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Ingetraud Lander-Berndt

 Nachdenken über das Was-war und Wie-weiter

 

Glück gehabt. Als ich Bürgerin in dem für mich vierten deutschen Staat wurde, war ich schon Rentnerin. Das Ende meiner Berufstätigkeit als Dozentin an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig (KMU) fiel zusammen mit dem Wende-Herbst '89.

 

Was blieb mir nicht alles erspart

 Keiner meiner bisherigen Kollegen war vor die Frage gestellt: Sie rausschmeißen oder nicht. Schließlich hatte ich bis zum Herbst '88 acht Jahre lang die Funktion des Parteisekretärs der SED-Grundorganisation (GO) in der Sektion Psychologie (so die damalige Bezeichnung) inne. Bei welchem GO-Sekretär einer derartigen Institution klopfte nicht irgendwann einer von der Stasi - exakt: vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) - an, um etwas zu erfahren, genauso wie bei Betriebs- oder Institutsdirektoren, bei Personalchefs, aber auch bei Kneipern, Kleingärtnern, Schlafwagenschaffnern und, und, und. Was blieb mir nicht alles erspart. Und diese Evaluierung! Ich erinnere mich. In einer Talk-Show fiel dieses Wort, und ein bekannter CSU-Mann meinte, nach dem ihm erklärt worden war, was damit konkret gemeint sei, warum man nicht einfach von Neubewertung spreche. Keine Ahnung hatte er, wie das Wort Evaluierung - von den nunmehr Mächtigen aufs Tapet gebracht - lange Zeit und ganz besonders in Sachsen herumgeisterte, Gemüter in Unruhe versetzte und im Ergebnis der demütigenden und durchaus nicht politisch unabhängigen Neubewertung der wissenschaftlichen Qualifikation für viele bleibende Verletzungen und Benachteiligungen mit sich brachte. Auch das blieb mir erspart.

Auf jeden Fall brauchte in der Sektion Psychologie der Karl-Marx-Universität Leipzig, in der ich noch im Herbst '88 meinen 60sten feierte, keiner Berührungsängste zu haben, da ich im 89er Herbst wegging - nach 14-jähriger Tätigkeit, meinen intensivsten Berufsjahren. Dennoch, erst nach fünf Jahren (ich wohnte inzwischen in Berlin) wurde ich wieder mal zu einem Seniorentreffen eingeladen. Zu meinem 70sten erreichte mich eine Gratulation des neuen Rektors der Uni. Zeichen und Wunder! Da muss mich ja jemand auf die Liste gesetzt haben. Habe mich gefreut. 

Als wenn mir ein Licht aufging 

In meinem Selbstbild, wie wohl auch in den Augen mancher anderer, war ich eine parteiverbundene Genossin. Mir ging es jedoch in den letzten DDR-Jahren so, wie nicht wenigen meiner Genossen auch: Die Realität gab immer wieder Anstöße, vieles, was man lange Zeit unangefochten vertreten hatte und was als unumstößliche Wahrheit galt, kritisch zu reflektieren. Allerdings zweifelte ich bis in den 89er Herbst hinein nicht an der Zukunftsfähigkeit des DDR-Staates.

Eigenartig. Ich erinnere mich genau. Es muss Mitte der 80er Jahre gewesen sein. Während der Straßenbahnfahrt zur Arbeit hing ich wie gewöhnlich meinen Gedanken nach. Mich beschäftigte, dass es im Gegensatz zu meiner Anfangszeit als Parteisekretärin nicht mehr gelang, Studenten und Nachwuchswissenschaftler als Kandidaten für die Partei zu gewinnen. Als wenn mir ein Licht aufging, erkannte ich ganz nüchtern: Sollten bei uns die Schwierigkeiten und Probleme zunehmen, sollte eine ernsthafte, die weitere sozialistische Entwicklung gefährdende Krise entstehen, dann wäre die Hälfte der Parteimitglieder weg - das Mitgliedsbuch hingelegt und auf und davon. Denn - so ging mir durch den Kopf - von oben, von der Führungsspitze aus gesehen, besteht der eigentliche Sinn der Parteimitgliedschaft an der Basis darin, unten Menschen zu haben, die diszipliniert und verlässlich die Beschlüsse und die Argumentation der Parteiführung an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Familien- und Freundeskreis vertreten und sich aktiv für ihren sozialistischen Staat engagieren - also die führende Rolle der Partei unten jederzeit durchsetzen. So war das nicht immer, aber so ist es geworden.

 

Und die Motivation, Parteimitglied zu werden? 

Diejenigen, die in der Nachkriegszeit, wie auch ich (1948), zur Partei fanden, wollten sich einsetzen für eine antifaschistisch-demokratische Ordnung in Deutschland. Wir standen dazu, dass nur eine geeinte Arbeiterpartei die Zukunftsaufgaben zu lösen vermag. Gegenüber Zweiflern, resigniert Abseitsstehenden und auch Rückwärtsgewandten waren wir seinerzeit eine Minderheit, auch dann noch, als im Juli 1952 - knapp drei Jahre nach Gründung der DDR - der Aufbau des Sozialismus erklärtes Ziel von Partei und Staat wurde. Wir unten fühlten uns in unserem Kampf um ein besseres Leben eins mit unseren Parteiführern, erlebten uns ihnen nahe. Das änderte sich bald - wenn auch verdeckt, aber dennoch relativ schnell. In den 80ern, da redete man „unten“ längst mehr und mehr unverdeckt „von denen da oben“, die einfach nicht wahrnehmen, wie es unten aussieht.

Und welche Motivation, Parteimitglied zu werden, hatten die jungen Leute, die ich persönlich Anfang bis Mitte der 80er Jahre als Kandidaten für unsere Partei gewonnen habe? Meiner Erinnerung nach äußerten sie bei aller Differenziertheit immer wieder folgende Gedanken: Die Zukunft kann nur der Sozialismus sein. Es gibt nun mal eine führende Partei - muss wohl so sein. Ich möchte dazugehören, bin bereit, mehr Verantwortung zu tragen, um auch mehr Einfluss zu haben und verändernd mitwirken zu können.

Ja, etwas verändern wollen im gesellschaftlichen Leben, das war bei den jungen Menschen immer ein gewichtiger Grund für ihre Entscheidung zur Parteimitgliedschaft. Ich weiß es noch genau, als wäre es gestern gewesen (vielleicht, weil ich mir dazu einen Ruck geben musste). Um nicht Illusionen zu nähren, hielt ich hier mitunter etwas gegen und erklärte, dass es vor allem um Einflussnahme und Veränderungen im eigenen Wirkungsbereich gehe und dafür selbstverständlich viele Möglichkeiten gegeben sind - das war ja bei uns erlebbar - dass aber innerhalb der Gesamtpartei die Einflussnahme von unten nach oben bei unserem demokratischen Zentralismus (so nannte sich laut Statut das innere System) nicht so einfach sei. Der Zentralismus war eben ein ungeheurer. Dennoch: eigene Gestaltungsmöglichkeiten und Freiräume waren in der Grundorganisation durchaus gegeben. Sie waren eben nicht gleich null, wie heute manchmal behauptet wird - wenn auch eingeschränkt durch das Statut und den Führungseinfluss der übergeordneten Leitung. Mehrmals wurde ich mit dem Argument konfrontiert: „Ja, wenn es überall in der Partei so wäre wie hier, dann wollte ich auch Mitglied sein - ist es aber nicht!“ Gemeint war primär unsere offene Auseinandersetzungsatmosphäre.

Na klar, es gab auch karrieristische Motive. Ich habe Genossen kennengelernt, wo sich mir der Gedanke aufdrängte: „Na, waren bei deiner Entscheidung für die Parteimitgliedschaft nicht auch Vorteilsuberlegungen mit im Motivationsgefüge?“ Aber - vielleicht recht gutgläubig - die jungen Genossen, um deren Gewinnung für die Partei ich mich persönlich bemühte - die meisten von ihnen kamen von sich aus auf mich zu - wurden solche Motivation weit von sich weisen, und ich denke, zu Recht. 

Es blieben weit weniger als die Hälfte

 Als ab Sommer '89 Ideal und Wirklichkeit zunehmend mehr auseinanderklafften, als die Empörung über „die da oben“ wuchs und zunehmend Ohnmacht erlebt wurde, wo man doch verändernd wirken wollte, wunderte mich nicht, dass auch in meiner Grundorganisation einige bald keinen Sinn mehr in ihrer Parteimitgliedschaft sahen, enttäuscht waren, sich irregeleitet erlebten, das Mitgliedsbuch hinlegten. Ich bin aber nicht so naiv, nicht zu sehen, dass das bei einigen schlicht und einfach bedeutete: den Mantel nach dem Wind hängen. Andere hingegen sprachen offen aus: Sie erwarten nach dem 7. Oktober - 40. Jahrestag der DDR - eine grundlegende Änderung von oben.

Erinnere ich mich recht, waren es nicht die jüngeren, sondern Genossen mittleren Alters, die die Partei als erste verließen. Von den jüngeren waren einige im 89er Herbst zugleich im Leipziger Neuen Forum engagiert, waren mit auf den Montagsdemos. Eines Tages (wahrscheinlich im Oktober) kam einer von ihnen zu mir - ich war längst nicht mehr Parteisekretärin, hatte ihn aber einige Jahre zuvor für die Partei gewonnen. Er informierte mich, dass er nun austreten werde, denn im Neuen Forum dränge man auf Entscheidung: SED oder Neues Forum. Und dort, so meinte er, könne er jetzt eher verändernd mitwirken.

Und die Genossen, die die Jüngeren waren, als die SED entstand, die Jahrzehnte mit Herz und Verstand, mit viel Tatkraft für die Schaffung sozialistischer Verhältnisse gewirkt hatten - die in den vierzig Jahren Eltern und Großeltern geworden waren? Wie oft sagten sie zu sich selbst und zu anderen: „Es geht schließlich um die Sache!“ - und meinten damit, was in den Reden schwulstig „die große Sache des Sozialismus“ genannt wurde. So half man sich selbst über Ärger und Missstände hinweg, hielt Unzufriedenheit klein.

Im Oktober '89 war es. In einer lebhaften Diskussion im Freundeskreis fiel wieder mal - vielleicht besser, noch einmal - dieser Satz. Nunmehr klang er für mich recht hohl. Es entwickelte sich wohl die Einsicht, die große Sache ist nicht zu machen ohne die vielen kleinen, die sie fundieren und insbesondere nicht ohne Demokratie.

Erst nach der Maueröffnung, als sich auf der Leipziger Montagsdemo die Losung „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ gewandelt hatte, begann rapide der Rückzug aus der Partei. Nun lichteten sich allmählich auch die Reihen der älteren Genossen und bald - ich weiß den Zeitpunkt nicht genau - kam es zur Auflösung der Grundorganisation.

Im Frühjahr '90 - die SED hatte sich inzwischen in PDS umbenannt und begann sich zu reformieren - zählte die Partei noch 350 000 Mitglieder von ernst 2,2 Millionen. Also, sie hatte sich nicht nur auf die Hälfte, wie ich Jahre vorher für mich selbst so vage vorrausgesagt hatte, reduziert.

 

Die begonnene sozialistische Entwicklung musste scheitern

 

Ich blieb. Mich einfach davonstehlen, kam für mich nicht in Frage. Aber, wie ahnungslos, in den ersten Novembertagen '89 sagte ich noch zu einem Genossen in einem Interview: Jetzt möchte ich 10-15 Jahre jünger sein. Genau das sah ich sehr bald anders. Noch ehe der Beitritt zur BRD vollzogen war, wurde klar, welch brutale Ausgrenzung - und nicht nur das! - auf all die vielen zukommt, die sich als SED-Mitglieder an ihrem Platz im Leben der DDR-Gesellschaft für ihren sozialistischen Staat eingesetzt hatten.

Auf jeden Fall fühlte ich mich herausgefordert, mich gründlicher mit dem Was-war und Wie-weiter auseinanderzusetzen. Die Einsicht wuchs schnell: Mit den staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, wie sie in der DDR und in allen anderen sozialistischen Ländern existierten, war kein wirklicher Sozialismus zu erreichen. Die begonnene sozialistische Entwicklung musste scheitern. Wieviel Bewahrenswertes ging damit verloren! In welchem Staat ist je ein so hohes und konkretes Maß an sozialer Sicherheit und Chancengleichheit geschaffen worden wie in der DDR? Ich übersehe dabei nicht die Ungerechtigkeiten, die es leider gab!

Selbstverständlich sehe ich das Scheitern des sozialistischen Entwicklungsweges in unmittelbarem Zusammenhang mit der auf Gedeih und Verderb unabdingbaren Akzeptanz des Führungsanspruchs der Sowjetunion und den Bedingungen des Kalten Krieges.

Als damals um die Jahreswende 1989/90 auf dem SED-Sonderparteitag die Frage der Parteiauflösung stand, war für mich klar: Nein, Auflösung und Neugründung wäre eine Mogelpackung (abgesehen von den vielen juristischen und sozialen Problemen, die sich damit ergeben hätten). Wenn sich die Partei von innen heraus zu einer demokratisch sozialistischen zu reformieren vermag, wird sie sich ihren Platz unter den radikal veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erringen können.

Ich erlebte diesen Prozess als noch viel problematischer als befürchtet. Trotz aller Ausgrenzung und Diffamierung von außen und selbstgemachter Erschwernisse - wir sind mit der inneren Veränderung weit vorangekommen. Die PDS ist nicht die SED in früher. Sonst wäre ich auch nicht mehr Mitglied.

 

Nichts dagegen, würde die SPD die PDS überflüssig machen

 

Gegenwärtig (2002) ist die PDS in Deutschland die einzige Partei, die im Bundestag wie in der Öffentlichkeit eindeutig Krieg und Kriegseinsatz deutscher Soldaten sowie Terrorismus jeglicher Art - von Selbstmordterror bis Staatsterrorismus – ablehnt. Müsste man nicht annehmen, sie berühre schon deshalb - geschweige denn wegen weiterer von ihr vertretener gesellschaftlicher Zielstellungen - die Interessen der Mehrheit der Menschen im Lande? Weit gefehlt. Allein die Fragestellung klingt illusorisch. Politische Mehrheiten in der Gesellschaft zu verändern, das ist, wie sich zeigt, ein langer, kampfreicher Weg.

Für mich ist Grundüberzeugung (geworden): Es kann nur einen demokratischen Weg zur Erringung demokratisch-sozialistischer Verhältnisse in der Gesellschaft geben. Tiefgreifende revolutionäre Veränderungen können nur auf diesem Wege erreicht und gesichert werden. Das, was wir demokratischen Sozialisten als Zielstellung vertreten, wird, fragt man genauer nach, von vielen, die sich nicht als Sozialisten, nicht mal als Linke sehen, genauso angestrebt. Mir ist in heutiger Zeit konkreter einsichtig denn je: Die Frage steht perspektivisch in der zunehmend vernetzten einen Welt, wie schon im Kommunistischen Manifest geschrieben und von Rosa Luxemburg wenige Wochen vor ihrer Ermordung (Rote Fahne, 14.12.1918) auf den Punkt gebracht: Sozialismus oder Untergang in die Barbarei.

Die SPD vertritt selbst nicht mehr die Zielstellung demokratischer Sozialismus, und es ermangelt jeglicher Anzeichen dafür, dass sie sich wieder dahin entwickelt. Ich hätte jedoch nichts dagegen, würde es gut finden, veränderte sie sich so, dass sie die PDS überflüssig machen würde. Umgekehrt: näherte sich die PDS der SPD, wie sie heute ist, an - es wäre verhängnisvoll. Ergo: eine Partei des demokratischen Sozialismus wird in Deutschland gebraucht.

Solange die PDS eine Politik macht, mit der ich mich in Übereinstimmung befinden kann, werde ich ihr Mitglied bleiben.

 

Wende, Umbruch, Revolution, Konterrevolution?

 Während des Jahres 2000 habe ich ein Büchlein für meine Enkel und Enkel von Freunden geschrieben - „Auflage“ 15 Stück. Titel: Novemberereignisse im 20. Jahrhundert; letztes Kapitel, Wende-Herbst in der DDR. Hier etwas verkürzt der letzte Abschnitt daraus:

Wende, Umbruch, Revolution, Konterrevolution? Was war es, was sich 1989/90 so dramatisch vollzog? Als ich vor einigen Jahren gegenüber Freunden von Revolution sprach, wurde mir entgegnet: „Nicht Revolution, Konterrevolution! Schließlich ist ja eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung beseitigt und eine rückschrittliche wieder über uns gekommen.“ Ich entgegnete etwa so: „Ja, aber wenn das fortschrittlichere Gesellschaftssystem, wie es real existierte, nicht mehr veränderungsfähig war, keine wirklich tragbare, zukunftsfähige sozialistische Perspektive mehr ermöglichte? Wenn erst die ‚Verabschiedung’ von diesem staatlichen System und das Lehrenziehen aus den Gründen des Scheiterns wieder eine Perspektive für die Realisierung sozialistischer Zielvorstellungen ermöglicht - aus dem Hier und Heute der kapitalistischen Gesellschaft heraus? Also, für mich war die Wende 89/90 ein revolutionärer Umbruch.“

Soweit von mir damals niedergeschrieben.

An diesem letzten Satz scheiden sich die Geister. Das erfuhr ich sehr bald. Erst kürzlich, Ende Februar 2002, trug ich den hier wiedergegebenen Abschnitt in meiner PDS-Basisgruppe vor, neugierig darauf, wie meine Genossen das sehen. Die Reaktionen waren eindeutig. Hier einige Meinungsäußerungen:

-     Das war keine Revolution. Mit welchem Resultat denn? Das auch hier wieder Kapitalismus ist?

-     Ich habe in der Wendezeit nie von Revolution reden hören.

-     Wo sind denn diejenigen, die da Revolution gemacht haben sollen?

-     Ja, bis zum Oktober, wo es noch um einen besseren Sozialismus ging, könnte man von Revolution sprechen, aber danach nicht mehr.

Nun interessierte mich nochmals die Meinung meines nunmehr fast 18-jährigen Enkels - er hatte schon die Entstehung des Büchleins kritisch begleitet. Seine Reaktion:

Wieso? Versteh ich nicht! Wer sagte da, das war Konterrevolution? Die DDR war doch nicht mehr zu retten. Na klar, jetzt leben in Deutschland alle wieder im Kapitalismus! Also, Konterrevolution, das ist unsinnig. Und Revolution? Von dem Begriffsverständnis ausgehend, was ich in der Schule gelernt habe - eine tiefgehende, vieles mitreißende gesellschaftliche Veränderung ist da vor sich gegangen. Einerseits ein Rückschritt - erst mal aus und vorbei mit Sozialismus, aber so richtig war es ja keiner - andererseits sind jetzt in der Demokratie Veränderungen auch in Richtung sozialistischer Politik möglich. Ja, wenn man es optimistisch sieht, nichts dagegen, die Wende 89/90 als revolutionären Umbruch zu bezeichnen!"

(So von ihm autorisiert.)'

Noch neugieriger geworden, ging ich nun (April 02) einfach zu einem Treff der Jugendlichen von ['solid], dem der PDS nahestehenden Jugendverband in meinem Stadtbezirk. Ich traf dort fünf 16-/17-jährige in lockerer Gesprächsrunde an und überfiel sie mit meinem Anliegen, mir ihre Meinung zur meiner zu sagen. Das wurde - ich denke für beide Seiten - eine recht anregende Diskussion mit Für und Wider, letztlich dominierte Übereinstimmung mit den Ansichten meines Enkels. Aber viel wichtiger: Ich hatte angeregt zu intensiverer Auseinandersetzung mit dieser Thematik und wurde gefragt, ob ich sie bei ihren politischen Weiterbildungsveranstaltungen unterstützen könnte. Sehr gern, war meine Antwort.

Mir wurde klar, die unterschiedlichen Ansichten darüber, wie man benennen könnte, sollte, was da 89/90 in der DDR vor sich ging, lassen primär unterschiedliches Begriffsverständnis erkennen. Das müsste einen nicht weiter bewegen, wenn es nicht Einfluss hätte auf gegenwärtiges Politikverständnis und politisches Agieren.  

 

 

Freunde der Gruppe ['solid] Berlin-Marzahn/Hellersdorf, Sept. 2002 (Das durchgestrichene Hakenkreuz ist Agitationsmaterial.)

 

Ich will zur Begründung meinen Standpunkt ergänzen: Für mich war das Aus für die DDR ein äußerst schmerzliches Erleben. Es tat weh - wie wohl den allermeisten, die sich bis zuletzt für ihren Staat eingesetzt und auf eine Wende zu einer besseren sozialistischen Politik gehofft hatten. Diese gab es nicht mehr. Eingetreten war eine Veränderung in fundamentaler Form - seit dem Spätsommer '89 in weiten Teilen der DDR eingeleitet mit offenen, lawinenartig anschwellenden Protesten, übergehend in Aufruhr und Aufbruch, kulminierend mit dem Beitritt der DDR zur BRD. Das war totaler Zusammenbruch und Auflösung. Eine solch tiefgreifende Veränderung, die die Gesellschaft vielseitig und nachhaltig beeinflusst und damit neuen Möglichkeiten für gesellschaftlichen Fortschritt Raum gibt, das ist in meinem Verständnis (aber nicht nur in meinem!) eine revolutionäre Veränderung.

Ich gebe zu, es scheint paradox. Denn: noch vor dem Beitritt wurden Ansätze für eine revolutionäre Erneuerung des DDR-Staates, die zugleich Veränderungsanspruch gegenüber der Bundesrepublik enthielten - siehe Verfassungsentwurf des Runden Tisches - unterbunden. Die BRD ist seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems in vielem hinter sich selbst zurückgefallen. Das Gravierendste: Bundesregierung und Bundestagsmehrheit stimmten zu, dass sich deutsche Soldaten an Kriegseinsätzen beteiligen. Es wird versucht, erreichte soziale Standards zurückzudrehen. Die Schere zwischen am unteren Rand der Gesellschaft Lebenden und den in Reichtum Schwelgenden wird größer. Das große, international vernetzte Kapital, insbesondere das sich auf den Finanzmärkten tummelnde, entzieht sich mehr denn je dem Einfluss der Landespolitik und der Staat steht dem zunehmend ohnmächtig gegenüber. Dennoch: die demokratische Grundstruktur in der BRD-Gesellschaft mit ihrem demokratischen Grundgesetz lässt Raum für Widerstand gegen Fehlentwicklung und Missstände, für den notwendigen Kampf um neue politische Mehrheiten.

Ich bleibe dabei: Für mich war 1989/90 ein revolutionärer Umbruch, und ich baue darauf, dass die sich für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzenden Kräfte in Deutschland - also nicht nur die Linken allein! - es schaffen, politisch mehr Einfluss zu erringen und somit erfolgreich hinwirken können auf eine solidarische, ökonomisch effizientere, ökologisch verträglichere, politisch tolerantere Gesellschaft, die international tatkräftig ihre humanistischen Pflichten in der sich zunehmend vernetzten Welt erfüllt und sich für keinerlei Kriegsführung mehr hergibt. Ziel: eine Gesellschaftsstruktur, die sich zu Recht eine sozialistische nennen könnte.

Und ob ich angekommen bin in der BRD-Gesellschaft? Welche Frage! Mental bleibt in mir meine DDR-Vergangenheit - kann wohl nicht anders sein. Ich denke aber doch, in den Jahren, da ich nun BRD-Bürgerin bin, habe ich die ehemals zwei deutschen Staaten und die gesellschaftlichen Verhältnisse darin etwas anders sehen gelernt. Allein dadurch, dass ich als PDS-Mitglied in diesem nunmehr einen Staat - wenn auch bescheiden - versuche, politisch wirksam zu sein, muss ich ja zumindest angekommen sein. 


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