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Ekkehart K. Heisig
Streiflichter
Ich stand hinter der Gardine und meine Familie brauchte eine Weile, um zu bemerken, was mit mir los war. Wie Heine dachte ich an Deutschland in der Nacht und konnte meine Tränen nicht verbergen. Bin ich meinem Land in den Rücken gefallen und einer der Mitschuldigen, mußte ich mich fragen.
Ich war wie alle jungen Männer, die nicht vorher sterben, irgendwann 40 geworden und damit in das Alter gelangt, wo man selbst eine Meinung hat, eigene Wege gehen will und seine Umgebung selbst prägend gestalten möchte; das als Journalist und Schreiber, das als Mitglied der SED in der DDR! Der Crash folgte auf dem Fuß: 1986 Bewährung in einem Wäschereibetrieb, 1987 Gründung einer eigenen Gardinenwäscherei mit Komplettservice von wegen Marktlücke.
Was war los, fragte mich die Frau, während ich noch die feuchten Augen mit dem Stores wischte. Wir schrieben den 9. Januar 1990 und ich war gerade von meiner tatsächlich allerletzten Parteiversammlung zurückgekehrt. Mehrere hundert SED-Mitglieder hatten im „Stadtpark"[1] daran teilgenommen. Ich stand neben dem neuen Kreisarzt - gerade erst im Frühjahr eingesetzt - und dem Ratsmitglied für Wohnungswirtschaft. Wir hatten keine Sitzplätze mehr gefunden. Leise sprachen wir über die orthodoxen Holzköpfe, die Nachdenklichen und Unentschlossenen und jene, die gar nicht mehr gekommen waren. Im Stillen ahnten wir, daß alle Erklärungen seitens irgendwelcher SED-Vertreter nicht das Papier wert waren, auf welchem sie standen, überholt waren, ehe die Zeitungen ausgeliefert. Wissen ist eine Seite - verstehen, verkraften die andere.
So stand ich also, das Gesicht in den Stores gehüllt, ließ meinen Tränen über das Ende meines Landes freien Lauf, als ob ich den Tod eines nahen Menschen beweinte.
Ich hatte mich auch noch zu Wort gemeldet und an Bebels Worte vom Beginn des Jahrhunderts erinnert, worin er die Parteibürokratie anprangerte, die sich in der damaligen Sozialdemokratie breit gemacht hatte und sich anschickte, Führungsfunktionen an sich zu reißen. Damit begründete ich meinen Vorschlag, den Forderungen der Demonstranten nachzugeben und in der Kreisleitung nur noch eine Sachbearbeiterin und einen politischen Diensthabenden zu stationieren. Ich wurde von den „Hauptamtlichen“ ausgebuht.
Wenige Tage später mußten diese Leute unter dem Druck des Runden Tisches ohnehin das Feld räumen. Meine Genugtuung stieß mir bitter auf.
II
Zwei Monate später: Ich bin schizophren - gespalten in zwei Persönlichkeiten. Am Tage haste ich durch unser Land von Marienborn bis Staaken, von Wittenberge bis Zeitz und knüpfe ein Vertragssystem für eine Braunschweiger Firma. Ich arbeite von früh bis spät und spare auch nicht mit Geld, kaufe Fax und Computer - alles vor der Währungsunion - und betreibe obendrein noch unsere kleine Firma, die gutes Geld einfährt. Im Noch-Energiekombinat nehmen wir in 7,50 Meter Höhe die Gardinen ab. Als wir sie wieder angebracht haben, bittet mich der Hausmeister, in jeder Etage in einem Raum die Gardinen zu reinigen. Als wir die Zimmer betreten machen sie einen seltsam unbenutzten Eindruck: Alle gleich ausgestattet mit einem Schreibtisch, dem Maschinentisch, einer Schreibmaschine und einer Couchgarnitur. Auf meinen verdutzten Blick hin sagt der Hausmeister nur: Das waren Treffpunkte von der Sicherheit.
Tatsächlich, meine Person ist gespalten! Am Tage fahre ich mit dem neuen Passat -Variant - dem ersten in der Stadt - umher, trage Krawatte und verbreite Optimismus. Abends packt mich Heulen und Zähneklappern über den Zustand der versinkenden DDR. Als notorischer Schnellwender will ich nicht verschrien werden. Deshalb halte ich mich aus der Politik heraus. Doch gut leben will ich auch in Zukunft. Selbständig bin ich schon seit Jahren, also tue ich das nach neuen Spielregeln: Ich mache Geschäfte.
III
Ich komme von Ammendorf nach Merseburg hinein. Die Zigaretten sind mir ausgegangen. Ich entdecke eine frühere Straßenbahnhaltestelle, aus der man eine Kneipe gemacht hat. Über dem hüttenartigen Flachbau weht die schwarz-weiß-rote Seekriegsflagge. Drinnen sitzen ein paar einfache Männer bei den in jener Zeit besonders aufbrausenden Stammtischreden. Als ich meine Zigaretten bezahlt habe, frage ich provokant, was das für eine Fahne über dem Dach sei? Im Nu stehen sie alle in der Kneipe, der Wirt tritt hinter dem Tresen vor und ich flüchte mich in meinen neuen Passat mit dem Braunschweiger Kennzeichen. Durch das offene Schiebedach höre ich die erlöschende Wut in den Worten: „Ach, ein Wessi ...“
Wäre ich noch mit dem MOSKWITSCH gekommen, hätten sie mich zusammengeschlagen ...
IV
Um die gleiche Zeit fahre ich mit einem Niedersachsen im 7er BMW von Stendal nach Gardelegen. Als uns ein grüner SIL-Lastwagen entgegenkommt, macht der BMW-Fahrer einen heftigen Schlenker. Erschrocken stottert er: „Das ... das waren ja ... Russen!“
„Na klar", erwidere ich, „die sitzen hier bald in jedem Wald.“ Als der Fahrer sich beruhigt hat, erkläre ich ihm, daß ich mich ebenso erschrocken habe, als ich neulich im Westen Tommis begegnet bin ... „und im übrigen fahre ich noch immer ein bißchen zusammen, wenn mir auf der Straße ein Westwagen entgegenkommt!“
Darauf antwortet mein Begleiter prompt: „Nur, daß Sie selbst schon in einem Westwagen drin sitzen!“
V
Autos sind ein wichtiger Teil meiner Befindlichkeit. Vielleicht ist mir deshalb diese Episode in Erinnerung geblieben. Am 8. März lud ich ganz nach DDR-Tradition die Damen zu einer Frauentagspartie ein. Wir fuhren nach Braunschweig zum Shopping, besuchten Wolfenbüttel, Bad Harzburg und Braunlage. Dort kaufte mir meine Gattin zur Feier des Tages eine Aktentasche, über die laut Werbung ein LKW fahren kann, ohne Schaden anzurichten. Sie meinte sicher, daß der .Aktenkoffer den erfolgreichen Geschäftsmann kennzeichnet. Beim Überqueren der Grenze schaut uns mürrisch ein blutjunger Soldat vom Bundesgrenzschutz an. Die Frauen, meine Gattin nebst Tochter, unsere Angestellte und eine Freundin meiner Frau, in Ausflugsstimmung kichern, was die Miene des Kontrollierenden noch verdrießlicher werden ließ. Als er auch bei mir einen blauen DDR-Ausweis entdeckt, erwacht sein Spürsinn und mißtrauisch verlangt er die Fahrzeugpapiere. Er verschwindet in dem provisorischen Abfertigungsgebäude, um diese zu überprüfen.
Als der Soldat wieder heraus kommt, knallt er mir die Papiere in den Schoß und knirscht enttäuscht durch die Zähne: „Dienstwagen!“
Meine Gattin spekuliert boshaft: „Entweder hat ihn seine Freundin verlassen und er ist zum Frauenhasser geworden oder der TÜV hat seinen AUDI 60 stillgelegt und da macht ihn der Ossi im neuen Auto wild ...“
VI
Bei einer Familienfete in jenem Sommer drängte es mich, meinen Schwiegervater um Entschuldigung zu bitten. Er war Meister gewesen und in der Partei. Dabei hatte er in der Gewerkschaft aktiv gearbeitet und ein Betriebsferienheim mit viel Verantwortungsbewußtsein bis zum Schluß geleitet. Natürlich war er in jenen Wochen verunsichert, da sein Betrieb und alles, wofür er je eingestanden hatte, zusammengeschoben wurde.
Meine Frau und ich waren da in einer ganz anderen Situation. Wir bauten gemeinsam mit unseren neuen Freunden aus dem Westen etwas auf, waren voll Optimismus und wenn mal nicht, ließen wir es uns nicht anmerken.
Damals waren alle Situationen von Tagesereignissen bestimmt, wechselten mitunter stündlich und es fand eine statt, in der ich diesem in Ehren ergrauten Mann irgend einen dummen Spruch um die Ohren gehauen habe. Ich weiß nicht mehr genau welchen ... so von der Art: „Halb schwanger geht nicht!“, was ich in Abwandlung einer Gedichtzeile übersetzen mochte mit: „... der ganze Kapitalismus muß es sein!“ Dafür habe ich mich entschuldigt. Das rettete mich nicht davor, daß mich mein Schwiegervater in gleicher Weise von oben herab belehrte, wie die Menschen in Spanien leben, nachdem er von seiner ersten fünftägigen Busreise aus Loret de Mar zurückkam. Fazit: Wir waren alle derartig durcheinander, von den Tagesereignissen bestätigt, überholt und widerlegt, daß uns zumindest zeitweilig alle Maßstäbe verloren gingen, die Besonnenheit uns verließ, wobei die Beweggründe je nach der eigenen Stellung zur Deutschen Demokratischen Republik ganz unterschiedlich waren und sich wie im Schüttelfieber änderten.
Bei fast allen Schicksalsgefährten aus der Zeit der DDR klingt Sehnsucht nach verlorener Harmonie und Geborgenheit nach. Demgegenüber braucht die Marktwirtschaft die tägliche Angst des Angestellten um seinen Job und des kleinen Ladenbesitzers um die Existenz. Genau so habe auch ich aus Angst vor sozialem Abstieg nicht nur das Vermögen sondern auch die Familie aufs Spiel gesetzt, nur um den Klassen- und Statuserhalt zu sichern und nicht abzusinken. Es ist mir nicht gelungen, wie so vielen. Heute fange ich nur noch Dinge an, die ich gelernt habe und beherrsche. Aber davon kann ich nur schlecht leben.
VII
Einmal fuhr es mir kalt durch die Glieder und dieser Augenblick ist mir als Symbol der Wende, Wiedervereinigung oder - wie es offiziell wohl heißt - des Anschlusses im Gedächtnis geblieben: Am 3. Oktober gehe ich mit Frau und Kindern durch den Stadtpark. An gleicher Stelle, wo sonst Kampfgruppen oder NVA aus der Feldküche Erbsen mit Bockwurst verkauften, stand jetzt die Bundeswehr.
Hitler meldete nach seinem Einmarsch in Wien der deutschen Nation, er habe seine Heimat, die Ostmark, nach Deutschland zurückgeführt. Eine Parallele dazu wagte diesmal niemand.
[1] Ich kenne
in Schönebeck/Elbe nicht den Ort, an welchem 1946 die Vereinigung von SPD
und KPD stattfand, weiß
also nicht, wo diese allgemein übliche Tafel hing. Vielleicht sollte man
aber an der heutigen, seit Jahren geschlossenen Großdiskothek eine Tafel
anbringen, daß hier am 9. Januar 1990 unter
dem Druck der SED-Mitglieder die letzte Versammlung der SED stattfand.
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