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Günter Glante

Chancenlos?

Dass Kunst und Kultur unter den Bedingungen der Marktwirtschaft nur einen geringen Stellenwert haben, ist mittlerweile so bekannt, dass uns der Begriff „Volkskunst" fast völlig fremd geworden ist. Viele setzen Volkskunst gleich mit der so genannten „Volksmusik", also einer Musik für das Volk, wie sie heute in Massen produziert und vor allem von den Massen konsumiert wird. Daher wohl auch der Begriff Volksmusik, aber aus dem Volk kommt diese von cleveren Machern produzierte und vermarktete Musik nicht.

Volkskünstler in unserem Sinne waren und sind die Laien und Amateure, die angetreten sind, Kunst zu machen. Einfach so, vielleicht auch für das Volk, aber in erster Linie wohl, um sich auszuprobieren, schöpferisch tätig zu sein.

In der DDR war das nicht besonders schwer. Als ich 1977 aus heiterem Himmel sozusagen als Direktor des Kabinetts für Kulturarbeit in der damaligen Bezirksstadt Gera eingesetzt wurde, hatte jeder größere Betrieb einen oder mehrere Zirkel oder Arbeitsgemeinschaften zur Förderung der Volkskunst. Dank der im Kultur- und Sozialfonds festgeschriebenen Mittel konnte jeder Betrieb die Bestrebungen seiner Mitarbeiter, sich Kunst und Kultur anzueignen, finanziell unterstützen. So entstand das, was wir damals die Volkskunstbewegung nannten. Da gab es Mal- und Zeichenzirkel, Schreibende, Amateurfilmer, Tanzgruppen, Zirkel für künstlerische Textilgestaltung, Chöre, Singegruppen, Orchester der unterschiedlichsten Art, Amateurtheater und -kabarett und schließlich ganze Ensembles. Berufstätige Männer und Frauen hatten die Möglichkeit, sich in den unterschiedlichsten Genres der Kunst einzubringen, ihre Fähigkeiten auszuloten und neben ihrer beruflichen Arbeit schöpferisch tätig zu sein. Tausende professionelle Künstler, Maler, Schriftsteller, Schauspieler usw. standen ihnen dabei hilfreich zur Seite. Aus dieser Bewegung entstand im besten Falle Kunst, aber auch, was nicht weniger wichtig war, eine innere Befriedigung und eine engere Beziehung der Beteiligten zu Kunst und Kultur. Ein Nebeneffekt war wohl auch die sinnvolle Freizeitgestaltung, das kollektive Erlebnis im Zusammensein mit Gleichgesinnten und nicht selten das Glücksgefühl bei der erfolgreichen Präsentation des Geschaffenen bei Aufführungen, Lesungen und Ausstellungen. Höhepunkte waren dabei für viele die Teilnahme an den jährlich stattfindenden Arbeiterfestspielen.

Ich habe schon erwähnt, dass dies alles ohne die finanzielle Unterstützung durch die Betriebe, Städte und Gemeinden nicht möglich gewesen wäre. Eine wichtige Rolle spielten aber auch die bei den Kreisen bestehenden Kabinette für Kulturarbeit. Leider war dies nicht immer und überall der Fall. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese an sich guten Einrichtungen allzu oft von Leuten geleitet wurden, die schon mit dem Begriff „Kultur" überfordert waren. Diese Leute kamen in der Regel aus dem Parteiapparat, von der Gewerkschaft oder aus dem Staatsapparat, wo sie wegen Unfähigkeit oder aus anderen Gründen ausscheiden mussten. Als „treue" Genossen wurden sie dann u. a. auf Leitungsposten im Kulturbereich abgeschoben. Ihr ausgeprägtes Machtbewusstsein - gepaart mit Hilflosigkeit und der Angst, etwas falsch zu machen - wirkten sich oft verheerend aus.

Soweit die leider schlecht bezahlten Mitarbeiter der Kreiskabinette für Kulturarbeit selbst im kulturell-künstlerischen Leben involviert waren, leisteten sie einen unschätzbaren Beitrag zur Entwicklung der schöpferischen Potenzen der ihnen anvertrauten Volkskünstler. In der Regel kann man das auch von den künstlerischen Leitern sagen, wenn es auch bei diesem und jenem an pädagogischem Geschick mangelte. In den weitaus meisten Fällen gelang es den meist professionellen Künstlern gut, ihren Zirkelmitgliedern handwerkliche Fähigkeiten zu vermitteln. Überhaupt war es dieser Prozess der schöpferischen Auseinandersetzungen mit allen Formen und Erscheinungen der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, der dazu beitrug, die eigene Persönlichkeit weiter auszuprägen und ihre Stellung in der Gesellschaft neu zu definieren. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass diese Volkskünstler auch in ihrem Berufsleben durch außergewöhnliche Leistungen auf sich aufmerksam machten.

Dies alles führte ganz natürlich auch dazu, dass dieser Personenkreis besonders sensibel auf Fehlentwicklungen in seinem gesellschaftlichen Umfeld reagierte. Das widerspiegelte sich insbesondere in den literarischen Arbeiten der Schreibenden, aber auch im Amateurtheater, im Kabarett und in der Singebewegung. Diese Genres hatten es besonders schwer, wenn es um die Präsentation ihrer Arbeit ging.

Ich kann mich an ein Beispiel aus einem „Zirkel schreibender Werktätiger" in den Keramischen Werken Hermsdorf in Thüringen erinnern. Eine sehr begabte Frau, die als Ingenieur im Werk arbeitete, hatte ein Gedicht geschrieben, das ich für gut hielt und der Betriebszeitung zur Veröffentlichung empfahl. Kurze Zeit später kam es zum Eklat. Ein Funktionär der Kreisleitung der SED entdeckte den vermeintlich „konterrevolutionären Kern" und reagierte unverzüglich. Für mich als Genosse hieß das, Rede und Antwort zu stehen. Oder besser gesagt zu erkennen, was mir bisher nicht aufgefallen war, mir Asche auf das Haupt zu streuen. Da mir aber nicht danach war, kam es zu mehreren Aussprachen, auch zu einer im Zirkel. Als dann auch die Genossen im Zirkel kein konterrevolutionäres Gedankengut erkennen konnten, endete das Trauerspiel mit einem Patt.

Leider war dann aber der Redakteur der Betriebszeitung so eingeschüchtert, dass er jede weitere Veröffentlichung von Zirkelarbeiten ablehnte. Ehrlich muss ich gestehen, dass es auch Arbeiten gab, an denen fachlich nichts auszusetzen war, bei denen ich aber, um meine Freunde zu schützen und vor Ungemach zu bewahren, vom bloßen Versuch einer Veröffentlichung abriet. Ganz anders sah das bei öffentlichen Lesungen aus. Da wurde alles gelesen und es gab danach auch nie irgendwelche Repressalien. Unsere Zuhörer waren weitaus toleranter als die Genossen von der Kreisleitung.

Wenn ich mich zuletzt den auch vorhandenen negativen Ein- bzw. Auswirkungen der volkskünstlerischen Betätigung gewidmet habe, war dies neben den überwiegend positiven Ergebnissen der Entwicklung der Volkskunst in der DDR eben auch deren Schattenseiten geschuldet. Heute hat die Volkskunst keine Schattenseiten, weil es keine Volkskunstbewegung mehr gibt. In Zeiten, in denen sogar der offizielle Kulturbetrieb und die professionelle Kunstszene um ihr Überleben kämpfen, ist eine Unterstützung von Volkskünstlern tatsächlich unmöglich geworden. Alles muss sich rechnen und die Persönlichkeitsbildung durch die schöpferische Auseinandersetzung mit der Kunst ist und bleibt Privatsache. Für die echte Volkskunst, für die Möglichkeit jedes Bürgers, sich und seine künstlerischen Fähigkeiten auszuprobieren, ohne die Absicht, jemals daraus Kapital zu schlagen, fehlt im Kapitalismus jede Voraussetzung. Es zählt nur der eigene Geldbeutel.

Selbst wenn die ehemals tragenden Betriebe noch existieren sollten - es blieb ja wenig genug übrig nach dem Kahlschlag im Osten - haben diese keine Mittel für die Förderung solch „brotloser" Kunst.

Die vom Staat ermöglichten Abschreibungen für Werbung und Sponsoring fließen an werbewirksam Künstlerpersönlichkeiten, an Spitzensportler und -sportclubs. Mit der Volkskunst kann niemand werben. Unter diesen Umständen hat sie keine Chance. So besetzt die Volkskunst im besten Falle eine Nische in der Gesellschaft, eine Massenbewegung wird sie nie wieder werden.

Oder gibt es dafür zukünftig doch noch eine Chance?


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