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Monika Kersten

Eine neue Zeit

 Der Tag war grau und wolkenverhangen - ein trüber Vormittag, der sich in meinem Befinden niederschlug. Wieder hatte ich ergebnislos das Arbeitsamt verlassen, ohne Hoffnung auf Arbeit in den nächsten Monaten.

Doch was hatte mir die Arbeitsvermittlerin mitgeteilt? Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wären geplant. Vielleicht habe ich Glück, in eine solche Maßnahme eingegliedert zu werden, obwohl dieser Arbeitsvertrag nur für ein Jahr gilt. Wieder ein neues System, diesmal in der Arbeitsvermittlung, das wir ehemaligen DDR-Bürger zuvor nicht kannten ...

Beim Hinausgehen blickte ich in die Gesichter von noch relativ jungen Leuten und auch in die Gesichter von Menschen mittleren Alters - in den meisten las ich Ratlosigkeit.

Was ist aus den früheren DDR-Bürgern geworden? Was wird folgen?

Als ich aus Rußland heimkam, wo ich für einige Jahre an der Erdgas-Trasse arbeitete und lebte, sah ich bewegende Demonstrationen in Städten der DDR - Bilder, die in allen Medien gezeigt wurden und um die Welt gingen.

„Wir sind das Volk!“

Die Bevölkerung der DDR hatte alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft gesetzt: Für mehr Freiheit und Demokratie! Wir alle wollten die Fesseln des einengenden Sozialismus abstreifen.

Spektakuläre Massendemonstrationen;

enorme Flüchtlingsströme über Ungarn;

Bilder, die in die Geschichte eingingen.

Und nach dem Fall der Mauer - wie hatte sich das Blatt gewendet: Arbeitslosigkeit für viele Menschen, gar mit Existenzangst!

Betriebe, die einst auf Hochtouren liefen, wurden geschlossen, nicht nur in meiner Stadt sondern in der ganzen DDR. Auch meine Firma, ein Hochbaukombinat, existiert nicht mehr. Dort war ich Büroangestellte, bevor ich im Jahr 1985 ins Ausland ging. Nach der Wende erlebte ich mit meinen Schicksalsgefährten den Umschwung zum realen Kapitalismus, den einige Leute schon im ersten Jahr kaum verkraften konnten.

Ich erinnere mich an Kurt, einen Mann mittleren Alters, der seinen Job verlor und am Rande des Existenzminimums lebte. Er war Montagearbeiter in einem Werk für Küchen gewesen. Keine Arbeit mehr - kein Geld - obdachlos. Kurt hatte keinen Platz in dem neuen Regime gefunden, er lebte auf der Straße bis zu seinem Tod.

Als ich 1990 für immer in die Heimat zurückkehrte, erlebte ich eine besonders niederschmetternde Begegnung in unserer Landeshauptstadt. Zum ersten Mal traf ich auf einen jungen Mann, der in fadenscheiniger Kleidung auf der Straße saß. Er trug ein Schild aus Pappe vor der Brust. Ich las die krakeligen Großbuchstaben: „Bitte eine Spende für mich Obdachlosen!“ Das schockierte mich - so etwas hatte ich nicht einmal in Rußland gesehen.

Später sah ich noch öfter dergleichen und noch immer berührt mich die Armut und Not.

Den Übergang vom vermeintlichen Sozialismus zum realen Kapitalismus empfand ich als eine Zeit massiven Betroffenseins. In meinem Umfeld erinnere ich mich an Diskriminierungen und Entrechtung; es war aber auch eine Zeit der sozialen und mentalen Selbstbehauptung, man mußte den Umgang mit dem neuen System lernen. Um so härter traf es uns, die wir als Elite auszogen und verstört zurückkehrten in ein Land, das sich völlig gewandelt hatte und nur noch in der Landschaft - nicht einmal in Immobilien - als Heimat zu erkennen war.

Wir alle mußten und müssen lernen, die wichtigsten Entscheidungen für uns selbst zu treffen. Dadurch erkennen wir erst heute, in welchem Maße Partei und Staat, respektive seine Repräsentanten von Honecker bis zum kleinen Parteisekretär unsere Entscheidungen beeinflußten, sie uns abnahmen oder zur Not unser Schicksal über unsere Köpfe hinweg lenkten.

Was habe ich 1990 erwartet? Sicher nicht die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit! Wie nach dem Kriege vielleicht... ein paar Jahre Stillstand ... dann in die Hände spucken und es folgt ein neues Wirtschaftswunder. So hatte ich mir das gedacht, doch jetzt bin ich selbst bald Rentner und für viele ist keiner der '89/90er Träume in Erfüllung gegangen. Selbst diejenigen, welche auf der Welle mitschwimmen, haben stets Angst, in die Strudel gerissen zu werden.

Jetzt sind wir zwar frei von allen kommunistischen Zwängen - können in ferne Länder reisen, was in der DDR kaum möglich war. Reisen ging doch damals nur in Länder, welche die gleichen Regimes hatten. Uns Touristen zeigte man doch nur die Sonnenseiten - nicht das alltägliche Leben der Menschen in den Städten oder gar auf dem flachen Lande.

Ferne Gestade sind heute nicht mehr weit und in Stunden erreichbar; aber für Menschen, die nicht genug Geld besitzen, gar sozialen Abstieg erlebten, sind solche Ziele Lichtjahre entfernt.

Wir haben jetzt Meinungsfreiheit - ungewohnt für uns frühere DDR-Bürger. Wir brauchen nicht mehr zu befürchten, für eine kesse Lippe ins Gefängnis zu wandern. In der DDR hatten viele Menschen nicht gewagt, frei die Meinung über den Staat zu äußern. Heute gehen sie nicht einmal zur Wahl, denn ihre Meinung ist gar nicht gefragt.

Und dennoch: Mir ist bewußt, daß die Zeit nach dem Fall der Mauer für uns alle ein bitteres Erwachen darstellte, keiner ging unverändert in seinem Hoffen, Streben und Wollen durch dieses Fegefeuer. Wir müssen der Zukunft ins Auge sehen!


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