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Herbert Kreibich

Bewahrenswertes aus 40 Jahren DDR (Gesundheitswesen)

Meine Erinnerungen zum „Erlebten" im Gesundheitswesen sollen hier auf die ambulante ärztliche Betreuung sowie die betriebsärztliche und arbeitsmedizinische Betreuung in den Betrieben fokussiert werden.

Meine Frau arbeitete bis 1990 als Augenärztin in der so genannten „Handels-Poliklinik" am Alexanderplatz in Berlin. In den letzten Monaten der DDR kamen auch die ersten „Westbeamten und -berater" in die Behandlung. Zwei derartige Begegnungen sind unvergessen geblieben:

Eine freundliche Westfrau war ganz überrascht, dass sie mittels einer computergestützten ophthalmologischen Einheit von Zeiss Jena diagnostiziert wurde, was zur spontanen Frage Anlass gab: „Glauben Sie denn, dass wir in der DDR die Augen mit Hammer und Sichel bearbeitet haben?"

Ein Staatssekretär aus Bonn machte Ärzten und Schwestern Mut, unbedingt ihre Poliklinik zu erhalten, zumal alle Fachdisziplinen unter einem Dach waren und sehr effektiv arbeiteten. Da die Immobilie einem Geldinstitut gehörte - später als Berliner Bankgesellschaft landesweit berüchtigt - nahm das Schicksal seinen Lauf, nur Monate später gab es auch diese hervorragende Gesundheits-Einrichtung nicht mehr. Nahezu vollständig wurde das ambulante Gesundheitswesen privatisiert und die Arzte in Einzelpraxen dislociert.

Selbst war ich wahrend meines Berufslebens in der Hauptstadt der DDR als Betriebsarzt im Werk für Fernsehelektronik und im Berliner Reifenwerk, als Arbeitshygieniker in der zentralen Arbeitshygiene-Inspektion des Gesundheitsministeriums und als Arbeitsmediziner im Zentralinstitut für Arbeitsmedizin tätig.

Im nationalen Maßstab und im internationalen Vergleich war sowohl das Betriebsgesundheitswesen als auch der gesamte Gesundheits- und Arbeitsschutz besonders entwickelt und gefordert, dies entsprach auch dem generellen gesundheits- und wissenschaftspolitischen Selbstverständnis des „Arbeiter-und-Bauern-Staates", der vereinigten Arbeiterpartei SED und dem der Gewerkschaften des FDGB.

1986 stellte der Präsident der Internationalen Vereinigung für Arbeitssoziologie, der US-Amerikaner ELLING, eine umfangreiche Analyse vor, die zu folgendem Fazit kam:

„In der Sphäre der Verbindung von Arbeits- und Gesundheitsschutz und der primären Gesundheitsfürsorge steht - wenn auch noch viele Probleme vorhanden sind - die DDR an vorderster Stelle unter den untersuchten Ländern (Finnland, Bundesrepublik Deutschland, DDR, Großbritannien, Schweden, USA)(1)

Mit dem Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland 1990 trat jäher Abbruch der über 20 Jahre anhaltenden progressiven Entwicklung des Gesundheitsschutzes in den Betrieben ein. Die Entindustrialisierung in den Neuen Bundesländern (NBL) und in der Bundeshauptstadt erreichte eine in der Geschichte bisher einmalige Dimension, die Arbeiterklasse als soziale und politische Kategorie spielt heute nur noch eine marginale Rolle im rudimentären Produktions- und Reproduktionsprozesses dieser Region im Herzens Europas.

Dementsprechend fehlen die materiellen und personellen Voraussetzungen für einen Gesundheitsschutz in den Betrieben.

Das Werk für Fernsehelektronik - einer der größten und modernsten Betriebe Berlins - existiert nicht mehr, im Berliner Reifenwerk gibt es nur noch ein privates Reifenlager.

Das Zentralinstitut für Arbeitsmedizin mit seiner Klinik und Poliklinik für Berufskrankheiten, Zentrum der Hauptforschungsrichtung Arbeitsmedizin und das erste Collaborating Centre der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) in der DDR, fand im November 1990 durch den damaligen Bundespräsidenten von WEIZSÄCKER folgende Bewertung:

„Das Zentralinstitut für Arbeitsmedizin mit 420 Mitarbeitern, außerordentlich gut ausgestattet und die arbeitsmedizinische Tradition pflegend, soll in einem geeinten Deutschland ah leistungsfähige Einrichtung erhalten werden. "(2)

Das Ergebnis heute: In einer Außenstelle Berlin-Lichtenberg der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin mit Sitz in Dortmund arbeiten zur Zeit etwa 160 Mitarbeiter, vorwiegend als Behörden-Angestellte.

Die noch vorhandenen wenigen Betriebsärzte betreuen heute als Angestellte überregionaler Dienste oder nebenberuflich vor allem öffentliche Verwaltungen, Krankenhäuser und Kureinrichtungen, Handelsketten und kleine Handwerksbetriebe.

Gegenwärtig befindet sich systembedingt auch die gesundheitliche, soziale und pädagogische Betreuung der Kinder und Jugendlichen, ebenfalls eine historische Glanzleistung der DDR(3) in einer dem Gesundheitsschutz in den Betrieben ähnlichen desolaten Lage.

Auch hier fehlen heute die personellen Voraussetzungen, der Nachwuchs, und „es rechnet sich nicht". Diese Situation lasst sich mit einer Vielzahl von Vergleichen belegen, z. B. Zahl der Kinder- und Jugendärzte, der Kinderstomatologen, den Impf-Zahlen, den Kita-Plätzen, den Zahlen der Ganztagsschulen, den gesundheitlichen und anthropologischen Indikatoren von Kindern und Jugendlichen sowie den Zahlen zu ihrem geistigen Reifegrad (siehe PISA-Studien) usw. usw. Ganz zu schweigen von der sozialen Determiniertheit von Gesundheit und Bildung, wie sie in der neuesten Berliner Studie von 2001 eklatant auffällt. Da existieren wieder zwei Welten in einer Stadt (Zehlendorf/Wilmersdorf/Steglitz/Charlottenburg versus Neukölln/Lichtenberg/Friedrichshain/Kreuzberg), wie schon vor 100 Jahren im Kaiserreich.

Da generelle gesellschaftliche Veränderungen zum Positiven zu erhoffen sind, sind die Erfahrungen der DDR auf diesen beiden genannten Gebieten, wenn auch nicht gegenwärtig, so doch für die Zukunft in Erinnerung zu halten und bewahrenswert.

Die medizinische Betreuung (ambulant wie stationär) in Deutschland ist im Jahre 2004 im Wesentlichen durch 3 Problemfelder charakterisiert:

1.     die „sozialen Grausamkeiten" (des neuesten so genannten Gesundheitsreform-Gesetzes) gegenüber den Kranken, Behinderten, Pflegebedürftigen und sozial Schwachen,

2.     den zunehmenden Ärztemangel,

3.     die ausstehenden strukturellen Reformen.

In dem klinischen Sektor kommt noch die gegenwärtig auf Hochtouren laufende Privatisierung (d. h. der Eigentumswechsel) der öffentlichen kommunalen und landsergetragenen Krankenhäuser mit allen absehbaren Folgen hinzu.

Synchron zu den PISA-Studien veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen internationalen Vergleich zu Kosten und Effektivität der nationalen Gesundheitsdienste.

Danach lag Deutschland bei der Höhe der Kosten an dritter Stelle und bei den Effektivitätskriterien an 27. Stelle. Es gibt also ohne Zweifel ernsthaften Handlungsbedarf und nach meiner Kenntnis eine Vielzahl schwerwiegender Faktoren, die Beachtung finden müssen und wo man auf Erfahrungen anderer, z. B. auch der DDR, zurückgreifen sollte:

1.    Die Zahl der älteren Burger nimmt zu und damit auch der Umfang medizinischer Betreuung (demographischer Faktor).

2.    Die Möglichkeiten der Prophylaxe, Diagnostik und Therapie von Krankheiten sind durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt enorm gewachsen (wissenschaftlicher Faktor).

3.    Die schwere nationale wie globale Wirtschaftskrise verändert die Krankheitsstruktur der Hauptproduktivkraft Mensch und reduziert die Möglichkeiten einer medizinisch qualifizierten und sozial geprägten Betreuung für alle (ökonomischer Faktor).

4.    Die Einnahme-Situation der ca. 400 gesetzlichen und privaten Krankenkassen ist durch Defizite verschiedener Art und falsche Verteilung zunehmend prekär (finanzieller Faktor), z. B. wurden von den Kassenbetragen (GKV) im Jahr 2002 32,70 Prozent für alle Krankenhäuser und 15,77 Prozent für alle Hausärzte und ambulant tätigen Fachärzte ausgegeben, aber 51,53 Prozent für andere „Aufgaben"!

5.    Viele Möglichkeiten einer sinnvollen Ressourcen-Nutzung und rationellen Arbeitsweise im Gesundheitswesen zum Vorteil für die Patienten fehlen oder werden nicht genutzt, z. B. Status- und Kompetenzerhöhung des Hausarztes, Verzahnung ambulanter mit stationärer Betreuung, Polikliniken oder Ärztehäuser an allen Krankenhäusern und in städtischen Ballungsbebieten, Positivliste der Arzneimittel u. a. (struktureller Faktor).

6. Für Patienten unbegreifbar, aber leider alltägliche Realität: wir Arzte und Schwestern - ambulant wie im Krankenhaus - werden aus reinen Abrechnungsgründen (nicht wegen der Befund-Dokumentationen) mit Bürokratie überschwemmt, ca. 1/3 unserer wöchentlichen Arbeitszeit von 58 Stunden geht dafür verloren! (bürokratischer Faktor). Der Vorsitzende des Marburger Bundes (der einzigen Ärzte-Gewerkschaft), Dr. Montgomery, kommentierte auf dem Außerordentlichen Deutschen Ärztetag 2003: „Wir haben eine Überversorgung mit Bürokratie, eine Unterversorgung mit Medizin; wir sind doch Gesundheitswesen und keine papierverarbeitende Industrie!(4)

7. Fehlende Orientierungen und keine langfristige Planungen zum Bedarf (Gesamtzahl und Fachproportionen) an Ärzten und Schwestern in Krankenhäusern, Niederlassungen, Pflegebereich u. a. (personeller Faktor).

Zur Zeit erlebe ich als sechzigjähriger Haus- und Landarzt Dinge, die ich mir bis vor kurzem nicht hatte vorstellen können:

Als Privatperson werde ich per Gesetz gezwungen, für öffentlich-rechtliche Institutionen unentgeltlich Geld einzutreiben, ein auch im kapitalistischen Deutschland ein- und erstmaliger Vorgang. Keiner kommt auf die Idee, die LKW-Maut durch Ortspfarrer einnehmen zu lassen. Die Krönung des Ganzen besteht darin, dass man ausgerechnet Arzte in diesen direkten Kassierer-Status bringt, denn jede direkte Geldbeziehung Arzt-Patient ist vertrauens(zer)störend, Ethik und Monetik passen nicht zusammen.

Ich habe bei der 10-Euro-Kassierung zwei systemüberschreitende Erinnerungen: als ich vor Jahren die Errichtung des Karl-Marx-Hospitals in Nikaraguas Hauptstadt Managua mit dem damaligen Gesundheitsminister dieses Landes vorbereitete, traf ich mich mit ihm in seiner Praxis. Der erste Eindruck war schrecklich, die Empfangsschwester ließ alle Mütter mit kranken Kindern, welche - nach US-amerikanischem Vorbild - keine 10 US$ „Kaution" zahlen konnten, gar nicht erst zum Doktor vor. Das Karl-Marx-Krankenhaus, welches aus Solidaritätsmitteln der DDR-Bevölkerung finanziert und betrieben wurde, nahm selbstverständlich damals kein Eintrittsgeld, es existiert übrigens als „deutsches" Krankenhaus weiter und wird vom Entwicklungshilfe-Ministerium weiter unterstützt.

Die nächste makabere 10-DM-Aktion erlebte ich als Gastarzt 1990 im Wenckebach-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Ein Obdachloser wurde nach angeblich zu langer Krankenhaus-Verweildauer an den Ärzten der Inneren Klinik vorbei durch einen Verwaltungsbeamten in ein Taxi gesetzt und - mit 10 DM ausgestattet - „nach Hause" gefahren.

Jetzt halte ich die Hand auf, um 10 Euro entgegenzunehmen, selbst bei sterbenden Patienten, wie es mir beim ersten Notdienst im Januar 2004 passierte. Mir ist es sogar verboten, darauf zu verzichten.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Hoppe, kommentierte diesen Skandal auf dem Außerordentlichen Deutschen Ärztetag: „Die größte Gefahr sehe ich in dem Kulturbruch einer bisher der Humanität verpflichteten Patientenversorgung durch ein immer weiter um sich greifendes Kosten-Nutzen-Denken. Wenn sich dieser Ökonomismus mit Grenznutzenrechnung in der Versorgung kranker Menschen breit macht, dann sind wir auf ethischer Talfahrt."(5)

Mich als Haus- und Landarzt belasten aus eigenem Erleben noch folgende weitere veränderbare Situationen, die sich ebenfalls äußerst negativ für die Patienten auswirken, jedoch keine Erwähnung in den vielen Reform-Gesetzen der letzten Jahre finden:

Der Ärztemangel ist bundesweit durch steigende Zahlen von Studienversagern, durch zunehmende Abwanderung ins Ausland und durch Aufnahme von berufsfremden Tätigkeiten sowie speziell im Osten Deutschlands durch Unterbezahlung bedingt. Nach einer Studie der Bundesärztekammer ist die Mark Brandenburg schon heute das Land mit der geringsten Ärztedichte. Während etwa in der Hansestadt Hamburg 528 Arzte auf 100 000 Einwohner kommen, sind es im Land Brandenburg gerade mal 285. Der bundesdeutsche Schnitt liegt bei 361 Medizinern. Landesweit sind derzeit 147 Hausarztpraxen nicht besetzt. Außer in der Landeshauptstadt Potsdam und in Cottbus besteht Hausärzte-Mangel. Zusätzlich fehlen landesweit 60 Experten, wie Nerven- und Augenärzte sowie Orthopäden. Insgesamt arbeiten im Land Brandenburg etwa 1 600 Haus- und 1 600 Fachärzte. 27 Prozent von ihnen sind 60 Jahre und älter. In den kommenden vier Jahren wird etwa ein Drittel in Pension gehen.

In vielen Teilen des Landes ist es keine Seltenheit, dass bereits heute Patienten 20 Kilometer und mehr bis zum nächsten Arzt fahren müssen, in der Uckermark sind es sogar 60 Kilometer.

Jeder Hausarzt (aber auch alle niedergelassenen Fachärzte mit anderen Zahlen) haben ständig 5 Limitierungen zu beachten, überschreiten sie die, hat das finanzielle Konsequenzen für die Arzte:

-   Arzneimittel (pro Mitglied der Krankenkasse 36,65 Euro im Vierteljahr)

-   Massagen u. a. Physiotherapie (pro Mitglied 4,31 Euro pro Vierteljahr)

-   Laboruntersuchungen (pro Mitglied 2,27 Euro pro Vierteljahr)

-   Zahl der Patienten pro Quartal (zzt. 1 200)

-   Ärztliche Leistungen am Patienten im Quartal werden über so genannte Punkt-Zahlen gemessen. (Zur Zeit werden nur ca. 80 Prozent den Hausärzten vergütet, der Rest ist „über Plan" und wird umsonst erbracht).

Die Ärzte sind zunehmend Schikanen ausgesetzt: Neben der 10-Euro-Eintreibung sind dies die Regresse bei Budget- und Richtgroßen-Überschreitungen, flächendeckende staatsanwaltliche Ermittlungen wegen angeblicher Betrügereien, Honorarreduzierungen durch „0-Runden" per Gesetz und Aufrechterhaltung der Minderhonorierung Ost 14 Jahre nach der Einheit, schließlich die Verleumdungen durch Regierungspolitiker, einige führende Kassenfunktionäre und gelenkte Medienleute. Die CDU-Vorsitzende Merkel fasste diese Situation auf dem letzten Ostdeutschen Kassenärztetag wie folgt zusammen: „Sie werden behandelt wie die letzten Idioten der Nation."(6)

Ja, wir Ärzte selbst müssen rigoroser unser per se gegebenes Definitionsmonopol für das, was medizinisch verantwortbar und machbar ist, deutlich machen. Wir müssen es gegen jegliche Anmaßungen von Politikern, Verwaltungsfunktionären und Betriebswirten der Kassen sowie Marketingverantwortlichen der Industrie verteidigen. Nur wir Arzte können eine gute Patientenversorgung sichern, die diagnostischen und therapeutischen Prozesse optimieren und den medizinischen Fortschritt praktizieren.

Wenn ich die vergangenen 20 Jahre aktiver beruflicher Tätigkeit als Arzt bewerte und vergleiche, dann erscheinen mir viele Aspekte des Gesundheitswesens der DDR bewahrenswert für die Zukunft, fünf mochte ich unbedingt hervorheben, da sie bereits aktuell für eine Renaissance anstehen:

1. Die Krankenversicherungen stellen gegenwärtig ein parasitäres System dar, mit zu vielen Kassen und zu vielen Mitarbeitern, mit großen Verwaltungspalästen, mit völlig überzogenen Managergehältern. Zzt. existieren über 400 gesetzliche und private Krankenkassen; was das mit Wettbewerb zu tun haben soll, versteht nicht mal mehr der ehemalige Gesundheitsminister Seehofer, obwohl er selbst hohen Anteil an dieser Misere hat.

Die Zahl der Mitarbeiter ist ständig gestiegen, gegenwärtig gibt es bundesweit genauso viele Kassen-Mitarbeiter wie Arzte, z. B. gibt es im Land Brandenburg 3 200 Hausund Fachärzte, aber allein die AOK hat 2 400 Mitarbeiter.

Die aktuellen Veröffentlichungen der Chef- und Vorstandsgehälter lassen selbst den Bundeskanzler neidisch werden. Spitzenreiter ist der DAK-Chef mit 220 000 Euro Jahresgehalt. Dabei haben diese Damen und Herren nur treuhänderisch Pflichtbeiträge zu verwalten.

Im Vergleich dazu herrschten in der DDR nahezu paradiesische Verhältnisse:

Es gab 2 (!) Sozialversicherungen, die der Arbeiter und Angestellten (beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund) und die für die Gewerbetreibenden, Handwerker, Freiberufler, Bauern u. a. Selbstständigen (in der Staatlichen Versicherung). Diese Versicherungen waren sowohl für die Krankenversicherung als auch zugleich für die Rentenversicherung und Unfallversicherung (sowie in den Anfangsjahren auch für die Arbeitslosenversicherung) zuständig. Die Pflichtbeiträge waren über Jahrzehnte stabil!

Die größere der beiden Versicherungen, die „SV der Arbeiter und Angestellten" hatte weniger als 1700(!) Mitarbeiter auf dem Territorium der NBL und Ost-Berlins und war - wie bereits erwähnt - auch für die Renten und Unfälle zuständig.

2.  Das Hausarzt-System gehört zu den „Markenzeichen" des DDR-Gesundheitswesens. Die Hausärzte waren Fachärzte für Allgemeinmedizin oder Innere Medizin und waren als Niedergelassene oder vor allem als angestellte Arzte in staatlichen Einzelpraxen, in Stadt- und Landambulatorien (Praxisgemeinschaften) oder Polikliniken an Krankenhäusern bzw. in städtischen oder betrieblichen Ballungsgebieten tätig. Seit 1961 gab es die dreijährige Facharzt-Spezialisierung Praktischer Arzt, und seit 1965 die fünfjährige Spezialisierung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Durch Orientierung der Medizin-Absolventen und Zurverfügung-Stellung von ausreichenden Spezialisierungs-Verträgen Allgemeinmedizin (alle Arzte konnten und sollten eine fünfjähriges Facharzt-Spezialisierung erhalten) waren 1988 fast die Hälfte aller Ärzte Hausärzte, ein nahezu idealer Zustand, der vergleichsweise nur in skandinavischen Ländern erreicht wurde.

Hervorzuheben ist, dass als alte deutsche Tradition die freie Arztwahl garantiert war, dies im Unterschied zu Primararzt-Modellen anderer Länder.

Der geschäftsführende Arzt der Ärztekammer Hamburg, Klaus-H. Damm, formulierte: „In der alten Bundesrepublik hat es nie eine ausreichende Weiterbildungskapazität für Allgemeinmediziner gegeben. In Ostdeutschland war das früher ein blühendes System mit ausgezeichneter Weiterbildung - man kann es so sagen: Wir haben es versäumt, hier von der DDR zu lernen!"(7)

Bedingt durch den akut zunehmenden Hausarztmangel und durch Druck seitens der EU seit 1995, endlich in Deutschland auch für alle praktisch tätigen Arzte eine Facharztweiterbildung umzusetzen, entschloss sich der Deutsche Ärztetag in Rostock im Jahr 2002, dem historischen Beispiel zu folgen und eine fünfjährige Hausarzt-Spezialisierung einzuführen.

Entscheidend wird zukünftig sein, ob überhaupt genug Absolventen von den Universitäten kommen, zweitens ob überhaupt bei ständig zunehmender Reduktion von Klinikkapazitäten auch in der Inneren Medizin genügend Weiterbildungskapazität für Internisten und Hausärzte vorhanden bleibt. Drittens, ob der integrative Aspekt Allgemeinmedizin verbindlich und einheitlich in den speziellen Ausformulierungen der Musterweiterbildungsordnungen der Bundesärztekammer und denen der Landesärztekammern umgesetzt werden.

3.  Aktuell ist in Deutschland die Diskussion um Polikliniken hoffähig geworden. Die Bundesgesundheitsministerin spricht von einer „Ost-Errungenschaft".

Es war ein großer Fehler, die Polikliniken der DDR zu schließen, denn sie sicherten für die Patienten eine integrative Versorgung und waren eine Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Betreuung. Dies erfolgte aus ideologischer Verblendung und mangelnder Geschichtskenntnis (die Alt-Bundesdeutschen hielten sie für eine sowjetische Erfindung) und aus berechtigter Konkurrenz-Angst der Niedergelassenen.

Die erste Poliklinik war 1809 von Hufeland an der Charite gegründet worden. Später wurden in der Weimarer Republik nach Streiks von niedergelassenen Ärzten von der AOK Polikliniken gebildet. In Berlin lernten russische Arzte die Poliklinik „Haus der Gesundheit" am Alexanderplatz kennen und führten sie danach in der UdSSR ein. Auf diesem Umweg kam 1945 ein sehr leistungsfähiges Betreuungssystem deutscher Herkunft nach Deutschland zurück.

Nunmehr gab es im Wesentlichen drei Gründe, dass ab Januar 2004 gemäß § 9 des Sozialgesetzbuches V „Gesundheitszentren", „Medizinische Versorgungszentren", „Ärztehäuser" und „Polikliniken" besonders gefördert werden sollen:

Der zunehmende Ärztemangel, die steigenden Kosten und die zunehmende Privatisierung der Krankenhäuser machen diese Institutionen wieder „attraktiv", für die Patienten sowieso, für die Krankenkassen wegen des rationellen Einsatzes von personellen und materiellen Ressourcen, für die privaten Krankenhaus-Konzerne (Sanitas-, Helios-, Asklepios-, Rhön-, Marseille-Kliniken u. a.) als sinnvolle Komponente zur Kapital-Verwertungs-Optimierung.

Besser wäre natürlich, wenn Ärzte als Genossenschaftler derartige Polikliniken betreiben, dafür fehlt jedoch bei ihnen im allgemeinen der strategische Blick und natürlich der Kapital-Grundstock. Deshalb werden recht schnell die o. g. Krankenhaus-Aktiengesellschaften oder gleich die Banken und Versicherungen das „Geschäft" übernehmen.

4.  Unter Versicherten und Patienten ist der Terminus Disease-Management-Programm (DMP) Diabetes und Mamma-Ca bereits geläufig. Dabei ist es medizinisch-organisatorisch für die Neu-Bundesbürger, die bereits in der DDR lebten, als Dispensaire-Betreuung ein bekannter „alter Hut". DMP ist US-amerikanisch und von privaten Krankenkassen zur effektiven medizinischen und kostengünstigen Betreuung chronisch Kranker installiert worden. Dispensaire begann in Frankreich bei der Betreuung Geschlechts- und Tuberkulose-Kranker und wurde von sowjetischen Gesundheitspolitikern zum universellen Betreuungssystem chronisch Kranker ausgebaut.

Die DDR perfektionierte dieses System und schuf neben der ambulanten medizinischen Grundbetreuung dieses Betreuungssystem für Geschlechtskranke, Lungenkranke, Diabetiker u. a. Stoffwechsel-, Geschwulst- bzw. Herz-Kreislauf-Kranke, psychisch Kranke, Rheumakranke, aber auch für Patienten mit Glaukom (grüner Star) oder mit Berufskrankheiten. Dafür wurden Bezirks- und oft auch Kreisstellen gebildet, in denen entsprechende Fachärzte ergänzend zur Grundbetreuung zusätzliche spezielle Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation anwandten und epidemiologische Daten wissenschaftlicher Auswertung zuführten. Details wären nachzulesen.(8)

Das „aufblühende" DMP-System ist finanziell verlockend für Patienten (ihnen wird die 10 Euro Eintrittsgebühr beim Praxisbesuch erlassen), für Ärzte (ihnen wird das Ausfüllen umfangreicher Patientendokumentationen bescheiden honoriert) und für die Krankenkassen (ihnen wird als Risikostruktur-Ausgleich ein beträchtlicher Betrag von anderen Krankenkassen übergeben).

5. Abschließend möchte ich aus eigenem Erleben als Student, Assistent in Facharztspezialisierung, Doktorand, Habilitand und als Hochschullehrer das beispielhafte System der medizinischen Aus- Weiter- und Fortbildung in der DDR hervorheben. Auch auf diesem Gebiet war ein Standard erreicht, von dem die Bundesrepublik z. T. heute noch weit entfernt ist.

Bereits 1963 war ich - nach einem Auslandsstudium bis zum Physikum - Student im klinischen Studienjahr der Charite, welches eine sehr praxisnahe 1. Reform des Medizinstudiums mit Praktika am Krankenbett vollzog (neben den Famulaturen in den Semesterferien), mit Interdisziplinären Komplexen (IDK) zu häufigen Krankheitsgruppen, mit Wissenschaftlich-Produktivem Studium (WPS) zur Vorbereitung von ersten Publikationen und der Dissertation, mit Praktischem Jahr (PJ) im ganzen 6. Studienjahr in Innerer Medizin, Chirurgie, Gynäkologie/Geburtshilfe sowie Pädiatrie. Daran schlössen sich unmittelbar Staatsexamina in diesen Fachgebieten an. Sowohl Hochschullehrer, wissenschaftliche Assistenten als auch wir Studenten waren begeistert. Gegenwärtig gibt es derartige Probe (Modell)-Reformen mit 40 Jahren Zeitverlust erst in Berlin, Hannover und Heidelberg.(9)

Allen Universitätsabsolventen der Human- und Zahnmedizin wurde die Facharzt-Weiterbildung ermöglicht. Sie war in allen Fachrichtungen auf 5 Jahre ausgelegt. Hervorzuheben ist, dass in den achtziger Jahren eine der Facharzt-Weiterbildung analoge Spezialisierung auch für alle im Gesundheitswesen der DDR tätigen Naturwissenschaftler und Diplom-Ingenieure eingeführt wurde. Dieses „postgraduale Studium" dauerte ebenfalls 5 Jahre und schloss beispielsweise in der Arbeitsmedizin mit der Anerkennung als „Fachphysiker oder Fachpsychologe der Medizin - Arbeitshygiene" ab. Dieser Bildungsweg ist bis heute einmalig in der Welt.

Die Fortbildung der Ärzte u. a. Gesundheitswissenschaftler war in der DDR ausschließlich staatlich, kommerzielle Interessen der Arzneimittel- und Medizintechnik-Hersteller waren zu vernachlässigen. Es gab für die Weiter- und Fortbildung einen eigenen Lehrkörper, vergleichbar dem der Universitäten für die studentische Ausbildung, die berufenen Dozenten und Professoren waren in der Mehrzahl habilitierte Chefärzte an großen außeruniversitären Krankenhäusern und Instituten. Als Institutionen der Weiter- und Fortbildung fungierten die Akademie für ärztliche Fortbildung in Berlin mit Promotions- und Habilitations-Befugnis, die bezirklichen Fortbildungszentren (große Kliniken), die Bezirksakademien für Gesundheits- und Sozialwesen sowie einzelne dafür ernannte Fortbildungskliniken und -Institute. Lehrbefähigungen (Facultas docendi) für diesen hochwertigen Bildungsprozess erhielten Habilitierte mit einer hochschulpädagogischen Zusatzqualifikation.(10)

Auf diesem Gebiet besteht in der Bundesrepublik ausgesprochene Stagnation, weder vom Ausland noch aus der DDR-Vergangenheit wurden progressive Tendenzen übernommen. Aus meiner Sicht müsste es in der Weiter- und Fortbildungsmedizin unbedingt zu einer Statuserhöhung und besseren Strukturierung, auch Institutionalisierung kommen. Gegenwärtig organisieren ehrenamtliche Leiter mit Ärzten, die sich berufen „fühlen", und mit einem Computer und einer Sekretärin in Mini-Akademien diesen Prozess im Auftrag der jeweiligen Landesärztekammer.

Wenn ich 20 Jahre Berufsleben Revue passieren lasse mit dem Erleben von alternativen Gesundheitssystemen, dann kommen mir abschließend zwei grundsätzliche Gedanken:

1.     Wenn soviel Positives und Bewahrenswertes über das Gesundheitswesen der DDR festzustellen ist, warum ist es dann zusammengebrochen? Meine Antwort: Das Gesundheitswesen ist als Teil der DDR mit liquidiert worden, die DDR ist jedoch sicher nicht an ihrem Gesundheitswesen zu Grunde gegangen.

2.     Von Bertolt Brecht stammt der Satz: „Wenn wir Menschlichkeit wollen, müssen wir menschliche Verhältnisse schaffen."

Das Gesundheitswesen der DDR war - mit allen Fehlern und Schwächen, welche nicht Thema dieses Beitrages sind - insgesamt humaner, aber auch rationeller und sozial gerechter sowie wesentlich weniger bürokratisch als das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Geld spielte zwischen Arzt und Patient keine Rolle.

 

1 In: The struggle for worker's health:  A study of six mdustrialized countries, Baywood Publishing Company Inc. , Firmingdale, New York, 1986.

2 Bundespräsidialamt AZ 1/3-26062761/90

3 Veröff. Med. und Ges Hefte 2 (1995), 10 (1997), 36 (2002), 42/43 (2002).

   4 Deutsches Ärzteblatt Jg.  100, H 19, S. A 1380

5 Deutsches Ärzteblatt, Jg.  100, H. 19, S. A 1379

6 Deutsches Ärzteblatt Jg. 99, Heft 22, S. A 1481

7  Der Kassenarzt 38/39, 2002, S  19

8 Veröff. Med. und Ges. 2002; 8: 1-93 Heft 41.

9 Veröff. Med. und Ges. 2001; 7: Heft 34.

10 Veröff. Med. und Ges. 2003, 9, Doppelheft 44/45 und 2004; 10: Heft 48


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