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Christel Fiebiger

Zähmen - aber wen?

Selten schwankte der Boden für ökonomisches Handeln in der DDR so stark wie zum Zeitpunkt der letzten Kommunalwahlen am 7.5.1989. Die wenigen Monate davor und danach veränderten die verkrusteten Strukturen der DDR, ihre Bürger und das Land.

Die Politik klammerte sich an die Vergangenheit und konnte sich nicht mehr nach vorn bewegen. Die Folge war Bewegungslosigkeit und gesellschaftlicher Stillstand.

Die Wahlen am 7.5.89 fielen zusammen mit dem 44. Jahrestag der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus.

   „Heute sind die Ergebnisse des Sieges über den Faschismus so stabil wie noch nie zuvor"

„Das Volk leitet die Wahlen"

„Weiter voran im Bündnis aller Schichten und Klassen"

„Für einen starken Sozialismus und einen sicheren Frieden"

„Frieden, Glück und Wohlergehen"

waren die Überschriften der Tagespresse am folgenden Tag. Irgendwie hatten sie auch recht, denn das Wahlergebnis, von Egon Krenz als Wahlleiter verkündet, war erfolgreich wie immer, so als wären alle zufrieden.

Wahlberechtigt waren 12 488 742 Bürger. Es wurden 12 335 487 Stimmen abgegeben. Das entspricht einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent. 74 000 Bürger waren in den Wahlkommissionen tätig, 235 000 Bürger in den Wahlvorständen, und eine Million waren Wahlhelfer. Diese Zahlen waren eine Tatsache, und ich war in meinem Wahlkreis, dem Dorf Wolfshagen, mit vor Ort. Ich hatte mich ehrlich darum bemüht, einen „vertrauensvollen Kontakt" mit den Bürgern aufzubauen. Auch mir war entgangen, dass unser Gerede von allerlei Demokratie in der Kommunalpolitik und auch von den wirtschaftlichen Reserven abgenutzt und ohne Inhalt war. Die Leute wollten es einfach nicht mehr hören.

Das Versagen des politischen Systems hatte den Lebensnerv des Landes schon schwer beschädigt. Trotz eines großen analytischen Potentials in seinem Umfeld stellte sich das Politbüro taub gegenüber den strategischen Veränderungen in Europa und den notwendigen im eigenen Land. Die führende Rolle der SED war zu Sprachlosigkeit und Politikunfähigkeit verkommen. Damit offenbarte sich, in welchem Maße in den Führungsorganen der DDR Kraft, Willen und Geist bereits aufgebraucht waren. Der dreiste Versuch von SED-Führung und Justiz, die Offenlegung ihrer Wahlfälschungen durch die Bürgerbewegung zu verhindern, beschleunigte die Agonie der DDR. Ein hierarchisches System, unfähig und unwillig, die Zeichen der Zeit zu verstehen, begann, wie ein Kartenhaus zusammen zu brechen.

Ich war in dieser vergänglichen DDR Verantwortungsträger auf Kreisebene - konkret Stellvertreter des Vorsitzenden für Land- und Nahrungsgüterwirtschaft.

Noch im Monat Mai bestätigten so genannte „Zeugenbefragungen“, dass ich der Politik unserer Partei und der Sache der Arbeiterklasse treu ergeben sei. Das, was heute naiv klingt, war damals für einen DDR-Verantwortungsträger die „richtige“ Entscheidungsposition. Das wussten auch die befragten „Zeugen“ und schrieben es auf.

Der Kreistag bemühte sich um eine „weiterhin funktionierende Wirtschaft" und um mehr Demokratie. Alle Versuche, mehr Demokratie zu praktizieren, beschränkten sich jedoch auf eine veränderte Rollenverteilung der Ratsmitglieder. Da es wegen der allgemeinen Stimmungslage günstiger erschien, die Posten der Stellvertreter des Ratsvorsitzenden nicht nur mit SED-Mitgliedern zu besetzen, wurde ich von meinem CDU-Kollegen abgelöst. Dieser Schritt erfolgte also nicht, weil Pluralismus zur Demokratie gehört, sondern weil er nach mehr Demokratie aussah. Als nunmehr „einfaches" Ratsmitglied behielt ich mein Gehalt, mein Büro, und gleichgeblieben waren auch meine Arbeitsaufgaben. Lediglich der Sitzplatz am Ratstisch hatte sich verändert. Unerwähnt blieb dabei, dass ich in meine Stellvertreter-Funktion vom Kreistag am 1.5.1982 berufen worden war. Kurzfristig und zu meiner Überraschung bekam ich noch den Umweltschutz zugeordnet.

Die Konflikte um die Wahlen vom Mai 1989 setzten sich fort. Es begann ein Prozess, der widersprüchliche Hoffnungen weckte, aber immer deutlicher auf ein bevorstehendes Ende der DDR hinwies.

Im Kreis sollte alles „nach Plan“ weitergehen, so unauffällig wie möglich und so ruhig wie nötig. Es gab zahlreiche Veranstaltungen, so den „Tag des Leiters“, die „Woche der Frühjahrsbestellung“, Kreisparteiaktiv-Tagungen, ZV-Schulungen (Zivilverteidigung) und Rechenschaftslegungen der Abgeordneten in ihren Wahlkreisen.

Am 8.11.89 war ich in meinem Wahlkreis in Wolfshagen. Der Saal war brechend voll, über der Eingangstür hing eine schwarze Fahne. Ich wußte an diesem Tage nicht so genau, wer zu Grabe getragen werden sollte.

Es ging dort richtig zur Sache. Die Bürger regte alles mögliche auf. Es gab Fragen über den Besitz von Waffen für den Personenschutz, über die ökologische Landwirtschaft, dass zu wenig Futter für die Tiere vorhanden sei und dass das Futter, was da war, von schlechter Qualität sei. Es gab Fragen zur individuellen Tierhaltung. Warum Brot so billig sei, dass es verfüttert werde? Warum die Wirtschaft nicht funktioniere, und dass es doch nicht richtig sei, dass im Sozialismus das Baumaterial schwarz besorgt werden musste. Die Dorfstraßen seien schlecht - und überhaupt würden die Bürger nur von „oben“ regiert ...

Es war, als hätten die Menschen im Saal Fieber.

Ich gab Antworten so gut ich vermochte; ich sagte: „Ich kläre das ab“ und - klärte nichts. Diese Fragen hatten damals keine direkten Adressen und wurden nicht als Zeichen der Zeit verstanden.

Die politischen Berichte über die Montagsdemonstrationen in den Kirchen stellten die innerpolitischen Konflikte zwischen Staat und Bürgern einseitig dar. Aus dem Stand demokratiefähig zu sein, das war nicht machbar und deshalb wirkte jeder Versuch auch blamabel. So wurde die Chance, getragen von einer breiten Bewegung zu einer sozialistischen Republik mit mehr Pluralismus, Demokratie und Humanität zu gelangen, begraben. Die schwarze Fahne vor der Eingangstür war ein Signal mit Folgen.

Am 21.11-89 wollte ich die erste Umweltberatung durchführen, leider ohne großen Erfolg. Ein Vertreter des Neuen Forums beantragte die Unterbrechung der Sitzung, die Entfernung des Bildes von Erich Honecker und die Abnahme der Losung: „Arbeite mit plane mit, regiere mit!“ Ich lies mir nicht gerne Vorschriften machen und bat den „hohen" Vertreter, die Veranstaltung zu verlassen. Das klingt heute wie ein Schwank aus der Provinz.

Innerhalb von wenigen Monaten und kurzen Tagen waren die Ereignisse aus dem Ruder gelaufen. Ich hatte zahlreiche Gespräche in verschiedenen Betrieben zu führen über Vergütungsforderungen, über Korruption der Leiter, die mit dem Dienstwagen nach Hause und zur Arbeit fahren, über das Anliegen einiger weniger, die personelle Umbesetzungen verlangten. Die Vorwürfe gingen ziemlich wild durcheinander, und es gab viele, all zu viele, die sich bei der Wahl ihrer Worte keinen Zwang antaten. Die häufigsten Vokabeln waren:

Bevormundung, antanzen, vorschreiben, Quatschköpfe, Gleichmacherei, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und immer wieder die Frage nach dem Vertrauen, wenn Selbstständigkeit gefordert war. Es war ein sinnloses stimmungsgetragenes Durcheinander, das auf die Frage hinauslief: Wie soll es weitergehen?

Die endlosen Sitzungen und das Warten auf die Vor- und Nachträge zu den Montagsdemonstrationen waren reine Zeitverschwendung.

Ich wusste, dass es Zeit wurde, die Zelte abzubrechen, noch bevor ich im Sumpf der Unsicherheit meine Identität verlieren würde, und begann mich nach reichlich sieben Jahren Arbeit im Staatsapparat, die ich für verloren hielt, zu verabschieden. Ich erklärte dem Ratsvorsitzenden meinen Abschied. Die Begründung war einfach - ich fühlte mich überflüssig und fehl am Platz. Denn zu dem, was ablief, wurden nur noch wenige Leute gebraucht. Mein Chef verstand damals die Zusammenhänge besser als ich. Er prophezeite mir den Beginn des Kapitalismus und das Ende der DDR.

Was nun? Ich bin nach Hause gegangen, um nachzulesen, was der Kapitalismus ist. Auf dem Weg nach Hause begegnete ich einer Hand voll Menschen, die riefen: „Wir sind das Volk!“ Und das waren sie tatsächlich.

Ich machte mich auf den Weg, um mit dem Volk zu reden, um eine andere Arbeit zu bekommen. Immerhin war ich Diplomagrarökonomin und hatte 11 Jahre lang eine LPG geleitet (vgl. meinen Beitrag in Band IV „Spurensicherung“). Da ich dort bekannt war, wollte ich keine Zeit mehr verschwenden, denn das sollte ein schweres Unternehmen werden. Am 14.11.89, am 27.11. am 1. und 6.12. stellte ich mich in den verschiedenen Brigaden der LPG Groß Warnow vor. Meine Bereitschaft wurde einem starken Test unterzogen - viel Feindschaft, aber auch Sachlichkeit. Es war die Zeit, in der Personen aus dem Staatsapparat nicht sonderlich beliebt waren, und das zeigten einige Bürger beispielhaft.

Die freie und geheime Wahl wurde dann am 20.12.89 durchgeführt. Ich erhielt von 172 Wahlstimmen 114 Ja-Stimmen, 44 Nein-Stimmen, 14 waren ungültig bzw. Enthaltungen. So wählten mich 66,2 Prozent zur LPG-Vorsitzenden in Groß Warnow. Das Ergebnis war unter dem damaligen Druck gut, und Mehrheiten sind ab 50 + x Prozent eben Mehrheiten. Genau so gut hätte es anders kommen können. Aber ich hatte keinen Plan für alle Fälle.

Am 4.12 89 wurde ich aus meiner damals schon vergangenen Arbeit entlassen. Wenn nicht noch zwei weitere Kollegen dabei gewesen wären, hätte es niemand bemerkt. Von dem Tag an beschäftigte ich mich mit der demokratischen Umwälzung in unserem Lande. Es blieb nicht viel Zeit oder besser, es ging Schlag auf Schlag.

Die Genossenschaft:

In der Zeit von Ende des Jahres 1989 bis zum 28.3.1991 habe ich viel Falsches und einiges Richtige geschrieben. Es gab eine Reihe von neuen Vorschriften, Gesetzen und auch unvollständigen Empfehlungen, deren Rechtswirkungen erst nach Jahren und bis in die heutige Zeit ihre Auswirkungen auf die Genossenschaften haben.

Am 28.3.1991 leitete ich eine Mitgliederversammlung mit dem Anliegen, eine klare Entscheidung über das Fortbestehen der LPG durch Umwandlung in eine Genossenschaft e.G. (eingetragene Genossenschaft) zu erreichen. Die Währungsumstellung war bereits abgeschlossen, deshalb machte der Gesetzgeber Druck und drohte, die LPG zum 1.1.1992 aufzulösen. Ich wusste an diesem Tage, dass alles Mögliche passieren konnte, aber es war mehr als notwendig, klare Verhältnisse einzufordern.

Die Abstimmung erfolgte geheim und auf Stimmzetteln. Es waren mehrere Wahlgänge notwendig. Einer für die DM-Eröffnungsbilanz, die Landbesitzer stimmten gesondert ab und einiges andere mehr. Der erste Wahlschein lautete: Soll die begonnene Umwandlung der LPG Groß Warnow in eine eingetragene Genossenschaft fortgesetzt werden? Ja/Nein. Damals entschieden sich 79,4 % aller 223 anwesenden Mitglieder für ein Ja. Hinter dem Ja konnte sich auch ein Nein verbergen. Vielleicht war da der Gedanke, die Verantwortung für die Zukunft den anderen zu überlassen. Ich machte mir keine Illusionen über die Bedeutung von Ja-Stimmen, da ich befürchten musste, dass diese Prozedur nur einen Steinwurf entfernt war von Begehrlichkeiten, die mit dem Vermögensänderungsgesetz angebahnt worden waren und sich in der Juristensprache Rückübertragungs-Ansprüche nannten.

Der Neuanfang war allerdings kein Rückwärts in die Strukturen von gestern. Denn die waren kaputt und abgewickelt.

Diejenigen, die anderer Auffassung waren und privat wirtschaften wollten, verließen die Versammlung. Sie bekamen nach den Bestimmungen des Landwirtschaftsanpassungs-Gesetzes anteilige materielle und finanzielle Abfindungen. Auch das ging nicht ohne Gesetzeshüter ab. Das Fell verteilen, das war nicht mein Anliegen und nicht meine Aufgabe. Jede geprüfte Bilanz war ein Stück harter Arbeit. Immer eingepackt in die Kenntnis und auch Unkenntnis dessen, dass in naher Zukunft politische Akteure gewichtige Argumente auf den Tisch legen werden, die an der Fortexistenz der eingetragenen Genossenschaften zweifeln lassen.

Die Umbildung der LPG nach dem Landwirtschaftsanpassungs-Gesetz von 1990, das der Bundestag bereits 1991 novellierte, führte in die eingetragene Genossenschaft, für die das Genossenschaftsgesetz aus dem Jahre 1889 maßgebend ist, da es bis zum heutigen Tage nichts Besseres gibt.

Die Genossenschaften sind innerhalb des Kapitalismus eine Alternative zu Kapitalgesellschaften und auch eine Alternative zum bäuerlichen Familienbetrieb. Sie sind jedoch keine Alternative zum Kapitalismus. Das ist meine Erfahrung und Überzeugung. Es nutzt niemand etwas, wenn linke Ideologen in die Genossenschaft ein Stück Sozialismus hineingeheimnissen. Das ist fern jeder Realität. Es wird auch vom Denken und Handeln der aktiven Genossenschaftler nicht getragen.

Tatsache ist, dass die Mehrzahl der LPG-Mitglieder keinesfalls als Einzelbauern wirtschaften wollen - oder auch nicht gekonnt hätten, da die jahrzehntelange spezialisierte Arbeit nur wenige „runde“ Bauern, die alle landwirtschaftlichen Arbeiten beherrschen und in der Lage sind, komplexe Verantwortung zu tragen, übrig gelassen hat. Selbst das Weitergeben der Höfe vom Vater auf den Sohn ist eine Tradition, die sich mit der Zeit überlebt hat. Die Kinder haben andere Interessen. Auch sind sie gegenüber der jetzigen Form der Landwirtschaft oftmals kritisch eingestellt. Also, warum sollten sie das mitmachen? Außerdem gehört der aus meiner Sicht schöne Beruf eines Bauern tatsachlich nicht zu den „attraktivsten“ Arbeitsplätzen in dieser Republik. Obwohl die Agrargenossenschaften - wie gesagt - keine sozialistische Alternative sind, werden sie von der offiziellen Politik in Brüssel und Berlin wie „Fremdkörper" behandelt. Ihnen wird in den Prognosen der Strukturentwicklung ihr Ende bis 2025/2020 vorausgesagt. Und das wird tatsächlich der Fall sein, wenn es nicht gelingt, in allen Genossenschaften zu begreifen, dass der einzige Maßstab des Erfolges in der Marktwirtschaft der Gewinn ist. Natürlich ist Gewinn nicht alles, und erst recht nicht in einer Genossenschaft, die sich im Unterschied zur Kapitalgesellschaft als eine solidarische Sozialgemeinschaft definiert. Aber ohne Gewinn ist alles nichts! Nur wenn diese einfache Wahrheit in betriebswirtschaftlich effizientes Handeln umgesetzt wird, was einer leider noch zu kleinen Gruppe sehr erfolgreicher Genossenschaften immer besser gelingt, wird die Genossenschaft nicht länger als ein absterbendes Überbleibsel des DDR-Sozialismus angesehen, sondern zu einem „Erfolgsmodell“ in der BRD und EU werden. Das wäre ein evolutionärer Schritt von revolutionärer Dimension. Es wäre eine Richtungsentscheidung:

Wohin führt der unvermeidliche Sieg moderner Großbetriebe über die vom bäuerlichen Familienbetrieb geprägte Landwirtschaft? Entweder zur Dominanz von Kapitalgesellschaften mit Agrarkapitalisten und ihren Landarbeitern oder eben von Genossenschaften, in denen der Bauer als Gemeinschaftsbauer ein Bauer neuen Typs, aber eben doch Bauer bleiben kann. 


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