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Bernd Preußer

Ein Hochhaus und seine Bewohner

 Ein Gespenst geht um in der Bundesrepublik Deutschland - das Gespenst der "Ostalgie". Medien bringen "DDR-Shows" nach dem Motto "Es war doch nicht alles schlecht!" und zeigen "DDR-Wirklichkeit" in der Art völkerkundlicher Informationen über einen bisher noch unentdeckten Stamm irgendwo in der Ferne. Und Kritiker weisen daraufhin: "Ihr vergesst die Stasi und die Toten an der Mauer!" Dabei zeigt sich eigentlich nur, dass viele Menschen auch nach 13 Jahren noch völlig aneinander vorbeireden. Der Satz "In der DDR war doch nicht alles schlecht!" ist sachlich gewiss richtig, aber ihn in einem solchen Zusammenhang auszusprechen, halte ich - ich bitte um Entschuldigung - für Schwachsinn. In der DDR lebten je nach Zeitpunkt zwischen 15 und 18 Millionen Menschen, der weitaus größte Teil lebte ganz normal wie viele Menschen in vielen Ländern der Welt, ich meine: sie wohnten, arbeiteten, liebten, feierten, erholten sich, freuten sich, trauerten - unter den jeweiligen Bedingungen, mit Problemen, über die man sich manchmal aufregte, vielleicht manchmal sogar verzweifelte, aber die allermeisten lebten relativ zufrieden, es gab - man traut es sich heute fast nicht mehr auszusprechen - auch Menschen, die wirklich glücklich waren. Und - wieder möchte man es fast nicht aufschreiben - viele Menschen empfanden die DDR als Heimatland, ohne sich allzu tiefe Gedanken um den philosophischen und politischen Inhalt dieses Begriffes zu machen. So etwas gibt es in allen gesellschaftlichen Verhältnissen, und es ist das normalste der Welt, dass "nicht alles schlecht" ist dort, wo Menschen zusammenleben, wo sie eine Heimat haben. Dass das eine ganze Menge DDR-Bürger aus heutiger Sicht anders sehen, ändert nichts an dem damaligen Sachverhalt. Der Satz ist insofern eigentlich inhaltsleer, seine politische Bedeutung liegt darin, dass man es für nötig hält, ihn auszusprechen. Und Stasi und die Toten an der Mauer (auch als Synonym für manches andere in der DDR verstanden) dürfen wirklich niemals vergessen werden, aber wenn ich beispielsweise über mein Studium, meinen Beruf, meine Ehe und meine Kinder rede, muss ich mich doch nicht nach jedem Satz für jene schlimmen Dinge entschuldigen, die es ohne Zweifel in der DDR gab. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat gesagt: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." In die (umfangreiche) philosophische Fachdiskussion mische ich mich nicht ein, für mein (praktisch gelebtes) Leben akzeptiere ich diesen Satz nicht. Wo es Leben, Liebe, Freundschaft, Freude und Glück gibt, wo Heimat ist, da gibt es auch "richtiges Leben", und da sind "Spuren in die Zukunft", und mir geht es hier um das Zusammenleben der Menschen, speziell ums Wohnen und das Zusammenleben der Menschen im Haus und in dessen Umfeld. Nein, so wäre es eine Anmaßung - ich kann nicht über "das" Zusammenleben "der" Menschen schreiben, die Menschen sind Individuen und leben unterschiedlich (auch in der DDR war das so, falls das extra gesagt werden muss). Es geht also um das Leben, das ich erlebt habe und das sich konkret gebunden an eine Straße in Berlin, die Leipziger Straße, abspielte, an deren Südseite (damals unmittelbar an der Mauer, in der Nähe des Springer-Hochhauses) acht Hochhäuser (jeweils 4 Doppelhochhäuser) stehen, in einem davon habe ich gewohnt. 

Die Leipziger Straße 48 ist also eines dieser Hochhäuser (für Berlin-Kenner: das erste der "alten" Hochhäuser am Spittelmarkt) mit 22 Etagen, die Wohnung war für meine Familie schlicht ein Traum - etwa 100 m2, ein großes Wohnzimmer von 28 m2, 2 Balkons, Einbauküche, Einbauschränke im Flur, nach dem DDR-Standard eine Vollkomfortwohnung. Dementsprechend war auch die Miete - mit 297,95 M war sie (für DDR-Verhältnisse) sehr hoch, und ich war durchaus kein Spitzenverdiener, aber es war noch erschwinglich (In den Häusern der Leipziger Straße galten damals tatsächlich Sondermieten, das wurde 1981 aufgehoben, die Miete sank dann auf 199,60 M.). 

Auch in Berlin (ich meine hier natürlich immer "Berlin - Hauptstadt der DDR") sprach man öfter von den "besonderen Wohnungen" in der Leipziger Straße - die eine Seite war die "Diplomatenseite", die andere (die mit den Hochhäusern) die "Prominentenseite". Beides stimmt insofern, als es natürlich sowohl die Diplomaten als auch die Prominenten gab, aber daneben auch jede Menge ganz "normaler" Bürger. In "meinem" Haus wohnte unter anderem ein stellvertretender Minister, ein Theaterintendant, eine bekannte Schriftstellerin, ein DEFA-Regisseur - aber von den 156 Wohnungen bleiben da noch allerhand übrig. Mein Wohnungsnachbar war beispielsweise Klempner und Installateur, es gab jede Menge Angestellte der verschiedensten staatlichen Institutionen (Ministerien, Zoll, Magistrat - ja, auch Ministerium für Staatssicherheit), überwiegend mehr von der "unteren" Ebene Natürlich war es auch für uns ein kleines Abenteuer - wir kamen aus Leipzig und hatten dort in einem kleinen privaten Mietshaus gewohnt, in dem wirklich jeder jeden kannte Und nun m einem Haus mit ca. 450 Bewohnern - ich habe lange Zeit in Orten gelebt, die wesentlich weniger Einwohner hatten 

Unser Wohngebiet - 8 Hochhäuser 

Die erste Konsequenz aus dieser Situation hieß "Hausgemeinschaft" und "Hausgemeinschaftsleitung" (HGL) Die Begriffe kannte ich natürlich, aber ich hatte noch nicht praktisch damit zu tun gehabt Es dauerte nicht lange, da bekam ich eine Einladung, an der Gründung einer solchen Hausgemeinschaft und der Vorbereitung der Wahl einer HGL mitzuwirken Sicher hat die Tatsache, dass ich Mitglied der SED war, dabei eine Rolle gespielt, wie überhaupt die Wahl der HGL natürlich von der SED initiiert war Die Sache selbst war aber sehr pragmatisch Wir hatten im Haus und in der Umgebung jede Menge Probleme Unser Haus hatte eine wichtige Besonderheit Es war das Gründungsobjekt der "FDJ Initiative Berlin" Der Sinn dieser Initiative bestand darin, dass die Baukombinate der DDR Bezirke beim Aufbau Berlins maßgeblich mitwirken sollten, und so wurde das Doppelhochhaus Leipziger Straße 48/49 von den Baukombinaten aller 15 Bezirke gemeinsam gebaut - eine Sache mit vielleicht schöner Symbolkraft, aber unangenehmen praktischen Konsequenzen - natürlich kam zu den "normalen" Problemen einer DDR-Baustelle (beispielsweise Materialfluss) noch das Problem der sehr mangelhaften Koordinierung (später übernahmen die Kombinate vernünftigerweise eigene Verantwortungsbereiche für Neubauten - in Marzahn und Hellersdorf kann man noch heute teilweise an den Straßennamen erkennen, wel eher Bezirk dort gebaut hat) Also, kurz gesagt, es gab selbst für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich viele und große Baumangel (nach dem ersten schweren Gewitter standen Wohnungen in den oberen Etagen unter Wasser) Und der Hauptzweck der HGL Gründung war es, eine legitimierte Vertretung für die notwendigen Verhandlungen mit dem Vermieter (die Kommunale Wohnungsverwaltung, KWV) und den Baubetrieben zu haben Entsprechend sah die Tagesordnung der Gründungsversammlung aus 

1. Gründung der HGL

 2. Information durch die Vertreter der KWV über spezifische, das Haus betreffende Fragen 

3. Information über das weitere Baugeschehen in der Leipziger Straße 

 Hausgemeinschaft und Hausgemeinschaftsleitung (HGL) waren in der DDR gängige Begriffe, deren semantische Bedeutung, um es in der "modernen" Sprache auszudrücken, nicht weiter "hinterfragt" wurde Aus heutiger Sicht sind die Begriffe natürlich nicht korrekt Es gab keine wirkliche Hausgemeinschaft. Die Zusammensetzung der Mieter eines Hauses, erst recht eines solchen Hochhauses, ist natürlich weitgehend zufällig, die Interessen der Mieter gehen im einzelnen weit auseinander, von einer "Gemeinschaft" kann eigentlich keine Rede sein Auch war die HGL keine echte "Leitung", sie hatte selbstverständlich keinerlei administrative Befugnisse und konnte natürlich auch niemanden zu irgendetwas "zwingen" Aber es gab eben, wie dargestellt, bestimmte Probleme, die es vernünftig erscheinen ließen, wenn man sich zu ihrer Lösung "verbündete" Insofern ist durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass bei der Gründung von HGL, jedenfalls in unserem Falle, die Probleme der DDR - oft, aber nicht völlig zutreffend, in dem Begriff "Mangelwirtschaft" zusammengefasst - eine wichtige Rolle gespielt haben Allerdings kann man das meiner Ansicht nach nicht so einfach im Raum stehen lassen - wie noch zu berichten sein wird, ging es bei der "Hausgemeinschaft" um sehr viel mehr, und schließlich ist auch unter den heutigen veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen der Zusammenschluss von Bürgern in territorialen Interessengemeinschaften zur Losung bestimmter Aufgaben oder in bestimmten Problem-Situationen (im Moment etwa beim "Stadtumbau Ost") nichts Ungewöhnliches 

Wir haben also am 14 12 1977 in einer Versammlung mit allen interessierten Hausbewohnern eine HGL gewählt Wir hatten uns auf das Prinzip geeinigt, dass möglichst jede der 20 Etagen mit einem Mitglied in der HGL vertreten ist ("Etagenbeauftragter"), darüber hinaus übernahmen einige interessierte Burger "Querschnittsaufgaben" wie Sport, Kultur, Ordnung und Sicherheit, Volkswirtschaftliche Masseninitiative (VMI - freiwillige Arbeitsleistungen zur Werterhaltung und Kleinreparaturen im Haus, für die es Geld vom Vermieter gab) und Finanzen Und natürlich gab es einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter Ich wurde zum Stellvertreter gewählt, diese Funktion habe ich bis 1983 ausgeübt (und tatsächlich oft den Vorsitzenden vertreten), 1983 wurde ich zum Vorsitzenden gewählt, das war ich bis zur Auflösung der HGL 1990 Übrigens war ein Mitglied der HGL - der Verantwortliche für Ordnung und Sicherheit - ein bekannter Regisseur der DEFA, Janos Veiczi "Bekannt" ist vielleicht nicht ganz richtig, obwohl er Nationalpreisträger war - Regisseure von Filmen waren und sind auch heute relativ wenig bekannt, aber er hat einen der größten DEFA-Knüller geschaffen - "For eyes only" aus dem Jahr 1963, der erste Film über einen Kundschafter des Ministeriums für Staatssicherheit. Hauptdarsteller Alfred Müller wurde damit schlagartig bekannt, den Film kann man auch heute noch auf Video kaufen Übrigens war es auch für DDR Verhältnisse ungewöhnlich, dass ein Künstler und Nationalpreisträger an der Wohnungstür des HGL-Vorsitzenden klingelte mit dem Vorschlag, sich um Ordnung und Sicherheit im Haus zu kümmern Und er hat es bis zu seinem leider recht frühen Tod erfolgreich gemacht. 

Hausgemeinschaften und HGL waren in der DDR offiziell erwünscht Möglicher weise hat dabei das bekanntlich übersteigerte Sicherheitsbedürfnis der DDR eine Rolle gespielt, vielleicht glaubte man dadurch eine gewisse Kontrolle über die Bürger zu haben Nach meiner Überzeugung, insbesondere nach heutiger Kenntnis des Überwachungsapparates der DDR, durften hier wohl kaum zusätzliche Informationen gekommen sein Ich habe wahrend meiner Arbeit als HGL-Vorsitzender zweimal Besuch von Menschen gehabt, die sich nach Hausbewohnern erkundigt haben und hinter denen möglicherweise das Ministerium für Staatssicherheit stand - in dem einen Fall kannte ich den Gewünschten gar nicht, im anderen Fall konnte ich bestätigen, dass es sich um einen ganz normalen Burger "wie du und ich" handelt Ich weiß nicht, wie das an anderen Stellen war - für uns spielte das jedenfalls keine Rolle. 

Es bleibt aber festzuhalten, dass es durchaus bei vielen Bürgern ein Interesse an gemeinschaftlichem Handeln gab In unserem Haus war es beispielsweise so, dass laut Mietvertrag die gesamte Hausreinigung in Verantwortung der Vermieterin, also der Kommunalen Wohnungsverwaltung, lag Das klappte schlecht. Zeitweise gab es - warum auch immer - keine Firma, die diese Arbeiten übernahm, und wenn es eine gab, dann waren ihre Ergebnisse kaum zu spüren Wir haben vorgeschlagen, den "auffälligsten" Teil dieser Hausreinigung, nämlich die Reinigung der Etagenflure, an die Mieter zu übergeben und sie dafür entsprechend zu bezahlen (selbstverständlich nur mit den Mietern, die einverstanden waren - es konnte und sollte ja niemand gezwungen werden. Aber es waren wirklich fast alle.). Auf jeder Etage gab es 8 Mietparteien, wenn alle mitmachten, war man also alle 8 Wochen dran, der Arbeitsaufwand war nicht sehr erheblich (ich habe es oft genug gemacht), und es gab natürlich den Nebeneffekt, dass jeder darauf achtete, größere Verschmutzungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, denn irgendwann war er ja mal selbst mit ihrer Beseitigung dran. Es war jedenfalls nicht üblich, Papiertaschentücher einfach in den Flur zu werfen, und auch die nach dem Einkauf versehentlich runtergefallene Flasche Ketschup (die natürlich kaputt ging) blieb nicht einfach liegen. Wir haben mit der Sauberkeit der Flure wirklich keine Probleme gehabt. Das Geld wurde der HGL überwiesen, die es gleichmäßig auf die Etagen aufteilte (alle Flure waren gleich groß), die damit machen konnten, was sie wollten (also, worauf sich die beteiligten Mieter einigten). Einfachster Weg war natürlich die Aufteilung auf die beteiligten Mieter, die meisten Etagen haben aber mit dem Geld gemeinsam etwas unternommen. Je nachdem, wie die Beziehungen zwischen den Mietern waren, gab es gemeinsame Theaterbesuche, auch gemeinsame Zoospaziergänge und was es so alles gibt. Die häufigste Form war jedoch, das Geld gemeinsam zu "verfressen", wie man so sagt. 

 Die 19. Etage feiert 

Auf unserer Etage verlief das so: Ich (ich war auch der "Etagenbeauftragte") habe mit den Mietern den Termin für ein "Etagenfest" abgesprochen, und dann wusste eigentlich jeder, was er zu tun hat: Die Männer waren für die Getränke zuständig, die Frauen für das Essen nach dem Prinzip: Jede Familie bietet etwas an, was sie selbst gern isst. Natürlich wussten die Beteiligten, dass ein bisschen Absprache sein muss, damit das ein brauchbares Gesamtbild ergibt, es hat immer geklappt. Ein Kassettenrekorder fand sich auch. Und das ganze fand direkt im Flur statt - vor dem Fahrstuhlschacht war genügend Platz, die Tische und Stühle kamen aus den Wohnungen, Geschirr hatte jeder - es war unkompliziert und immer sehr lustig. Es gab stets ein paar, die etwas zum Besten zu geben hatten - Spiele, Lieder, Witze, Anekdoten und sonst was. Ich habe heute noch - ich wohne mittlerweile woanders - Verbindungen zu damaligen Mietern, alle erinnern sich gern an diese Feste, und für die Beziehungen zwischen den Mietern war das sehr gut. Es war (unabgesprochen) üblich, dass man dann zu Silvester um Mitternacht von Wohnung zu Wohnung zog und gratulierte (sofern man zu Hause feierte). Ich kann mich auch entsinnen, dass wir uns - ebenfalls unabgesprochen - anlässlich einer Mondfinsternis in einer Wohnung, von der sie gut zu sehen war, zu einer "Beinahe-Etagenfeier" wiederfanden. Und was war, wenn jemand nicht mitmachen wollte? Im Prinzip natürlich gar nichts. Allerdings gibt es nach meinen Erfahrungen nur wenige Menschen, die sich so einfach bewusst abseits stellen wollen, wenn andere arbeiten - oder feiern. Auf "meiner" Etage war das so: Wir hatten eine Familie, die (aus durchaus verständlichen Gründen, die ich aber hier nicht erörtern will) sich da etwas abseits stellte. An den Etagenfesten beteiligte sie sich offiziell nicht - was den Familienvater nicht daran hinderte, zu etwas vorgerückter Stunde mal vorbeizugucken. Er wurde natürlich eingeladen und blieb dann auch bis zum Ende. Es war kein Problem. 

Die Hausflure in den Hochhäusern waren übrigens kahle weiße Wände, deren einziges "Schmuckelement" eine schwarze Etagennummer gegenüber dem Fahrstuhl war. Die Wände blieben natürlich nicht weiß - wir hatten zwar kein ausgesprochenes "Graffitiproblem", aber weiße Wände verlocken irgendwie, und das Haus war ja im Prinzip offen zugänglich. Die Flure (auch der Hauseingang) hätten also mal gelegentlich eine Renovierung verdient. Dafür war aber kein Geld da (Das war aber offenbar nicht nur ein Problem der DDR!). Also übernahmen wir das selbst - dafür gab es Geld. Die Materialkosten wurden erstattet, und die Arbeitsleistung galt als "Volkswirtschaftliche Masseninitiative" (VMI) und wurde nach einem festen Katalog (nicht nach Stunden, sondern bei Malerarbeiten beispielsweise nach Quadratmetern) abgerechnet. Dafür "erkämpften" wir uns das Recht, innerhalb bestimmter, durchaus vernünftiger Grenzen die Farbgestaltung der Flure durch die Bewohner bestimmen zu lassen. Auch das hat, natürlich wieder auf der Basis der Freiwilligkeit, in den allermeisten Etagen gut geklappt. Die Arbeiten wurden auch durchaus sachkundig ausgeführt - in einem so großen Haus findet sich für fast alles ein sachkundiger Mensch. Ich möchte übrigens deutlich sagen, dass das mit der "Freiwilligkeit", jedenfalls bei uns (für andere kann ich nicht sprechen), ernst genommen wurde. Es gab keine Nachteile für jemanden, der sich an irgendwelchen "Aktionen" des Hauses nicht beteiligte. Im Gegenteil, es passierte gelegentlich, dass jemand von den Ergebnissen profitierte, an denen er gar nicht beteiligt war. Damit muss man leben, die Welt ist halt nicht vollkommen, ihre Bewohner waren und sind es auch nicht. 

Eine ähnliche Situation wie mit den Fluren hatten wir mit dem Grünflächen. Vor unserem und dem Nachbarhaus Leipziger Straße 49 gab es - ich habe die Unterlagen noch - 662 m2 Rasen, 903 m2 Gehölze und 569 m2 Wege, die vom Vermieter mehr schlecht als recht gepflegt wurden (Für Kenner von Berlin-Mitte - es handelt sich um die heutige Parkanlage um die Spittelkolonnaden, die Bäume waren damals nur in Andeutungen vorhanden.). Wir haben das per Vertrag übernommen. Konkret bedeutete das, dass wir zweimal im Jahr eine "Aktion" machten und die Flächen gründlich säuberten - Frühjahrsputz und Herbstputz.

Herbstputz 

 Das verlief so, das wir (die HGL der beiden Häuser) einen Termin festlegten und dann mal rumfragten, wie viel Leute denn eventuell kommen (wegen der Planung und der Arbeitsgeräte). Die Wohnungsverwaltung lieferte dann Geräte, einen Kleintransporter und meist 2 Fachleute zur Unterstützung, und dann ging es los. Wir haben anfangs, einer alten "sozialistischen" Tradition folgend, die Einsätze am Sonnabend vormittags gemacht - der Begriff "Subbotnik" ist ja sicher vielen noch bekannt. Aber das Echo war relativ bescheiden, viele Leute wollten den Sonnabend lieber zum Einkaufen (das war das, was man heute "Shoppen" nennt) nutzen oder wegfahren. Wir haben dann den Termin auf Donnerstag am späten Nachmittag verlegt, mit großem Erfolg. Es waren 50 bis 70 Teilnehmer, die da kamen und gearbeitet haben - viel mehr kann man eigentlich gar nicht brauchen, wenn man effektiv arbeiten will. Auch hier wirkte jener Effekt, den man etwas unfreundlich "Herdentrieb" nennt: Manch einer, der eigentlich gar nicht mitmachen wollte, sah beim Nachhausekommen von der Arbeit seine Mitbewohner eifrig schaffen und konnte doch nicht einfach grußlos vorbei gehen, und oft schloss sich dann an den Gruß an "Ich komme auch gleich!". In 2 bis 3 Stunden wurde da eine Menge geschafft. Und dann kam der zweite Teil: Zum Putzeinsatz gehörte immer der Bockwurststand mit Brötchen und Getränken, natürlich auch Bier - kostenlos, weil aus den vorangegangenen Einsätzen finanziert. Und da saßen wir dann noch ein Weilchen beisammen. Es gab auch manchmal Zugaben, im Haus 49 wohnte beispielsweise Klaus Gysi (der Vater von Gregor Gysi), Staatssekretär für Kirchenfragen. Er entschuldigte sich in der Regel bei diesen Einsätzen (wir hätten ihn auch eigentlich nicht erwartet, er war ja nicht mehr der jüngste!), kam aber dann am Ende mit einer Flasche Kognak und saß noch mit uns zusammen. Auch hier glaube ich, dass diejenigen, sie sich einigermaßen objektiv erinnern, auch heute noch gern an diese Abende denken. Natürlich war mit zwei Einsätzen im Jahr nicht gewährleistet, dass die Grünanlagen immer in Ordnung waren, aber der Zustand war wenigstens erträglich. Auch hier wirkte der Effekt, dass diejenigen, die diese Anlagen pflegten, auch außerhalb der Arbeitseinsätze "im Vorbeigehen" kurz eingriffen, wenn beispielsweise eine nicht mehr benötigte Zeitung neben dem Papierkorb statt darin landete. Wir konnten natürlich nicht jedem weggeworfenen Kassenbon der Kaufhalle hinterherlaufen, aber ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass es vernünftig aussah - dank dreier größerer Gaststätten und eines Kaufhauses sowie der Spittelkolonnaden unmittelbar an dieser Anlage gab es so etwas wie "öffentliche Kontrolle", und die Beschwerden waren gering. 

Übrigens waren die finanziellen Erlöse durchaus beträchtlich. In den Jahren 1988/ 1989 - wir haben im Zweijahresrhythmus Rechenschaft gelegt - betrugen die Einnahmen aus der Hausreinigung 29.363,76 M, aus der Volkswirtschaftlichen Masseninitiative 2.540,00 M und aus der Grünanlagenpflege 2.042,88 M. 

Wenn von "unserer" Hausgemeinschaft die Rede ist, so muss unbedingt über unsere Hausfeste gesprochen werden, die wir seit 1980 regelmäßig durchgeführt haben. Soweit ich mich entsinne, lagen die "Wurzeln" für das erste Fest am 29. August 1980 in zwei Dingen: Zum einen gab es bei vielen Mietern den Wunsch, die zwangsläufige Anonymität der Mieter eines Hochhauses (jedenfalls wenn es über die Grenzen der eigenen Etage hinausgeht) wenigstens etwas aufzubrechen, zum anderen hatten wir, wie gerade dargelegt, nicht unbeträchtliche Einnahmen, und es gab Vorschläge, damit doch auch etwas Gemeinsames anzufangen. Gespräche ergaben dann, das es für eine gemeinsame Feier beachtlich viele Interessenten gab. Also gingen ein paar aktive Leute die Sache an (dafür gab es den Kulturverantwortlichen in der HGL). Es war nicht so ganz einfach - das wichtigste Problem war ein geeigneter Raum. Wir rechneten so mit etwa 100 Teilnehmern - da hätten wir eine ganze Gaststätte mieten müssen, mit der entsprechenden Umsatzgarantie, das war unerschwinglich. Der im Wohngebiet für solche Zwecke vorgesehene Mehrzweckbau war (natürlich) nicht nur nicht fertig, sondern noch gar nicht begonnen. Und irgendwo in der Nähe des Hauses sollte es schon sein, weil wir vermuteten, dass die Teilnehmerzahl mit der Entfernung absinkt. Nun gab es in unseren Haus auch Mitarbeiter von Regierungsstellen, die uns darauf aufmerksam machten, dass die in der Nähe gelegene Gaststätte "Ahornblatt" (mit dem berühmten "hyperbolischen Paraboloid" als Dach - mittlerweile leider abgerissen) ein Betrieb der Regierung ist, und da gelang es uns, akzeptable Konditionen auszuhandeln. Allerdings ging das nur unter der Bedingung, dass wir ungefähr 300 Teilnehmer sind. Hier kam uns nun die sehr übersichtliche Struktur unseres Wohngebietes zugute - es waren 8 Hochhäuser mit funktionierenden HGL, und die HGL-Vorsitzenden kannten sich natürlich. Wir fanden genügend Partner in anderen Häusern, zumal wir ihnen sagen konnten, dass die Organisation von uns übernommen wird. Es wurde ein voller Erfolg - ein schöner Abend mit einer "richtigen" Band, die sich gut auf das doch recht gemischte Publikum einstellte, und ein paar Leute, die für einige vernünftige "Einlagen" sorgten, fanden sich in den Häusern auch. Natürlich gab es ein kaltes Büfett (Es war, wie ich heute noch weiß, zu reichlich - da fehlte es uns noch an Erfahrung, wir hatten am Ende Mühe, die Reste in angemessener Weise unterzubringen.). Die Tatsache, dass diesem Fest bis 1990 noch 5 weitere folgten, spricht dafür, dass es den Mietern wirklich gefallen hat. Übrigens hatten wir auch darauf geachtet, dass wir nicht über die Finanzen irgendeinen Druck auf die Mieter ausüben. Der Eintrittspreis wurde also so kalkuliert, dass über ihn die gesamten Kosten gedeckt wurden - es waren bei diesem ersten Fest 12 M pro Teilnehmer. Die einzelnen Häuser oder Etagen konnten dann selbst entscheiden, inwieweit sie aus ihren Finanzen einen Zuschuss geben oder die Kosten sogar ganz übernehmen. 

1981 folgte in gleicher Weise das nächste Fest, und ab 1982 stand uns dann das Mehrzweckgebäude zur Verfugung. Nach seinem Hauptverwendungszweck - es diente tagsüber der Schulspeisung für die beiden direkt daneben befindlichen Schulen -und seiner Form wurde es etwas respektlos "Fresswürfel" genannt (der Name stammte natürlich von den Schülern), aber es war ein für solche Veranstaltungen gut geeigneter Raum, wo man eben ein Fest mit etwa 100 Beteiligten feiern konnte - das erleichterte uns die Arbeit, weil das mit einem Haus zu schaffen war und die doch etwas aufwändige Koordinierung zwischen mehreren Häusern ersparte (heute ist in diesem Bau eine - noch? - vom Bezirk geförderte Jugendeinrichtung). Das war dann natürlich, entsprechend den räumlichen Bedingungen, auch der Übergang von der "Liveband" zur Disco. 1987 wollten wir dann mal etwas anderes machen und mieteten uns ein Schiff der "Weißen Flotte" zu einer Rundfahrt über die Berliner Seen am 3. Oktober (damals natürlich noch kein Feiertag, aber 1987 ein Sonntag) von 14:00 bis 20:00 Uhr mit Kaffee und Kuchen und Abendessen. Ich habe das noch gut in Erinnerung - wir mussten den Termin sehr zeitig vereinbaren, und dann ergab es sich, dass ich genau zum Zeitpunkt der Fahrt im Urlaub an der Ostsee war. Ich bin dann extra für diesen Tag nach Berlin zurückgekommen, das war mir diese Sache wert - aber damals waren auch die Fahrpreise bei der Bahn noch etwas anders als heute. 

Es gab natürlich auch eine sehr DDR-spezifische Arbeit der HGL, die sich mit der Bezeichnung "Hausreparaturplan" verband. Die Mieten in der DDR waren bekanntlich sehr niedrig - eine zwiespältige Sache. Natürlich war es für die Bewohner sehr angenehm, aber der Vermieter hatte keine Mittel für Rekonstruktion und Werterhaltung. Noch schlimmer war allerdings, dass die notwendigen materiellen Mittel - etwa Waschbecken, Badewannen, Elektroherde usw. - nur sehr begrenzt zur Verfugung standen. Deshalb gab es alljährlich ein bestimmtes Ritual: Alle Mieter wurden aufgefordert, notwendige Reparaturen oder zu ersetzende Ausrüstungsgegenstände anzumelden, dann wurde - theoretisch gemeinsam von Wohnungsverwaltung und HGL - die Dringlichkeit ermittelt (leider blieb die HGL damit oft allein), dazu musste in der Regel mit den Mietern gesprochen und möglichst auch die Wohnung besichtigt werden. Natürlich hatte der HGL-Vorsitzende oder sein Vertreter kein Recht, die Wohnung eines Mieters zu betreten, dazu musste der Mieter selbstverständlich die Erlaubnis geben. Ich kann von mir sagen, dass ich damit niemals Schwierigkeiten hatte. Dann musste auf der Grundlage der vorhandenen Möglichkeiten entschieden werden, welche Arbeiten tatsachlich durchgeführt werden können, daraus wurde dann der Hausreparaturplan zusammengestellt und von Wohnungsverwaltung und HGL unterschrieben. Und schließlich musste den Mietern mitgeteilt werden, was geht und was nicht geht - vor allem letzteres überließ die Wohnungsverwaltung gern dem HGL-Vorsitzenden. Ich mochte betonen, dass ich dieses System nicht zu den "Spuren in die Zukunft" zahle. Doch immerhin - in diesen Gesprächen mit den Mietern und den Mitarbeitern der Wohnungsverwaltung habe ich eine Menge Erfahrungen gesammelt, die ich nicht missen mochte. 

HGL-Arbeit konzentrierte sich also nicht nur aufs Feiern, aber das ist schon einige wichtige Sache. Wenn man mit Menschen ein paar Mal zusammen freiwillig gearbeitet und dann auch gefeiert hat, gestalten sich die Beziehungen doch ein wenig anders als wenn man sich nur gelegentlich im Fahrstuhl sieht. Es wäre natürlich maßlos übertrieben, wurde ich behaupten, dass so wirklich eine "Hausgemeinschaft" entsteht - warum sollte sie auch. Fest steht aber, dass ich bis heute (ich bin 1994 aus diesem Haus ausgezogen) noch Beziehungen zu Bewohnern dieses Hauses habe, mit manchen treffe ich mich öfters. Und wenn man mal zufällig jemanden trifft (kommt durchaus gelegentlich vor), ist immer Gelegenheit zu einem kleinen Schwatzchen (oder sagt man heute "Small talk"?). 

Nun habe ich bereits mehrere Male von "Wohngebiet" gesprochen. Das war nicht nur schlechthin die Umgebung des Wohnhauses, sondern eine offizielle Einrichtung. Die Wohngebiete waren offizielle Strukturen der Stadtbezirke, in unseren Falle also Berlin-Mitte. Wir waren der Wohnbezirk 44, zu ihm gehörten die 8 Hochhäuser der Sudseite der Leipziger Straße. Das war für die Arbeit natürlich ein Glücksfall, weil alles schon übersichtlich war. Das gesellschaftliche Organ war der Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front (WBA). Mit "unserem" WBA habe ich viele Jahre zusammengearbeitet (Die HGL-Vorsitzenden waren zwar nicht automatisch WBA-Mitglieder, nahmen aber aus praktischen Gründen an dessen Arbeit teil, weil das die Kommunikation sehr erleichterte.) und war dann später auch gewähltes Mitglied. Auch hier gilt natürlich, was für viele Institutionen der DDR gilt - sie hatten offiziell eine Zielstellung, die sich auf die ideologische Beeinflussung der Bürger richtete. Und das ist bestimmt auch in diesem oder jenen Maße getan worden. Ich glaube allerdings, dass die Wirkungen dieser - der theoretischen Konstruktion nach - wirklich allumfassenden Beeinflussung in manchen (mehr oder weniger ernsthaften) Untersuchungen über die DDR zu einseitig dargestellt werden. Ich konnte mir sonst nicht erklären, woher denn die Menschen kamen, die im Herbst 1989 in Leipzig demonstrierten, auf dem Alexanderplatz und im Lustgarten standen und das ZK "belagerten". Da waren doch viele Menschen dabei, die durchaus "linientreue" DDR-Bürger waren und trotzdem vernünftig dachten und handelten. Und ist Angela Merkel nun trotz oder wegen ihrer Arbeit als Funktionär für Agitation und Propaganda der FDJ CDU-Vorsitzende geworden? Ich muss diese Frage glücklicherweise nicht beantworten, jedenfalls gab es auch innerhalb der ideologisierten Strukturen der DDR sehr vernünftige Sacharbeit. 

Für unseren WBA 44 hieß das: ein wichtiger Teil unserer Arbeit bestand aus der Klärung der Probleme, die sich ergeben, wenn man jahrelang auf einer Baustelle lebt. Die Wohnhäuser wurden natürlich zuerst fertiggestellt (das Wohnungsbauprogramm war ja von höchster Priorität), Kaufhalle, Feinkosthaus, Kinderkaufhaus, Grünanlagen und alles mögliche folgte dann so nach und machte natürlich laufend Probleme. Und natürlich immer das Problem der Räume - es gab zunächst mal keinen Raum, in dem man eine Beratung durchfuhren konnte, anfangs ging das nur in den Wohnungen. Dann haben wir uns aus der "Ladenzone", also dem Erdgeschossbereich, zwei Räume "erobert" -einen kleineren für Besprechungen, einen etwas größeren für Veranstaltungen. 

Auch im WBA haben wir uns an das Prinzip gehalten, dass sich gesellschaftliche Beziehungen vor allem über gemeinsame Erlebnisse entwickeln. In der DDR gab es die "Lauf Dich gesund!" - Bewegung (für Nicht-DDR-Bürger: entsprach etwa "Trimm Dich!"). Wir haben uns mit einem eigenständigen Beitrag beteiligt - in jeden Frühjahr gab es den "Reinhold-Huhn-Gedenklauf" durch unser Wohngebiet. Reinhold Huhn war ein DDR-Grenzsoldat, der auf dem Territorium unseres Wohngebietes erschossen wurde, hier befand sich eine kleine Gedenkstätte, sie war Start und Ziel des Laufes. Der Lauf fand am Sonntag Vormittag statt, anschließen war Frühschoppen in "unseren" Räumen, von denen ich gerade gesprochen habe. Einmal jährlich gab es ein Volleyballturnier zwischen den 8 Häusern, glücklicherweise findet man eben in so großen Häusern für beinah alle Dinge, natürlich auch für Sport, ein paar Enthusiasten. 

Das erste der neuen Hochhäuser in der Leipziger Straße wurde im Jahre 1973 übergeben, und das brachte uns auf die eigentlich recht kühne Idee, den 10. Jahrestag mit einem großen Wohngebietsfest zu begehen. Gemeinsam mit unserem "Nachbar-WBA" - die Nordseite der Leipziger Straße war ein eigener Wohnbezirk - haben wir daran länger als ein Jahr gearbeitet, und es haben erstaunlich viele Bürger mitgemacht. Ich habe mit einer kleinen Gruppe die Geschichte des Wohngebietes und der näheren Umgebung erfasst (das Wohngebiet liegt ja nicht weit von der Stelle, an der sozusagen Berlin "gegründet" wurde) und daraus einen Dia-Vortrag gemacht, mit dem ich in viele Hausversammlungen eingeladen wurde. Es gab einen Fotowettbewerb, der in einer Ausstellung endete. Und wir haben natürlich weidlich ausgenutzt, dass es in der Leipziger Straße eine ganze Menge bekannter Leute gab - Schriftsteller, Sänger, Komponisten beispielsweise - die alle bereit waren, in Veranstaltungen mitzuwirken. Und auch die Institutionen der Leipziger Straße machten mit - es gab Veranstaltungen in den Gaststätten, das CSSR-Kulturzentrum organisierte eine Puppentheater-Veranstaltung, der Berliner Rundfunk kam mit seiner beliebten Sendung "7 bis 10 -Sonntagmorgen in Spreeathen" zu uns. Die Volkspolizei machte Veranstaltungen zur Verkehrserziehung, das VP-Orchester gab ein Konzert - kostenlos. Das hing natürlich damit zusammen, dass es in der Straße eine Menge VP-Angehörige, darunter auch höhere Dienstgrade, gab. Auch für uns Organisatoren gab es eine kleine Überraschung: Bei Bürgerversammlungen kam immer wieder die Anfrage, wie man sich denn im Katastrophenfalle die Rettung der Mieter aus einen Hochhaus vorstellt. Da haben wir mal vorsichtig bei der Feuerwehr angefragt und bekamen regelrecht begeistert die Zusage, dass man das vorführen werde. Der Grund für die Begeisterung war eigentlich recht einfach - die Feuerwehr arbeitete natürlich auch an diesem Problem und hatte durchaus Lösungen entwickelt, aber die Möglichkeiten zur praktischen Erprobung waren recht begrenzt, es war nicht erwünscht, eine Katastrophenübung an einem bewohnten Hochhaus durchzuführen, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Und nun bekam man ausdrücklich die Einladung dazu, mal alles zu demonstrieren, was es so gibt - von Rettung per Leiter oder Sprungpolster aus unteren Etagen über "Runterhangeln" mit Kletterleitern und Abseilen vom Dach bis zum Bergen von Verletzten. Es war sehr eindrucksvoll, es war die Veranstaltung mit den meisten Zuschauern und auch mit dem größten Echo in der Presse, eine bedeutende Illustrierte machte einen großen Bildbericht daraus. 

Feuerwehrübung im Wohngebiet 

Und natürlich gab es auch ein Sportprogramm mit Kegeln, Tischtennis,. Schießen, Volleyball, Schach und Rollerrennen, auch das DDR-Sportabzeichen konnte man erwerben. Selbstverständlich gab es Gesprächsrunden mit "Prominenten" unserer Straße, einen Frühschoppen, eine Disco und eine große Abschlussveranstaltung im "Ahornblatt". Und auch wenn es mancher heute nicht glauben will -es war nicht staatlich verordnet, niemand hat uns gezwungen, wir haben es freiwillig getan und hatten Freude daran. 

 Auch hier ging es natürlich nicht nur ums Feiern. Der WBA war eine Institution der Nationalen Front, und da fallen einem natürlich die Wahlen in der DDR ein. Ja, damit hatten wir auch zu tun. Über die Wahlen selbst, das "Zettelfalten", muss ich hier überhaupt nicht reden, das ist ganz gewiss keine "Spur in die Zukunft". Aber über dieser undemokratischen Prozedur selbst treten einige damit verbundene Dinge in den Schatten, die das nicht verdient haben. Wir hatten als WBA ein Vorschlagsrecht für Kandidaten, davon haben wir Gebrauch gemacht und sind dabei natürlich mit vielen Leuten ins Gespräch gekommen. Wir durften auch gegen nominierte Kandidaten Einspruch erheben, auch das gab es, und manchmal hatte es auch Erfolg, das war aber zugegeben nicht alltäglich. Vor allem aber - und darauf kommt es mir an: die gewählten Abgeordneten waren zur Zusammenarbeit mit uns verpflichtet, und besonders auf kommunaler Ebene wurde das auch tüchtig praktiziert. Man sollte über diesen "Wahlen" und den einstimmigen "Abstimmungen" in den Volksvertretungen nicht übersehen, dass viele der Bürger, die dort saßen, in ihren Betrieben oder Wohngebieten umfangreiche und nützliche Arbeit geleistet haben. Gerade bei den vielen Problemen eines Neubaugebietes war das Wort eines Abgeordneten gegenüber einer Behörde mitunter von beträchtlichem Gewicht. Auch hier darf man nicht übersehen, dass die Lage in der DDR mitunter zu einem eigenartigen, sozusagen "halblegalen" Mechanismus führte: Kritik an Parteibeschlüssen war natürlich hochgradig unerwünscht (milde gesagt). Aber wenn von verschiedenen Stellen - und dazu gehörten die Ausschüsse der Nationalen Front ebenso wie die Abgeordneten - mehrfach signalisiert wurde, dass die Bevölkerung mit bestimmten Dingen unzufrieden ist, so änderte sich manchmal doch etwas. Mag mancher diese Art des Herangehens belächeln - ich möchte doch in aller Bescheidenheit darauf aufmerksam, dass ich zwar heute völlig gefahrlos Politik und Politiker kritisieren und sogar beschimpfen kann - aber ich habe auch die Gewissheit, dass es kaum jemanden interessiert und sich nichts ändert. 

Ein wichtiger Aspekt der Arbeit im Haus und im Wohngebiet waren Fragen der Sicherheit. Man muss jetzt nicht gleich an das Ministerium für Staatssicherheit denken - damit hatten wir auch gelegentlich zu tun, es gab in den achtziger Jahren mal in erheblichem Umfang Nazischmierereien in einigen Häusern, da trat natürlich auch das MfS auf den Plan. Nein, es geht um die alltägliche Sicherheit wie Brandschutz, Schutz gegen Einbrach und Diebstahl und Vandalismus. Das ist in einem Hochhaus schon ein Problem. Es ziehen beinahe wöchentlich Mieter ein und aus, selbst kontaktfreudige Menschen lernen nur einen Bruchteil ihrer Mitmieter kennen, man weiß oft nicht, wer Hausbewohner und wer Fremder ist (was es auch für Menschen mit unredlichen Absichten relativ leicht macht, sich im Haus aufzuhalten), und die (sicher notwendigen) Sicherheitsbestimmungen bringen ihrerseits in anderer Hinsicht wieder Unsicherheit - ein Hochhaus muss eine ständig begehbare Nottreppe haben, die auf eine Tür führen muss, die (auch im abgeschlossenen Zustand) von innen immer zu öffnen ist ("Paniktür"), um im Brandfall die Evakuierung zu ermöglichen. Das bedeutet aber, dass es etwa genügte, spät abends diese Tür von innen zu öffnen und mit einem Stein zu blockieren, dann war das Haus die ganze Nacht für alle "Interessierten" zugänglich. Es gab keine Eingangskontrolle - der Versuch, eine Art Concierge einzurichten, führte nur zum Bau eines entsprechenden Schalters im Eingangsbereich, der nie besetzt und dann wieder abgerissen wurde (keine Leute, keine Leute!). Die Haustür war natürlich verschlossen, aber wer einfach irgendwo klingelte, fand nach wenigen Versuchen jemanden, der ohne weitere Kontrolle den Türöffner betätigte, und dann war man drin. Es ist durchaus passiert, dass wir im Winter über den Nottreppeneingang ungebetene Gäste bekamen, die sich dann auch noch auf der Nottreppe ein kleines Feuerchen machten, weil es ihnen kalt war. Das war natürlich hochgradig gefährlich. Ich habe darüber geschrieben, dass die Feuerwehr durchaus um Rettungsmethoden aus einem Hochhaus bemüht war, aber natürlich ist und bleibt ein Großbrand in einem bewohnten Hochhaus, noch dazu bei Nacht, eine Horrorvorstellung. Eine Arbeitsgruppe Ordnung und Sicherheit war deshalb wichtig, damit man im Haus ein wenig nach dem rechten sehen konnte, gelegentlich auch mal die abgelegenen Winkel inspizierte usw. Natürlich wäre das primär Sache der Polizei, darauf komme ich noch, aber selbst unter DDR-Bedingungen waren deren Möglichkeiten begrenzt. Natürlich haben wir keine perfekte Überwachung des Hauses organisiert, das wollten und konnten wir nicht. Aber allein das Wissen darum, dass gelegentlich auch am späten Abend jemand durch die (abgelegene) Nottreppe gehen könnte, übte eine gewisse moralische Wirkung auf ungebetene Gäste aus. Übrigens haben sich hier die Jugendlichen hervorgetan, wir hatten immer so etwa 10 junge Leute, die sich um Ordnung und Sicherheit kümmerten. Natürlich sind dabei gewisse Regeln einzuhalten, es gab fachkundige Anleitung, wir hatten auch mehrere Angehörige der Volkspolizei als Mieter im Haus. Wir haben insgesamt wenig Probleme gehabt. Es gab ein paar Wohnungseinbrüche, meist waren es gar keine Einbrüche im juristischen Sinn, sondern leichtsinniger Umgang mit Schlüsseln. Ich entsinne mich eines Falles auf "meiner" Etage -ein Mieter hatte versehentlich den Schlüssel von außen an der Türe stecken lassen. Als er es bemerkte, war der weg, und während er unterwegs war, um das Schloss auszuwechseln, wurde die Wohnung zwar nicht ausgeräumt, aber es fehlten immerhin einige Wertgegenstände. Wir haben dann dafür gesorgt, dass den Mietern für solche Fälle ein Ersatzschloss zur Verfügung stand. Ich weiß, dass es manchem vielleicht kalt den Rücken runter läuft, wenn ich sage, dass wir ein "Hausaktiv Ordnung und Sicherheit" hatten - so hieß das offiziell - heute nennt man so etwas "Bürgerwehr" oder ähnlich, preist es als (allerdings mitunter etwas umstrittene) Initiative mündiger Bürger, die sich um sich selbst sorgen. 

Von der Volkspolizei war die Rede, dazu muss noch etwas gesagt werden. Das System der Zusammenarbeit der Polizei mit den Bürgern im Wohngebiet war in der DDR deutlich besser als es heute ist. Der Schlüsselbegriff war "ABV" - offiziell "Abschnittsbevollmächtigter". Das war ein Polizeiangehöriger, dessen Aufgabe darin bestand, sich um alle relevanten Probleme eines Gebietes (nicht immer identisch mit den staatlich festgelegten Wohngebieten, sondern eben "Polizeiabschnitt") zu kümmern. Unseren ABV, Leutnant F., kannte wohl wirklich jeder im Wohngebiet, und er kannte zwar nicht alle, aber sehr viele, natürlich vor allem die, die ihm - im positiven wie im negativen Sinne - wichtig waren. Er war fast ständiger Gast auf den WBA-Sitzungen, informierte uns über seine Probleme und hörte sich unsere Probleme an, konnte oft wichtige Tipps geben. Man traf ihn beim Einkaufen in der Kaufhalle, bei Klubveranstaltungen, und wenn er keinen Dienst hatte, auch mal in der Kneipe und konnte mit ihm ein Bier trinken und sich unterhalten. Er konnte zuhören und fand gerade bei Jugendlichen den richtigen Ton. Ich entsinne mich, dass ich an der Auswertung einer Studie beteiligt war, die die Probleme von Schülern der beiden Schulen unseres Wohngebietes untersuchen sollte. Dabei war auch die Frage gestellt worden, an wen sich der Schüler in Konfliktsituationen wohl wenden würde, und da fand sich gerade bei einigen "Problemschülern" die Antwort: "Leutnant F." oder eben einfach "ABV". Das hat mich dann doch überrascht, denn bei allem was ich hier geschrieben habe, war natürlich auch in der DDR das Verhältnis der Jugendlichen zur Polizei nicht unbedingt gerade freundschaftlich. Und natürlich ersparte der ABV bei solchen Ereignissen wie einem Wohngebietsfest, aber auch bei kleineren Dingen wie etwa einem Lampionumzug am "Tag des Kindes", viel Arbeit. Wenn er sich auf der WBA-Sitzung einen Vermerk in sein Notizbuch geschrieben hatte, dann wurden die entsprechenden Maßnahmen wie etwa eine zeitweilige Straßensperrung oder die Erteilung irgendeiner Ausnahmegenehmigung eingeleitet. In Veröffentlichungen habe ich gelesen, dass es heute bei der Polizei "Kontaktbereichsbeamte" mit einer ähnlichen Aufgabenstellung geben soll - ich habe in 13 Jahren in 3 verschieden Wohngebieten noch keinen kennen gelernt. 

Ich glaube, dass in den Formen des Zusammenlebens der Menschen in der DDR schon so etwas wie eine "Spur in die Zukunft" zu verzeichnen ist. Ich will weder behaupten, das es überall so war, noch, dass das nun alles DDR-spezifisch ist. Auch heute leben Leute in Häusern so oder so zusammen. Vielleicht wirft mir jemand Verklärung der damaligen Verhältnisse vor. Ich würde wohl mit der Antwort zögern - ich bin 64, habe unter anderen auch mal Psychologie gelernt und weiß, das es eine Tendenz gibt, im Alter schlechte Erinnerungen zu verdrängen und gute zu betonen. Aber dann würde ich doch sagen: Nein, das alles gab es wirklich so. 

Unser Wirken im Wohngebiet hat im Übrigen tatsächlich gegenständlich "Spuren in die Zukunft" hinterlassen. Wir haben selbstverständlich 1990 den WBA aufgelöst, einige der Mitglieder haben dann mit ein paar anderen Interessenten einen Verein zur Wahrnehmung der Bürgerinteressen des Wohngebietes gegründet. Unsere Hauptüberlegung war, dass sich wohl in diesem Gebiet Leipziger Straße viele Veränderungen vollziehen werden, wobei es günstig wäre, wenn dort die Bürger auch als juristische Person mitwirken können. Es ist alles ganz korrekt verlaufen, der Verein wurde nach entsprechender Prüfung und der üblichen langen Prozedur ins Vereinsregister aufgenommen und hat noch viele Jahre gewirkt. In der Tat war der Verein Partner bei der Umgestaltung der Hochhäuser, auch bei der Privatisierung der beiden mittleren Doppelhochhäuser. Dank ordentlicher Arbeit wurden wir auch vom neuen Hausbesitzer akzeptiert, beispielsweise bekamen wir für die beiden Räume, die früher mal dem WBA zugewiesen waren, einen akzeptablen Mietvertrag. Da ein solcher Verein nicht gerade über Reichtümer verfügt und die Leipziger Straße ja durchaus eine gute Wohngegend ist, verdient das alle Anerkennung. Wir waren auch Partner bei vielen Diskussionen um die Umgestaltung der Leipziger Straße sowohl gegenüber dem Bezirksamt Mitte als auch gegenüber der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und dem Senator. Natürlich ist nicht alles so verlaufen, wie wir es gern gehabt hätten, aber man kann sagen, dass wir in einer Menge Einzelprobleme die Meinung der Bürger einbringen konnten. Mittlerweile ist die Lage so, dass die meisten Dinge nun so oder so geklärt sind, und ein Kampf gegen Windmühlenflügel macht ja - sofern man nicht in die Weltliteratur eingehen will - wenig Sinn. Der Verein wurde also vor einiger Zeit aufgelöst, aber die 10 Jahre seines Wirkens waren nicht vergebens.


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