevölkerung entstanden. Ich möchte mit Genugtuung vermerken, dass die Losung, hinter der ich ging, Realisierung erfuhr. Und so kann ich für mich verbuchen, dass meine Demonstrationseffektivität im Jahre 1989 sehr hoch war.

Denn auch der Antifaschismus scheint wieder etwas mehr Akzeptanz zu erfahren, wenngleich er in traditioneller bürgerlicher Schieflage noch verschämt als Wirken gegen Rechtsextremismus bezeichnet wird. Das hängt zweifellos mit den Nazi-Wurzeln der alten BRD zusammen, die sie bis heute nicht loswerden konnte.

Ich habe noch lange über Sinn von Demonstrationen nachgedacht. Meine persönliche Schlussfolgerung war, sie bewirken nicht allzu viel. Im Gegenteil, ich betrachte die Auswirkungen insbesondere der „bürgerbewegten" Demonstrationen als unglücklich und wenig erfolgreich.

Es lebt jeder Mensch seine eigene Biografie und kann sie in gewissem Maße omnia selbst gestalten. Für meine Biografie beschloss ich, dass jene Demonstration 1989, an der ich voll teilgenommen hatte, nämlich zum Andenken an die Opfer des Faschismus, die letzte große Demonstration in meinem Leben gewesen sein soll.

Ernst-Jürgen Langrock

 


1 Tucholsky charakterisierte einmal die Weimarer Republik: „Der Kaiser ging, die Generale blieben".


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