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Täter-Opfer?

Ich wähle diesen Titel, obwohl ich ihn auch in die Reihe der DDR-Diffamierung und -Delegitimation einordne, weil in Dokumentationen eines Rundfunksenders und einer Zeitung ein Teil meiner Biographie unter diesem Motto dargestellt wurde.

Grundsätzlich: Ich bin von der Richtigkeit des sozialistischen Weges der DDR zutiefst überzeugt, gleich welche Ursachen ihre Vernichtung bewirkten. Also soll man mich als „Überzeugungstäter" einstufen. Ich will auch für all jene unter den Linken, die sich der Gegenwart und deren Zeitgeist angepaßt haben, ein „Betonkopf' sein. Für meine politischen Gegner und Feinde bin ich es sowieso und wahrscheinlich noch mehr.

Als ich nach meinem Eintritt in die Altersrente (1995) auf Grund meiner Rüstigkeit noch die Tätigkeit eines Hausmeisters mit zwei Diplomen in der Tasche aufnahm, sagte ich einmal meinen PDS-Genossen: „Als ich in die Partei eintrat (1948), war ich als ausgebildeter Kaufmann in einer volkseigenen Maschinenfabrik ungelernter Hilfsarbeiter. 48 Jahre später bin ich mit zwei Hochschulabschlüssen wieder das, woher ich kam, Arbeiter". Alle Vorbehalte mit Bezug auf meine Gesamtentwicklung (in der DDR) konnten bzw. können diesen Tatbestand nicht auslöschen. Als ich eine Zeitlang Mülltonnen gemeinsam mit einem promovierten Ökonomen transportierte, stand mir ein Arbeiter und kein Wissenschaftler mehr zur Seite. Im PDS-Vorstand ist man sich dieser Tatsache bis heute nicht bewußt. Denn wieviel der noch verbliebenen Mitglieder, die mit PDS-Gründung noch im arbeitsfähigem Alter waren, avancierten in ihrem täglichen Überlebenskampf wieder zu dem, was sie einmal waren: einfache Arbeiter, Bauern und Angestellte? Das ist für Gegner und Feinde der PDS der Grund, warum sie mit Recht eine kommunistische Entwicklung dieser Partei fürchten.

Als ich mich, wie viele aus der Arbeiterklasse kommende, der SED und damit dem neuen Weg in eine gesicherte friedliche Zukunft zuwandte, wußten wir noch nicht, was aus uns wird. Es war Vertrauen in jene, die uns nicht nur mit großen Worten den Weg aus Elend und Not wiesen, sondern auch Taten folgen ließen.

Für uns war der Schutz der Errungenschaften, die uns mehr als nur Schweiß abverlangten, zur Selbstverständlichkeit, vielleicht zur lebenserhaltenden Pflicht geworden. Ich hatte Tod, Not und Elend des Krieges und Nachkrieges vor Augen. Ich schwor mir, meine Kinder vor solchem Elend durch meine Handlungen zu bewahren. Das ging 40 Jahre gut. Nun haben sie doch diese Zukunft vor sich. Ob sie diese auch überleben?

Damit das Folgende verständlich bleibt, lege ich Wert auf diese Erklärung.

In meinem Berufsleben war ich von 1959-1963 und von 1970-1982 Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR - Bereich Abwehr - Außenwirtschaft. Das ist übrigens das Gebiet, das in der Aufdeckung der „Stasi-Machenschaften" bisher ausgeblendet blieb (und nicht nur dieses Gebiet).

1963 wurde ich in die Reserve versetzt, weil ich nicht bereit war, meine Ehe aufzulösen (3 Kinder), da die Sicherheit meiner Tätigkeit bei Aufrechterhaltung dieser Ehe nicht mehr gewährleistet war. Als Führungs-IM im Bereich der Außenwirtschaft war ich jedoch geeignet (ohne jegliche zusätzliche Vergütung).

1970, die Ehe hatte keinen Bestand mehr (2 Kinder waren auch schon aus dem Haus), sie wurde geschieden, erfolgte mit meinem Einverständnis meine Reaktivierung. Meine Bedingung: „Offizier im besonderen Einsatz" (OibE) in einem Außenhandelsbetrieb.

Für diesen Einsatz gab es für mich einen einzigen Grund: ich kam mit dem inneren Regime des MfS, der dort herrschenden Hierarchie, nicht zurecht. Mein Demokratieverständnis kollidierte mit dem vorherrschenden militärischen Regime innerhalb dieses Apparates. Als OibE lag meine Aufgabe ausschließlich auf dem Gebiet der Ökonomie und der Sicherung der Außenhandelsaufgaben.

1982 erfolgte meine Entlassung aus dem MfS. Ich weigerte mich, eine Tätigkeit innerhalb des Apparates aufzunehmen. Ich war von der Effizienz der mir zugedachten Aufgabe nicht überzeugt.

Von der Notwendigkeit eines solchen staatlichen Verteidigungsorgans sehr wohl überzeugt, widersprach ich nur in meinem konkreten Fall. Da ich das 50. Lebensjahr überschritten hatte, erfolgte die Entlassung in Ehren. Da ich kein DDR-Feind war, wurde mir die MfS-Altersrente zugesichert.

Neue Arbeit galt es zu finden. Mit zwei Hochschulabschlüssen in der Tasche hätte das in der DDR für mich kein Problem sein dürfen. Doch geirrt. Im Außenhandel - wer wollte sich mit diesem Querkopf gegenüber der Obrigkeit schon herumärgern? Hier waren alle Türen versperrt.

Aus irgendeinem Grund riet mir das entlassende Organ, eine Tätigkeit im Rat des Stadtbezirks Berlin-Treptow aufzunehmen. Was sollte ich dort? Lag das nicht völlig abseits meiner jahrzehntelangen beruflichen Entwicklung? Aber mit 52 Jahren war ich doch relativ hilflos. Im Rathaus bot man mir das Ressort „Grenze" an. (Immerhin hatte Treptow eine 18 Kilometer lange Grenze zu Westberlin.) Das widersprach meiner Qualifikation total. Damit ich überhaupt eine Beschäftigung aufnehmen konnte, landete ich letztlich im Stab der Zivilverteidigung, Bereich Katastrophenschutz der Bevölkerung. Zum Verständnis: dieses Organ ist mit dem Zivilschutz gleichzusetzen. Es wurde zentral vom Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR gesteuert. Der Einsatz kam einer Disqualifikation gleich, auch wenn ich nach kurzer Zeit zum Polit-Stellvertreter des Chefs des Stabes der Institution avancierte.

In dieser Tätigkeit lernte ich meine heutige Ehefrau Heidrun kennen. Zweimal war ich ja nun schon verheiratet. Auch die zweite Ehe verlor ihren Sinn (nach 14 Jahren). Ich erwähne das, weil ein Ehescheidungsproblem in der DDR weniger ein Problem für die Beteiligten war, als es das heute ist.

Heidrun war das Aschenbrödel im Stab. Alle Kleinarbeit lag bei ihr, wofür sie niemals eine Anerkennung erhielt und vor allem, sie war der Willkür des Stabschefs ausgesetzt. Als Polit-Stellvertreter stellte ich mich schützend vor diese Genossin. Diese Haltung entsprang meiner langjährigen Parteimitgliedschaft, gepaart mit einem mir fast immer zu meinem Nachteil gereichenden Gerechtigkeitssinn. Na, und aus dieser Schutzhaltung entsprang Zuneigung und Liebe.

Nun begann ein Theater, das mir weitere weiße Haare bescherte.

Das Problem entstand daraus, daß Heidrun mehr als 28 Jahre jünger ist als ich. Vorausschicken möchte ich, daß ich durch meine vorangegangene Tätigkeit zwangsläufig einen losen Kontakt zur Kreisdienststelle des MfS hielt. Langjährige Berufserfahrung im MfS ließ mich sehr schnell ahnen, daß Heidrun mit diesem Organ in Kontakt stand. Ich offenbarte dem mir bekannten Kontaktoffizier meine Vermutung, der hierbei seine Gesichtszüge nicht beherrschen konnte.

Die Mühle begann zu mahlen, als ich ihm gezielt mitteilte, Heidrun und ich ... usw.

Der Stabschef, der in seiner Funktion sehr eng offiziell mit dem MfS zusammenarbeitete, leitete nun auf disziplinarischem Wege Schritte gegen diese Verbindung ein. Was da alles lief, erspare ich mir. Ergebnis: Wegen „unmoralischem Verhaltens" - mein Scheidungsprozeß war noch nicht ganz abgeschlossen - Parteirüge (meine erste Parteistrafe überhaupt) und „nicht mehr tragbar für den Staatsapparat". Das war hart. Ich bezeichnete das ganze als eine Hexenjagd. Nur das, was unter Regie der Führung der Alt-BRD heute DDR-Funktionsträgern, MfS-Mitarbeitern und Angehörigen der Grenztruppen der DDR geschieht, ehemalige IM eingeschlossen, übertrifft diesen Vorgang an Brutalität (vielleicht gibt es eine bessere Bezeichnung dafür). Das eine war ungerecht und das andere ist Unrecht.

Als dann auch noch bekannt wurde, Heidrun ist schwanger ... Nicht auszudenken. Höchstes Angebot: „Wir helfen bei einer Unterbrechung". Das Angebot machte man mir. Mit der Schwangeren wurde darüber nicht gesprochen.

Das war das Letzte, was sich da der Chef des Stabes leistete.

Trotz: „Nicht mehr tragbar für den Staatsapparat", konnte ich noch als „Staatlicher Beauftragter" in einem Wahlkreis die im Frühjahr 1984 anstehenden Kommunalwahlen vorbereiten und ihre organisatorische Absicherung gewährleisten.

Einen Monat später verkündete mir der Stellv. Bürgermeister im Speisesaal in Gegenwart seiner Sekretärin: „Konny, ab 15. Juni (1984) habe ich für Dich kein Geld mehr!" Wir hatten eigentlich ein gutes kameradschaftliches Verhältnis zueinander. Diese Mitteilung war nicht auf seinem Mist gewachsen. Für meinen Kommunalwahl-Einsatz erhielt ich die Auszeichnung „Aktivist der sozialistischen Arbeit". Anschließend meine Entlassung.

Ich beabsichtigte, trotz meiner 54 Jahre, nochmals einen Neuanfang als Lehrer an einer Polytechnischen Oberschule. Für mich war es unvorstellbar, daß Monate für meine Bestätigung erforderlich waren.

Am 15. Juni (außerhalb der Regel) sollte ich meine neue Tätigkeit beginnen. Am 14. sprach mich der Bürgermeister an, ob ich nicht in seinem unmittelbaren Umfeld eine Tätigkeit aufnehmen wollte. Was sollte ich tun? Ich sagte zu. Ich blieb nicht nur bei ihm, sondern im Rathaus bis zu meinem Ausscheiden im August 1990.

Heidrun, wir heirateten 1985, ging im Rathaus ihren beruflichen Weg. Sie blieb auf Grund dieser Vorfälle nicht im Stab der Zivilverteidigung, sondern qualifizierte sich zu einer guten Mitarbeiterin im Bereich Wohnungswesen.

Wenn ich mich frage, was das alles sollte?

Ich habe nur eine Erklärung: Heidrun ist kurz vor unserer Verbindung vom MfS angeworben worden.

Sie sollte als IM für eine mir unbekannte Aufgabe aufgebaut werden. Die Beziehung zu mir lief diesen Absichten zuwider. Sie konnte keinem von uns untersagt werden, deshalb diese Intrige. Spätere Akteneinsicht erhärtete diesen Verdacht. Die Verbindung zu Heidrun wurde seitens des MfS ohne jede Erklärung abgebrochen. Nach späteren Erkenntnissen existierte diese Verbindung offiziell etwa 8 Monate, ohne daß Heidrun für das MfS in irgendeiner Weise als sogenannter Spitzel wirksam wurde. Doch es reichte den dann im Rathaus Herrschenden, Heidrun, obwohl sie diese Verbindung nicht verschwiegen hatte, Ende 1994 fristlos zu entlassen. Zuvor durfte sie als versierte und zuverlässige Mitarbeiterin noch ihren „Ersatz" ausbilden. Sie durfte also ihr berufliches Grab selbst ausheben. Der Westberliner Arbeitsrichter, der diese Entlassung bewerten mußte, bezeichnete die Sache als Bagatelle, hieß sie jedoch mit der Bemerkung rechtens: „Wer will schon mit einem Stasispitzel zusammen arbeiten?"

Heidrun erhielt gleichzeitig Berufsverbot im Öffentlichen Dienst.

(Heidruns Schicksal wurde bereits in Gisela Karaus Heftchen „Gauck-Opfer" beschrieben (ein wenig unglücklich und für manchen nicht ganz verständlich)).

Die sogenannte Wende zeichnete sich immer deutlicher ab. Beunruhigend für mich war, daß die SED-Parteiführung schwieg. Ich kannte das aus früheren schwierigen Situationen nicht.

Am 4. November 1989 sollte die Großkundgebung auf dem Alexanderplatz stattfinden. Einen Tag zuvor war eine Belegschaftsversammlung der Mitarbeiter des Rathauses. Von der explosiven Lage war in der Haltung des Rates nichts zu spüren. Fast zum Schluß der Veranstaltung wollte man entscheiden, ob das alljährliche Vergnügen noch im November stattfinden sollte. Ich konnte nicht mehr an mich hatten und meldete mich zu Wort (ich war innerlich sehr aufgewühlt) und fragte nur:

„Was gibt es da noch zu entscheiden? Morgen marschiert die Konterrevolution!" Die Reaktion war geteilt. Viele waren betroffen und andere, vor allem jüngere Mitarbeiter, empört.

Es dauerte bekanntlich nicht lange. Die SED löste sich in die PDS auf. Heidrun und ich blieben in der sich neu bildenden Partei unter Gregor Gysi in der Hoffnung, sie wird der wirksame politische Gegenpol zu der sich abzeichnenden verhängnisvollen Entwicklung in der DDR sein.

Natürlich hatten wir hierbei (immer Heidrun und ich) mehr als gemischte Gefühle. Dieser Schritt wurde von manchem nicht verstanden.

Als ich einmal einem Genossen die oben geschilderte Episode erzählte, stellte er die berechtigte Frage, warum wir in der Partei verblieben sind?

Meine Antwort sinngemäß: Die das mit uns veranstalteten, waren nicht die Partei. Ich sagte noch mehr, sprach von der Geschichte der Menschheit und ihrer Jahrtausende währende Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Das prägte die Menschen, ihre Eigenschaften und Charaktere: Neid und Mißgunst, Solidarität, Liebe, Hoffnung, Erfolgssucht und Strebertum, Egoismus und Mitgefühl, Gemeinschaftsdenken und -handeln usw. Wir begannen in der DDR eine neue Gesellschaft, die sozialistische, aufzubauen und zu gestalten, und wir wollten in nur wenigen Jahrzehnten Edelmenschen erziehen? Das wird auch einer kommenden Generation, die einen ähnlich gearteten Weg beschreiten will, nicht von heute auf morgen gelingen. Vielleicht hat sie günstigere äußere Bedingungen, als wir sie hatten, und nicht den Todfeind einer Ausbeutergesellschaft vor der Haustür und noch dazu einen, der unsere Sprache spricht. Hatten wir nicht trotzdem in den wenigen Jahren im Zusammenleben der Menschen viel erreicht? Ich sprach schon davon, wie Heidrun und ich in dieser Bundesrepublik angekommen sind bzw. aufgenommen wurden.

Ich schied aus dem Rathaus aus. Die Modrow-Regierung, mit Blick auf das, was den DDR-Bürger erwarten würde, gestattete auch mir, dem inzwischen 60jährigen, den Übergang zur Altersrente über den Vorruhestand. Eigentlich schien alles gut zu laufen. Wenn nicht, ja wenn da nicht der Zusammenbruch der Wirtschaft, die wachsende Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, nicht nur der arbeitsfähigen Erwachsenen, sondern vor allem unserer Kinder und auch meiner Heidrun, heute mit 43 zum alten Eisen zählend und zum zweiten Mal unverschuldet arbeitslos werdend, gewesen wären. Sorgen, die nur kaschiert werden von der sogenannten Reisefreiheit und der Freiheit, daß ich noch das schreiben kann, was ich hier zu Papier bringe. Dann gehe ich durch mein Johannisthal, sehe den still liegenden und von zerstörten Fensterscheiben gekennzeichneten ehemaligen Volkseigenen Betrieb Kühlautomat, einst Arbeitsstätte von mehr als tausend Menschen. Es soll wohl jetzt noch die Lehrwerkstätten geben, in denen auch meine Kinder aus der zweiten Ehe ihre ersten praktischen Schritte fürs Leben von hochqualifizierten Facharbeitern als Ausbilder gewiesen bekamen.

Dort war auch einst das Fernsehen der DDR mit seinem Bereich Synchronisation konzentriert. Täglich frequentierten diesen Bereich bis zu 3.000 Menschen. Kleine Händler fanden hier eine gute Kundschaft. Die Studiohallen des Fernsehens sind verschwunden. Sie stammten zum Teil noch von der TOBIS-Filmgesellschaft, waren aber auf den modernsten Stand gebracht. Das Synchron existiert noch, doch mit welcher Kapazität? 1988/89 hatte ich Gelegenheit, mein Mittagessen in der Kantine dieses Großbetriebes einzunehmen. Ich traf dort viele aus Fernsehen und Film bekannte Schauspieler. Sie aßen nicht nur, sie disputierten oder waren mit ihrem Rollenstudium beschäftigt. Alles lief aus meiner oberflächlichen Betrachtungsweise normal, bis eines Tages im Oktober '89 an den Anschlagtafeln Aufrufe von irgendwelchen Komitees zum Widerstand gegen die DDR erschienen. Schauspieler, die besonders häufig im DDR-Fernsehen und Film zu sehen waren, wurden verunglimpft und angeprangert. Ein Wohnungsnachbar, der dort beschäftigt war, warb im Namen eines Betriebsrates für eine Streikkasse. Draußen, außerhalb des Geländes, hatten irgendwelche Leute auf einem Betriebsschornstein eines heute stillgelegten Chemiebetriebes eine BRD-Fahne aufgezogen. Eine Frau äußerte bei ihrem Anblick besorgt, ob die wissen, was sie da tun?

Zwei Jahre später, 1991, wir verbringen ein paar Urlaubstage auf Rügen und besuchen auch die Kreidefelsen bei Saßnitz. Viel Betrieb, denn zahlreiche westdeutsche Bürger trieb es an die Küsten jener Oasen, die einst nur DDR-Bürgern vorbehalten waren (der Strandaufenthalt war kostenlos). Wir suchten also in der Nähe der Steilküste eine Parkmöglichkeit. Ein junger Mann wies uns ein und sagte: „Extra für euch als Trabi-Fahrer." Im späteren Gespräch mit ihm erfahre ich, er ist arbeitslos. Er war früher, also zu DDR-Zeiten, Maschinist im Kreidewerk. Stolz sprach er davon, daß er in Leipzig Teilnehmer der Montags-Demos gewesen war. Der Mann müßte jetzt 50 Jahre sein. Ob er wohl seinen Beruf verlieren wollte, als es ihn nach Leipzig zum Protest gegen die DDR zog?

Komme ich in meine Heimatstadt Aschersleben am Harz, dann dreht es mir das Herz um. Was ist aus diesem, eigentlich häßlichen Industriestandort geworden? Ich könnte nicht einmal sagen, was von den vielen Betrieben noch übrig geblieben ist. Was amerikanische und britische Bomber Mitte April 1945 nicht mehr vollbrachten und mit ihren Bombenlasten über der Stadt abdrehten, weil in der Stadt bereits gekämpft wurde, das erledigten ihre westdeutschen „Kampfgefährten" in Gestalt der Treuhand mit kalten Mitteln 45 Jahre später. Heute beklagt man in der Alt-BRD diesen selbstverschuldeten Ruin der DDR-Wirtschaft und schiebt eigene Untaten, anders ist das nicht zu beschreiben, der Partei- und Staatsführung der DDR in die Schuhe.

Gewiß, für uns, meine Familie und mich, hat sich alles grundlegend verändert. Ich mache daraus kein Hehl. Mir blieb das Glück, wie vielen auch, beschieden, von Helgoland bis zu den bayrischen und österreichischen wie italienischen Alpen Schönheiten der Natur und das, was Menschenhand in friedlicher Arbeit schuf, zu sehen und zu erleben. Ich besuchte mehrere Male die Heimat meines Vaters in Unterfranken und fand meine Cousinen und Cousins noch am Leben vor. 40 Jahre sind nun einmal im Leben eines Menschen eine lange Zeit.

Ich bin handwerklich sehr interessiert. Was heute Baumärkte an Fülle bis zum Überfluß bieten, war in der DDR einfach nicht denkbar. Die Super- und die Elektronikmärkte wirken korrumpierend. Hat man Arbeit und das genügende Einkommen, ist das alles kein Problem und der Nutznießer wünscht sich eine DDR nicht zurück. Es dürfen nur Arbeit und Geld nicht ausgehen.

Das Problem für mich, der ich mich in der Endphase des Lebens befinde, ist die besorgte und wohl berechtigte Frage, was aus meiner Heidrun, was aus meinen Söhnen, Enkeln und dem Urenkel Philipp wird?

War diese Wende so total, daß bei dem heutigen Stand der Produktivität in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern das Ende der Menschheit auf diesem Stern eingeleitet wurde? So lange es die sozialistisch geprägte Gesellschaft in der Sowjetunion und dem sozialistischen Staatenbund gab, bestand Hoffnung auf die Erhaltung unseres irdischen Daseins und dessen Entwicklung zum Segen allen Lebens auf unserem blauen Stern.

Ich unkte nicht, als ich Silvester 1989 auf dem Wege zur Massantebrücke, ehemals Grenze zwischen Ost- und Westberlin, nach Kenntnis der Vandale am Brandenburger Tor zu einem Genossen sagte: „Das ist ein böses Zeichen. Da kommt auf uns Schlimmes zu."

Vielleicht findet die Menschheit doch noch die Kraft, sich vom Würgegriff des Kapitals zu befreien. Die Zeit hierfür ist überreif.

Konrad Zink 


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