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Jürgen Rudolf

Der Berufseinstieg der Jugend

Wege in die Zukunft können nur über die Jugend führen. Die Jugend kann aber nur erfolgreich die Zukunft gestalten, wenn ihr auch der Berufseinstieg gelingt. Es ist bekannt, dass in der Jugendarbeitslosigkeit eines der größten Probleme der heutigen Gesellschaft liegt. Hier drängen sich mir schon einige Vergleiche zwischen meinem eigenen Berufseinstieg und der Situation der heutigen Jugendlichen auf.

Ich kann mich noch gut an meine eigene Schul- und Berufsausbildung erinnern, die zwischen 1965 und 1985 in der DDR lag. Hier möchte ich insbesondere darauf eingehen, welche Erfahrungen ich mit der Berufsorientierung und -wahl, damals mich selbst und meine Altersgruppe betreffend, und heute mit der Generation unserer Kinder gemacht habe.

Zunächst gab es in den unteren Schuljahren Werkunterricht. Dinge, wie den Umgang mit Feilen und anderen einfachen Werkzeugen, aber auch z. B. Erkenntnisse über die Stabilität des Dreiecks spielten dabei schon eine Rolle. Später gab es ab Klasse 6 Physik und ab Klasse 7 Chemie. Ebenfalls ab der 7. Klasse gab es UTP, den Unterrichtstag in der Produktion. Er wurde bei mir zunächst in einer Metallwerkstatt durchgeführt. Dazu gehörten u. a. auch der Umgang mit einer elektrischen Bohrmaschine und später auch mit einer Drehmaschine. Wir stellten u. a. Kleiderhaken aus Aluminium her, die im Anschluss für eine Neubauschule verwendet wurden. (Mir ist bekannt, dass diese Schule inzwischen aus Schülermangel geschlossen wurde.) Parallel dazu gab es ESP (Einführung in die sozialistische Produktion). In diesem eher theoretischen Fach wurden zunächst allgemeine Kenntnisse über die Wirtschaft, aber z. B. auch Technisches Zeichnen vermittelt. Später, in der 10. Klasse nahm es teilweise den Charakter eines erweiterten Physikunterrichtes an. Es wurde z. B. der Dreiphasenwechselstrom behandelt.

Die meisten 14-Jährigen nahmen wie auch ich an der Jugendweihe teil. In Vorbereitung dazu gab es das Programm der Jugendstunden. Neben Veranstaltungen mit eher politischem Inhalt wurden dabei verschiedene Betriebe besucht und hinter die Kulissen gesehen. Ich kann mich an einen Besuch im Bahnbetriebswerk, in einem Instandsetzungsbetrieb für landwirtschaftliche Maschinen und im nicht öffentlich zugänglichen Bereich des Theaters erinnern.

Es war weiterhin üblich, dass Schulklassen Patenbrigaden in Betrieben vor Ort hat­ten. Das Engagement, das beide Seiten in diese Beziehungen setzten, war sicher sehr unterschiedlich. Bei mir lag es wohl etwa im Mittelfeld. Ich kann mich jedoch z. B. daran erinnern, dass wir im Rahmen einer Veranstaltung mit unserer Patenbrigade an der EOS das chemisch-pharmazeutische Werk besichtigt haben.

Relativ gering war der Anteil der Schüler, die wie ich nach der 8. Klasse auf die EOS (Erweiterte Oberschule, damalige Bezeichnung für Gymnasium) gingen. Aus meiner damaligen 8. Klasse war es außer mir nur noch eine Mitschülerin, die heute als Lehrerin tätig ist. In den Klassen 11 und 12 wurde UTP/ESP durch WPA (Wissenschaftliche Produktionsarbeit) ersetzt. Ich hatte mich im Stahlwerk mit dem Thema der Anwendung von Sensoren in der Metallurgie zu befassen. Die Gruppe von 4 Schülern wurde von einem Ingenieur betreut, der allein sicher innerhalb von 2-3 Arbeitstagen in der Lage gewesen wäre, das Thema in viel größerer Tiefe als mit uns zu behandeln. Wir erhielten jedoch einige erweiterte Grundkenntnisse in der Elektrotechnik. Natürlich konnten wir uns auch einmal einen Abstich im Stahlwerk ansehen.

 Davon können viele Jugendliche in der BRD nur träumen: Lehrvertragsabschluss im VEB Plastmaschinenwerk Schwerin-Süd

Nicht wenige der leistungsstarken Schüler wählten damals den Ausbildungsweg der Berufsausbildung mit Abitur, einer dreijährigen Lehrzeit nach der 10. Klasse, in der sowohl der Facharbeiterabschluss als auch das Abitur erworben wurde. Weiterhin haben nicht wenige Facharbeiter ein Ingenieurstudium an einer Fachschule absolviert, wofür das Abitur nicht vorausgesetzt wurde.

Bereits in den unteren Schuljahren bestand die Möglichkeit, durch das Sammeln von Altpapier, Altglas oder Schrott etwas Geld zu verdienen. Neben diesen Einkünften hat das Gefühl, etwas Nützliches getan zu haben, schon eine gewisse Rolle gespielt. Bereits ab etwa dem 7. Schuljahr bestand die Möglichkeit der Teilnahme an bezahlten Ernteeinsätzen. Ab dem 14. Lebensjahr war eine freiwillige bezahlte Tätigkeit von Schülern in den Ferien auf Basis von Pauschalverträgen jederzeit möglich und erwünscht. Auch ich machte davon Gebrauch und habe einfache Tätigkeiten in verschiedenen Betrieben ausgeführt und für meine damaligen Verhältnisse sehr viel Geld verdient.

Spätestens etwa ab der 10. Klasse setzte in der EOS die Berufslenkung ein. Dabei spielte die Offizierswerbung eine wichtige, aber keineswegs die ausschließliche Rolle. Auch damals war es so, dass Abiturienten, die bis dahin nur die Schule kannten, sich häufig für ziemlich brotlose Berufsrichtungen interessierten. Wer wollte schon Elektrotechnik, Bauwesen, Maschinenbau, Metallurgie oder Ähnliches studieren? Nein, es sollte Soziologie, Psychologie, Meeresbiologie, Jura, Architektur, Archäologie oder Journalistik sein. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin mir darüber im Klaren, dass auch alle diese Richtungen ihre Bedeutung haben. Jedoch war bereits damals das Interesse der Abiturienten nach solchen Studienrichtungen ungleich höher als der volkswirtschaftliche Bedarf nach Absolventen.

An dieser Stelle soll unbedingt erwähnt werden, dass die Studienorientierung nur empfehlend gewirkt hat.

Einen Teil konnte sie abbiegen, insbesondere bei den Abiturienten, die noch keine klaren Berufsvorstellungen hatten. Eine weitere Auslese erfolgte anhand der Anzahl der Studienplätze, für die es eine Abstimmung mit dem volkswirtschaftlichen Bedarf gab. Häufig mussten dann Zweit- oder Drittwünsche angenommen werden.

Auch zu DDR-Zeiten kam es vor, dass Absolventen bestimmter häufig heiß begehrter Studienrichtungen in ihrem Beruf keine Arbeit fanden. Das war aber eher die Aus­nahme. Sie sind dann berufsfremd eingestiegen und haben 2 bis 3 Jahre beruflicher Entwicklung verloren, um den Rückstand durch die nicht der Tätigkeit entsprechende Ausbildung wieder aufzuholen. Mehr ist nicht passiert.

Sehr günstig war außerdem, dass Absolventen der Berufsausbildung mit Abitur fast immer anschließend eine zu der abgeschlossenen Facharbeiterausbildung passende Richtung studiert haben, was diese Probleme deutlich reduziert hat.

Ich selbst habe mich seinerzeit als EOS-Schüler aus freien Stücken für ein Studium der Technologie des Eisenbahntransportes entschieden. Das fand die Billigung der Studienorientierung an der EOS. Den Studienplatz hätte ich auch mit einem schlechteren Abitur bekommen, als ich es hatte. Diesen Entschluss habe ich nie bereut. Absolventen heutiger vergleichbarer Studien werden bei der Bahn, meinem Arbeitgeber, eingestellt.

Was passiert aber heute?

Ich gebe hier Erkenntnisse wieder, die ich bei meinen eigenen Kindern und den Kindern meines Freundes- und Kollegenkreises gewonnen habe. Über übergreifende statistische Daten verfüge ich nicht.

Zunächst ist der Anteil der Gymnasiasten an der Gesamtzahl der Schüler ungleich höher. Der Bildungsweg der Berufsausbildung mit Abitur nach der 10. Klasse ist keine Größenordnung mehr. Werken, UTP und WPA gibt es nicht mehr. Bezahlte Nebentätigkeiten von Schülern gibt es kaum noch und beschränken sich häufig auf das Verteilen von Werbematerial. Die Schwerpunkte des Lerninhaltes am Gymnasium haben sich stark von den Naturwissenschaften zu den Sprachen verlagert. Z. B. werden an einem Gymnasium ohne besondere Profilierung (nicht etwa einem Sprachgymnasium) in der Klasse 8 in der Woche 4 Stunden Englisch und eine Stunde Physik unterrichtet. Physik in den Klassen 6 und 7 ist abgeschafft.

Ab der 11. Klasse haben die Schuler sogar die Möglichkeit, unbequeme Fächer abzuwählen. Dabei kann plötzlich sogar Mathematik oder Physik betroffen sein.

Hinzu kommt, dass die Trennung der Gymnasiasten von den übrigen Schülern bereits in der Klasse 7, in einigen Bundesländern sogar bereits ab Klasse 5 erfolgt (in der DDR zu meiner Zeit ab Klasse 9, zuletzt sogar ab Klasse 11). Viel zu früh sind damit die Schuler mit „höheren Zielen" unter sich und viel zu früh sinkt der Leistungsanspruch an den Rest.

Das alles bedeutet auch, dass die Mechanismen, die zu DDR-Zeiten den Abiturienten den Praxisbezug gegeben, die Achtung auch vor den „niederen" Tätigkeiten gefordert und das Interesse auf die technischen Studienrichtungen gelenkt haben, nicht mehr greifen. Es ist heute eher eine Ausnahme, wenn Abiturienten von sich aus z. B. Maschinenbau studieren wollen.

Ganz besonders negativ wirkt sich aus, dass auch das Regulierungsmittel über die Anzahl der Studienplatze kaum noch greift. Heutige Freiheit bedeutet unter anderem, dass mit viel zu wenig Ausnahmen jeder das studieren kann, was er will. Also werden schließlich die Politikwissenschaftler Fensterputzer, die Soziologen Taxifahrer, die Juristen Wurstchenverkäufer. Oder arbeitslos. Die vom Steuerzahler und von den Eltern für langwierige Ausbildungen investierten Mittel verpuffen nutzlos.

In meinem Bekanntenkreis gibt es derzeit nur einen Abiturienten, dem der Sprung in eine bezahlte Stelle gelungen ist. Er hatte zunächst noch keine klaren Berufsvorstellungen und sich nach Beratungen beim Arbeitsamt für ein dreijähriges duales Studium der Betriebswirtschaftslehre (fester Ausbildungsvertrag mit Unternehmen, immer im Wechsel 3 Monate Studium an der Berufsakademie und 3 Monate Praxis im Unternehmen) entschieden. Mit etwas Glück hat er mit 22 Jahren eine unbefristete Stelle zur technischen Betreuung der Systeme von Intranet und Internet-Auftritt seiner Firma bekommen.

Andererseits gehen die Firmen, auch die Bahn, heute in die Hochschulen, um die Absolventen der ingenieurwissenschaftlichen Richtungen für sich zu werben. Es mag sein, dass das in den ersten Jahren nach der Wende nicht so war. Der heutige Grundtrend nach dem Mangel an Absolventen ingenieurtechnischer Richtungen dürfte sich jedoch mit der zunehmenden Überalterung der Belegschaften auf absehbare Zeit verschärfen und auch auf weitere Berufsgruppen wie Lehrer und Erzieher übergreifen. Es ist absehbar, dass die hohe Arbeitslosigkeit immer mehr von einem Fachkräftemangel überlagert werden wird. Ich glaube, dass dieser Trend im Osten, wo große Teile der Jugend abgewandert sind, noch wesentlich stärker wirken wird als im Westen. Man darf überhaupt nicht daran denken, dass ab dem Geburtsjahrgang 1990 mit immer weniger Nachwuchs zu rechnen ist, was etwa ab 2010 verheerend wirken kann.

Der von vielen Firmen praktizierte Ausweg, bisherige qualifizierte Tätigkeiten unter Inkaufnahme einer höheren Fehlerquote durch wenig qualifizierte und gering bezahlte Arbeitskräfte ausführen zu lassen, kann nicht dauerhaft erfolgreich sein.

Eine wesentliche Seite des Erfolges des westdeutschen Wirtschaftssystems war über viele Jahre der Zulauf gut qualifizierter jüngerer Fachleute, ohne für deren Ausbildung aufgekommen zu sein. Diese Entwicklung schadet den Herkunftsländern erheblich, was die DDR bitter erfahren musste. Aber selbst wenn man von diesem Problem absieht, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass diese Quelle mit einer zunehmend krisenhaften Entwicklung in Deutschland versiegen und sich ins Gegenteil verkehren wird.

Keinesfalls behaupte ich, dass hinsichtlich des Bildungssystems und der Berufslenkung in der DDR alles in Ordnung war. Auch dieses System hat z. B. nicht die Bi­dung von „Wasserköpfen" verhindert. Ich behaupte aber, dass es heute dringender denn je ist, das System der Schulausbildung und Berufslenkung zu reformieren und dabei wichtige DDR-Erfahrungen zumindest einfließen zu lassen. Weiterhin behaupte ich, dass die Schwächen des Bildungssystems, auch die hier dargestellten, eine wichtige Ursache dafür sind, dass Deutschland heute im internationalen Vergleich frühere Positionen verliert.

Die Bildung und Berufslenkung können nicht dem freien Markt überlassen werden. Sie sind ein Gebiet, in dem staatliche Forderung und Planung ausgehend von einer Abschätzung des künftigen volkswirtschaftlichen Bedarfs in besonderem Maße gefragt sind. Die DDR ist mit Sicherheit nicht daran gescheitert - im Gegenteil, das war eine ihrer Stärken. Die Nutzung dieser Erfahrungen und ihre Weiterentwicklung entsprechend den heutigen Erfordernissen ist dringendes Gebot und mit Sicherheit ein Stück Weg in die Zukunft.


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