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Thea Weis

Das Plusquamperfektum, die Vorvergangenheit

(Ich hatte diese Briefe geschrieben und erhalten)

Auszugsweiser Briefwechsel mit Freunden, Bekannten, Verwandten und Kollegen zwischen 1985 und 1995. Fünf Jahre vor und nach der Änderung des Staates.

 

16. Februar 1985

Liebe Magdalena!

...

Übrigens, wenn Du mit der jetzigen Gesellschaft nicht zufrieden bist, dann lass ich Dich mal ein paar Briefe von Tatjana lesen, die, nachdem ihr Benno über Ungarn in den Westen abgehauen ist, nun durch Familienzusammenführung auch dort landete.

Wegen des hohen Portos schreibt sie in großen Abständen immer nur einen Brief mit der Bitte, diesen auch an die anderen Bekannten weiterzureichen. Das können wir uns einfach nicht vorstellen mit unseren 20-Pfennig-Marken für jeden Brief.

Auf den Fotos, die sie letztens mitschickte, ist alles schön bunt und glänzend ohne den typischen Braunstich wie bei uns. Man sieht eine wunderschön eingerichtete Wohnung, die einen ganz neidisch machen könnte, so perfekt und modern. Nur sie selbst sieht nicht besonders glücklich aus, scheint mir auch dünner geworden.

Sie beklagt, solche Leute wie uns, mit denen man in nächtelangen rotweingeschwängerten Diskussionen offen, ungeziert und ohne Schnörkel über Gott und die Welt schwadronieren kann, dort einfach nicht zu finden. Die neuen Freunde und Bekanntschaften beschreibt sie als schon so verkümmert oder neurotisch oder spießig mit faden, öden und verknöcherten Ansichten. Alles ist stark vom oberflächlich Verbalen geprägt, ein wirkliches Vertrauensverhältnis kaum vorstellbar. Das „frustriert" sie am meisten, wie sie schreibt. Auch hat sie noch immer keine Arbeit gefunden. Anfangs fand sie das sogar gut, sich so ohne berufliche Anstrengung in der Neuwelt zurechtfinden zu lernen. Jetzt scheint sie anders darüber zu denken. Ihr fehlt die finanzielle Unabhängigkeit.

Vielleicht bin ich ja zu einseitig, aber wenn ich solche Briefe lese, fühle ich mich privilegiert und wohl, hier zu leben. Hier habe ich das Gefühl, mit meiner Arbeit im Kleinen etwas verändern oder verbessern zu können. Besonders wenn ich auf meinen Dienstreisen in die Dörfer komme und mich mit den Frauen dort unterhalte über die Dinge, die ihnen zu Recht großen Ärger verursachen und sich das dann in meinen Berichten oder Artikeln in der Frauenzeitschrift ungeschminkt wiederfindet, dann empfinde ich eine Art innere Genugtuung, den Finger ganz genau auf die wunden Stellen gelegt zu haben. So etwas wird auch wahrgenommen, wie mir eine kleine Begebenheit in der vorigen Woche zeigte. Ich hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der Preis für eine Strumpfhose den Frauen zu hoch ist. Die zuständige Frau im Politbüro und Zentralkomitee , die dieses Beispiel für Unzufriedenheit unter der weiblichen Bevölkerung zur Kenntnis bekam, zeigte angesichts dessen, dass sie selbst offenbar ihre Strumpfhosen über eine Art Sonderzuteilung zu einem sehr viel niedrigeren Preis erhielt, Unverständnis für diese Beschwerde. Sie nutzte aber die nächstbeste Gelegenheit eines Aufenthaltes weit außerhalb Berlins, um sich das in einem Landwarenhaus anzusehen. Im anschließenden Gespräch mit der Vorsitzenden des Demokratischen Frauenbundes musste sie dann eingestehen, dass es wohl stimme mit dem zu hohen Preis und versprach, Einfluss zu nehmen, dies zu verändern.

Im gleichen Atemzug machte sie aber darauf aufmerksam, dass dafür die Kinderkleidung durch staatliche Subventionierung sehr preiswert sei und davon schließlich auch Erwachsene profitieren würden. Das sorgte dann in unseren Kreisen rundum für Erheiterung, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass die Mehrzahl der Frauen, einschließlich uns selbst, Freude am Tragen von Kindermode in der Größe 164 hat.

...

2. Juni 1986 von Ulla

Mein liebes Mädel!

...

Es ist eine Wohltat, diese anhaltende Fürsorge seitens der Kollegen aus dem Theater zu erleben.

Nach dem so schmerzlichen Verlust meines „lieben Herzens" und der sich ausbreitenden Mutlosigkeit, ja fast schon Lethargie, bekomme ich immer und immer wieder Arbeitsangebote von dort, die mich aufmuntern und ablenken sollen. Wahrscheinlich besteht auch die Annahme, dass ich mich mit meiner Freiberuflichkeit und nur einem wöchentlichen festen Arbeitstag in der Arbeitsgemeinschaft im Pionierpalast in der Wuhlheide finanziell nicht über Wasser halten könne.

Sie meinen es so überaus gut damit, fühlen sich nicht nur verantwortlich für die Hinterbliebene ihres Kollegen, sondern es ist ihnen offenbar auch ein Herzensbedürfnis und ich fühle eine große Dankbarkeit in mir.

Nicht genug damit, dass sie mir einen großen Teil der Vorbereitungen für die Trauerfeierlichkeiten abgenommen haben, auch die herzbewegenden Worte und die Wertschätzung der Leistungen berühren mich im tiefsten Inneren.

Ehrlich gesagt hätte ich mich in meinem betäubungsähnlichen Befinden außerstande gesehen, das alles selbst zu organisieren und ich bin so froh, dass es einen solchen Zusammenhalt gibt.

...

 

30. August 1987

Liebe Judith!

Deinen Geburtstag verlebst Du an der Schwarzmeerküste, wie Du schreibst. Ich kann mir vorstellen, dass Dir trotz der Schönheit des Landes die kleinbauernschlaue Verschlagenheit der fliegenden Händler am Strand und die ständig handaufhaltenden Bediensteten im Hotel mächtig auf die Nerven gehen. Aber was mich noch mehr ärgern würde ist, dass sofort nach Feststellung der Herkunft aus Deutschland die Frage nach Ost oder West kommt und nach ehrlicher Beantwortung dieser, sich die Behandlung des Gastes verändert. In unserem speziellen Fall schlechter wird. Bei solchen Gelegenheiten bedaure ich, aus der DDR zu sein, denn schließlich hat man doch auch ein Jahr lang gearbeitet, um sich einen solchen, durchaus nicht billigen, Urlaub leisten zu können und dann diese benachteiligte Behandlung, einfach widerlich.

In Ungarn ist mir das in vergangenen Jahren im Übrigen auch schon aufgefallen. Hinzu kamen dort noch die betrügerische Veranlagung bei den Restaurantrechnungen oder am Obststand.

Lediglich in der Sowjetunion kann man noch von wahrer Gastfreundschaft sprechen. Bei unserem Aufenthalt in Sotschi lernten wir beispielsweise unseren „Djadja Ilja" kennen, mit dem wir nun schon seit langer Zeit in freundschaftlicher Verbindung stehen. Dazu ist aber noch zu bemerken, dass es seinerzeit durchaus nicht gern gesehen wurde, derartige Privatkontakte zu knüpfen. Der genaue Grund hierfür ist mir bis heute verborgen geblieben.

Was mich jetzt noch reizt, ist ein Urlaub auf Kuba. Aber das kostet 2000 Mark und ich verdiene ja nur 1200. Auch wenn das im Vergleich zu anderen ein sehr gutes Einkommen ist, muss ich doch ganz schön dafür sparen.

Eine Kollegin war letzten Sommer in Jugoslawien und ein Freund mit Jugendtourist auf Zypern. Aber das sind Ausnahmen. Wir werden uns wohl weiterhin mit den heißumkämpften FDGB-Ferienplätzen an der Ostsee oder im Thüringer Wald begnügen müssen oder eben einen deutlich teureren übers Reisebüro der DDR am Alexanderplatz oder bei Intourist buchen.

Alles in allem bin ich ja damit zufrieden, nur wenn ich die Kartengrüße von unserem lieben Käptn auf großer Fahrt aus Ägypten und sonst woher bekomme, befällt mich das Fernweh nach Ländern, die ich wohl niemals im Leben bereisen werde.

Auf jeden Fall bin ich froh, dass wenigstens unsere kleine Peg jedes Jahr an die schönsten Urlaubsorte unserer Heimat ins Kinderferienlager fahren und die restliche Sommerferienzeit für eine symbolische Mark die Ferienspiele besuchen kann. So ist sie gut aufgehoben, hat viele Erlebnisse und ich kann beruhigt meiner Arbeit nachgehen.

Erinnerst Du Dich noch, dass wir früher in den Ferien außer im Ferienlager oft bei der Großmutti gewesen sind? Mit unseren Kindern geht das nicht mehr so ohne weiteres, weil die Großeltern selbst noch voll berufstätig sind und den Urlaub für ihre eigene Erholung brauchen. So ändern sich eben die Zeiten ...

 

 

28. September 1988 von Maggy

 ...

 Mein Telegramm mit der Geburtsnachricht wirst Du sicher schon in den Händen halten. Nun, nachdem ich mich von den Anstrengungen einigermaßen erholt habe, sollst Du auch noch ein paar Briefzeilen bekommen.

Mein Liebling steht neben mir in einem rollbaren Bettchen mit durchsichtigen Seitenwänden, so dass ich die Gesichtszüge genau studieren und jede Regung verfolgen kann. Es scheint ein ruhiges Kind zu sein, schläft friedlich und sieht so gesund aus.

Nach all den Aufregungen der letzen Zeit hatte ich befürchtet, dass es ein nervöses Bündelchen werden würde. Schließlich hat die Kleine die ganze Prüfungs- und Diplomarbeitszeit in meinem Bauche mitgemacht. Und bis vor 6 Wochen habe ich sie am Tage auf Arbeit mit mir herumgetragen. Das war schon ganz schön anstrengend, was ich uns beiden da so zugemutet habe. Dennoch bin ich überaus glücklich, dieses gesunde Baby zur Welt gebracht zu haben. Mit meinen 28 Jahren zähle ich ja zu den so genannten Spätgebärenden, angesichts der anderen Frauen, die für gewöhnlich nach der Ausbildung oder während des Studiums mit durchschnittlich 21 Jahren ihren ersten Nachwuchs erwarten.

Auch wenn mir momentan der Sinn nach allem anderen steht, mache ich mir schon jetzt Gedanken, wie es beruflich für mich weitergeht. Zunächst werde ich ein Jahr zu Hause bleiben. Da geht es mir besser als Dir damals, die Du nur ein Vierteljahr zur Verfügung hattest und danach gleich wieder in die Arbeit eingestiegen bist.

Ich werde mich in dieser Zeit neben meinen Mutterpflichten weiter meiner wissenschaftlichen Arbeit widmen. Ich befürchte, dass mir ansonsten beizeiten die sprichwörtliche Decke auf den Kopf fällt, wo ich es doch gewöhnt bin, meinen Kopf lieber anzustrengen. Zum anderen glaube ich, dass ich zum Hausfrauendasein allein nicht tauge. Wir sind nun mal so erzogen, dass sich Beruf und Familie durchaus vereinbaren lassen und unsere Mütter haben es uns ja unter weitaus schwierigeren Bedingungen vorgelebt, sie haben sogar noch am Samstag gearbeitet.

Heutzutage stehen uns doch flächendeckend Kinderkrippen und Kindergärten zur Verfügung. Selbst ich auf meinem Dorfe habe nur einen kurzen Weg dahin, kann also vor der Arbeit mein Kindchen dort hinbringen. Ärztliche Reihenuntersuchungen und Impfungen werden auch gleich dort durchgeführt, sagte man mir, so dass ich meinen monatlichen freien Hausarbeitstag für andere Dinge nutzen kann.

10. November 1988

Liebe Sanna!

Bei mir steht wieder mal ein Umzug an (es ist nun schon das sechstemal in meinem Leben). Heute in genau drei Wochen soll es losgehen. Ich schreibe daher nur kurz, um Dich auf dem Laufenden zu halten.

Zumal ich nur einen Umzugstag erhalte und ansonsten voll weiter arbeiten gehe.

Aber ich will nicht klagen, denn ich bin froh, dass es endlich ein Ende hat mit dieser unglücksseligen Wohngemeinschaft, dem ständigen Streit über Reinigungspflichten, dem dauernd besetzten Lokus und dem gegenseitigen auf die Nerven gehen bei extrem hellhörigen Wänden.

Mit meiner ersten WG in der Schwedter Straße hier in Berlin, die wir damals Kommune nannten, hatte ich da mehr Glück, obwohl wir weitaus mehr Leute waren, die da zusammenlebten. Mit einem Trick gelang es uns damals, die gesamte obere Etage eines Hinterhauses anzumieten. Es war ein sehr heruntergekommenes Ding. Aber wir konnten mit der Argumentation überzeugen, dass wir alles selbst instand setzen und keine weiteren Ansprüche stellen würden. Als erstes machten wir dann die Wanddurchbrüche, so dass man komplett im Viereck gehen konnte. Ich erinnere mich heute noch gern an die vielen gemeinsamen Baustunden mit den auf abenteuerliche Weise beschafften Baumaterialien. Da waren wir unheimlich kreativ. Ich weiß nicht mehr, wie viele 'zig Stunden wir kostenlos leisteten, um es uns dort schön zu machen. Auch die vielen Feten, das gemeinsame Musizieren und Diskutieren haben uns fest zusammengebracht. Wir konnten uns einfach aufeinander verlassen.

Ich bedaure sehr, dass unsere von staatlicher Seite mit zunehmendem Argwohn betrachtete Gemeinschaft nach relativ kurzer Zeit auseinanderbrach. Es begann damit, dass von uns verlangt wurde, die Wanddurchbrüche wieder rückgängig zu machen. Ganz schnell machte sich das Misstrauen breit, dass uns einer aus den eigenen Reihen angeschwärzt haben könnte. Die Folge waren Grüppchenbildung und das sich Zurückziehen in die eigenen 4 Wände. Jede neue Partnerschaft schien willkommener Anlaß, das nun zu kleingewordene Domizil zu verlassen. So löste sich das Ganze nach und nach zwar friedlich, aber dennoch in Wohlgefallen auf.

Diesmal geht es nun nach Marzahn, was keineswegs mein Wunschstadtbezirk ist, im Gegenteil, habe regelrechte Horrorvorstellungen davon. Aber etwas anderes war auf die Schnelle trotz Wohnungsbauprogramm nicht zu kriegen. Und dann noch ein Hochhaus, da leben ca. 500 Menschen drin, das ist wie ein Dorf hochkant, schrecklich. Hat aber wenigstens etwas Komfort, warmes Wasser aus der Wand, Badewanne und Fernheizung.

Aber es ist nur eine 2-Raum-Wohnung, mehr steht mir nicht zu als Alleinstehender mit Kind. Wollte meinen neuen Schwärm, den Du ja auch schon kennenlerntest, nicht gleich heiraten nur um den Anspruch auf eine größere Wohnung zu erwerben.

Wenn ich da an Gunnars Zillebude in Prenzlauer Berg denke, ein Zimmer unterm Dach juchhe, in der so schon engen Küche die selbsteingebaute Duschkabine und das Schärfste, nur eine Toilette für alle 6 Mietparteien. Im Winter friert die regelmäßig ein. Da ziehe ich es dann doch vor, es mir hier in „Marzipan" vorerst gemütlich zu machen. Bleibe natürlich weiter auf der Suche nach etwas anderem, wenn auch wenig optimistisch.

Meine Bemühungen dahingehend hast Du ja miterlebt, wie ich abends nach dem langen Arbeitstag durch die Straßen von Mitte und Friedrichshain gezogen bin, um nach dunklen Fenstern ohne Gardinen Ausschau zu halten. Fündig geworden bin ich ja des öfteren, nur die zuständige Kommunale Wohnungsverwaltung behauptete jedes Mal, dass die Wohnung schon vergeben sei. Oft hatte ich das Gefühl, sie erst aufmerksam gemacht zu haben auf den Leerstand. Natürlich war es naheliegender, erst mal die zahlreichen Wohnungssuchenden im eigenen Stadtbezirk zu versorgen.

Das nächste Problem ist der Umzug selbst. Ich habe zwar eine private Umzugsfirma angesprochen, die das auch machen will, jedoch erachte ich es als nützlich, noch ein paar zusätzliche Hilfskräfte zur Seite zu haben, damit die Kosten nicht gar so explodieren. Es soll nämlich nach der tatsächlichen Zeit abgerechnet werden und so weiß ich nicht genau, was da alles auf mich zukommt. Zumal ich bei den Gesprächen in dieser Firma einen leicht halsabschneiderischen Zug zu bemerken glaubte.

Wie schön war es doch da bei meinem Umzug von Stavenhagen nach Berlin, 700 Mark Festpreis. Die Möbelpacker kamen von der Armee. Ich ging zuvor einfach zum zuständigen Kommandeur und bat um Unterstützung. Mit den 10 Soldaten war in zwei Stunden alles aufgeladen. Eine Bezahlung wollten sie nicht, nur ein Frühstück.

Ich bin dann sogar gleich mit dem Möbeltransport mitgefahren, was bei dem jetzigen Umzug nicht möglich ist. Daher bitte ich auch Deinen Bruder, Norman, mit seinem Auto hier zu sein, denn in meinem Bekanntenkreis haben nur ganz wenige Leute diesen „Luxus".

Ist nun doch etwas länger geworden mein Geschreibsel. Ich hoffe auf Deine Unterstützung und darauf, dass es mir gelingt, das alles schnell über die Bühne zu bekommen. Liebe Grüße Deine Ta.

  

6. Januar 1989 von Erika 

...

Schnell ein paar Zeilen vor Deinem Neujahrsbesuch zur Jahrestagung bei uns in Schwerin. Du kommst doch, wie jedes Jahr? Kannst auch gern wieder bei mir zu Hause übernachten, um der Flohkiste in dem miesen Hotel zu entgehen. Ich verstehe nicht, dass jetzt überall noch mehr gespart werden muss und die Bedingungen für die einzelnen Mitarbeiter immer schlechter werden. Aber bei mir wirst Du es gut haben und außerdem ist es so angenehm, sich mal mit einem intelligenten Menschen außerhalb des Protokolls über die Änderungen, die sich überall vollziehen und über die stärker werdende Unruhe zu unterhalten. Aber dazu lieber wenn wir uns sehen.

Eine Bitte habe ich noch, kannst Du mir wieder mehrere Tuben von der rötlichen Haartönung mitbringen? Nimm aber lieber die etwas teurere, bei der anderen werden die Haare jedes Mal haselnussbraun, obwohl Mahagoni draufsteht. Bei uns ist die ganz schwer zu bekommen, höchstens am Tage mal bei irgendeiner privaten Drogerie, aber da bin ich ja gewöhnlich auf Arbeit und abends ist dann alles schon leergefegt.

Schön wäre es auch, wenn Du uns noch mit ein paar Bananen erfreuen könntest. Ihr in der Hauptstadt seid doch damit besser versorgt, als wir hier in den ländlichen Gebieten. Wir hatten nicht mal zum letzten Weihnachten ausreichend davon und so haben wir allesamt einen richtigen Heißhunger darauf. ...

8. März 1989

Liebe Benita!

Zum Internationalen Frauentag, dem Feiertag aller fortschrittlichen Frauen, zu denen

ich uns beide durchaus zähle, sende ich Dir die besten Wünsche.

Olle Klara (Zetkin) hätte sicher ihre helle Freude, dass dieser Tag seit nun fast 80 Jahren diese Popularität hat.

Klaudius überraschte mich heute Morgen sogar mit einem wunderschönen Frühlingsstrauß. Der muß ein Verhältnis mit der Frau vom Blumenladen angefangen haben, um an so schöne Blumen heranzukommen. Ich selbst habe nicht mal mehr rote Nelken bekommen. Um den Charakter des Kampftages zu unterstreichen, wollte ich mir diese auf den Schreibtisch stellen. Statt dessen habe ich mir eine von denen zum Anstecken von „Kunstblume Sebnitz" an die Bluse geheftet und bin damit zur um 10 Uhr anberaumten Feierstunde gegangen.

Die vielen langen Reden über verfassungsmäßig garantierte gleiche Rechte und Pflichten von Mann und Frau in allen gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Bereichen und die Förderung der Frau besonders hinsichtlich der beruflichen Qualifizierung ... Das Palavern über die guten gesellschaftlichen Bedingungen zur vollen gleichberechtigten Entfaltung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten und all der Kram gingen mir beizeiten auf den Sender. Ich wollte einfach nur meine Prämie und ein Glas Sekt zum Anstoßen. Gearbeitet wurde nach der offiziellen Veranstaltung ohnehin nicht mehr. Aus den einzelnen Abteilungen drangen dann nur noch lauter Gesang, Gelächter und Geschnatter.

Mir gelang es, unter dem Vorwand der Unpässlichkeit, mich dem zu entziehen und statt dessen in der Exquisit-Abteilung des Kaufhauses am Hauptbahnhof mir das schon gestern ausgesuchte Kleid kaufen zu gehen. Eigentlich Wahnsinn, was das gekostet hat. Die ganze Prämie ist dafür drauf gegangen. Aber die Qualität scheint gut zu sein, Made in German Demokratie Republic.

Die durch mein vorzeitiges Entschwinden gewonnene Freizeit nutze ich nun zum Lesen, Briefeschreiben und Nachdenken.

Dabei geht mir, angeregt durch das Geschwafel von heute Vormittag, doch noch so einiges durch den Kopf.

Ich weiß ja nicht, wie Du als Philosophin dazu stehst, aber wenn wir uns so sicher sind, dass hierzulande alle Bedingungen für die Gleichberechtigung vorhanden sind, wozu brauchen wir dann eine Frauenorganisation mit diesem großen Apparat zur Durchsetzung dessen? Das riecht mir doch sehr nach Selbstbeweihräucherung.

Trotz der deklarierten politischen Gleichstellung gibt es nur eine einzige Frau als Ministerin und die ist auch noch die Ehefrau von unserem Oberindianer.

Genauso frage ich mich wiederholt, warum in so vielen Namen von gesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen Gesamtdeutschland vorkommt. Haben wir etwa den Anspruch, allen Deutschen unsere heroischen Ziele überzuhelfen?

Ich erinnere mich da nur an eine kürzliche Situation. Als ich in einem Dokument von der „innerdeutschen Grenze" schrieb, verlangte man von mir, dies durch die Formulierung „antifaschistischer Schutzwall" zu ersetzen. Als ich mich weigerte, kam es zu Aussprachen. In allen Versammlungen und Parteilehrjahren wurde dies zur Sprache gebracht und ausführlich diskutiert. Ich wurde sozusagen an den Pranger gestellt. Im Ergebnis erwartete man natürlich meine Bekehrung und räumte mir nachdrücklich die Möglichkeit ein, einen Diskussionsbeitrag zum Thema zu halten. Als auch das schief lief, wurde mir zunächst ein Parteiverfahren angedroht, später jedoch im Hinblick auf meine Jugend (für die war ich mit meinen Anfang Dreißig also noch jugendlich) Nachsicht geübt und lediglich nahegelegt, mich intensiver mit der deutschen Geschichte zu beschäftigen.

Nichts desto trotz wurde ich kurze Zeit später dafür auserkoren, gemeinsam mit einer Mitarbeiterin der Abteilung I Internationale Arbeit (kapitalistisches Ausland) eine Frauendelegation aus Westberlin zu begleiten und denen die Vorzüge des sozialistischen Systems zu erläutern. Wahrscheinlich war man der Meinung, dass die beste Heilung der Praxisschock sei.

Und das funktionierte tatsächlich. Als ich nämlich durch provokante Fragestellungen unser System angegriffen und in Zweifel gezogen sah, fühlte ich mich prompt zur Verteidigung all unserer Errungenschaften herausgefordert und hielt flammende Reden darüber, wie gut doch alles bei uns sei.

Die Wahrheit ist aber, dass mir immer mehr Zweifel kommen, ob das alles noch der richtige Weg ist. Es gibt inzwischen so viele, die mit ihren weißen Bändchen an der Antenne des Autos offen demonstrieren, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt haben und ich merke, wie mir immer weniger Argumente einfallen, diese Leute schlecht zu finden. Die sind doch eigentlich wie wir hier groß geworden, haben Arbeit, ein erträgliches Einkommen, eine bezahlbare Wohnung, preiswerte Grundnahrungsmittel und für öffentliche Verkehrsmittel bezahlen sie fast nix.

Eine Krankenschwester sagte mir dazu neulich, dass sie hier nur 400 bis 500 Mark verdient und im Westen für die gleiche Arbeit 1.900 bis 2.200 Westmark bekommt und das sie bei diesem Einkommen auch gern mehr für Miete etc. pp zahlen würde. Was soll man dagegenhalten? Ich habe zu wenige Informationen dazu, um das zu entkräften, weiß nicht mal, ob das stimmt.

Oder meine Tante, von der großzügig gewordenen Besuchsregelung profitierend, brachte sie nicht nur Modemagazine mit sondern auch Werbeblätter von Fleisch- und Wurstwaren. Auf denen standen annähernd die gleichen Preise in D-Mark wie an unseren Fleischständen in Ostmark.

Wenn ich daran denke, dass ich noch vor wenigen Jahren West- gegen Ostgeld 1:2 tauschen konnte, um mir ab und zu mal etwas im Intershop kaufen zu können, so müsste ich heute das Drei- bis Vierfache dafür hinlegen. Und die Leute machen das tatsächlich. Da müsste ich ja krank sein, da verzichte ich lieber auf den Topf Kalo-derma, die 8x4 Seife oder die Luftschokolade. Geh da schon gar nicht mehr rein, obwohl mir der typische Duft von dort noch immer irgendwie angenehm in der Nase hängt.

Es gibt so viele Themen, über die ich mich gern mal mit jemandem austauschen würde. Wann sehen wir uns mal wieder? Was hältst Du von einem Treff in der Mocca Milch Eisbar oder im Cafe Sybille, Karl-Marx-Allee? War doch immer ganz nett dort.

Ich mach' jetzt Schluss. Meine kleine Maus müsste jeden Moment von ihrer Sportgemeinschaft eintrudeln und freut sich sicher, mich ausnahmsweise schon mal so zeitig zu Hause vorzufinden.

Liebe Grüße von Ta.

14. April 1989 von Arnold

Grüß Dich, Schwesterherz!

Nun bin ich schon 22 Tage hier, habe aber erst jetzt Zeit, Euch zu schreiben und hoffe, Ihr seid mir nicht böse deswegen.

Ich bin nun also in Schneeberg gelandet bei der Waffengattung „Artillerie". Bis jetzt sind die Aufgaben nicht kompliziert, aber es wird schon noch schwerer, wie wir von den anderen erfuhren. Meine Vereidigung hatte ich schon vor einigen Tagen in Rodewisch.

Ich weiß gar nicht so richtig, was ich schreiben soll, denn über den Dienst hier darf ich nichts mitteilen und etwas anderes als diesen Dienst gibt es für mich im Moment nicht.

Das ist ja erst der Anfang und ich bin mir schon jetzt nicht mehr sicher, ob die Entscheidung, drei Jahre zur Armee zu gehen, richtig war. Das ist schon eine ziemlich lange Zeit. Andererseits hat man danach bessere Chancen in vielerlei Hinsicht, wie man uns sagte. Zum Beispiel wenn man studieren will, dann bekommt man eher einen Studienplatz in der Fachrichtung, die man auch will.

Nun denke ich selbst nicht gerade an ein Studium, müsste dazu ja auch erst noch auf der Volkshochschule mein Abitur nachholen. Aber die Möglichkeit steht auf jeden Fall offen.

Telefonisch erreichst Du mich im Übrigen nicht, wir sind hier ganz und gar von der Außenwelt abgeschnitten, musst also schreiben.

Mit einem Besuch bei Dir, den Du Dir verständlicherweise wieder mal wünschst, wird es in den nächsten 4 Wochen noch nichts, da komme ich nicht 'raus hier. Danach warte ich darauf, bis ein paar Leute, die zur gleichen Zeit frei bekommen wie ich, in Deine Richtung fahren, das ist dann billiger. Allerdings wird der Aufenthalt bei Dir recht kurz, weil mit „in Deine Richtung fahren" auch alle nach Prenzlau, Neubrandenburg und Rostock Reisenden gemeint sind. Rückzu wird dann wieder in umgekehrter Reihenfolge eingesammelt, so dass die am nördlichsten Aussteigenden den kürzesten Urlaub haben.

...

 

12. Mai 1989

Liebe Wanda!

Dein langer Brief liegt nun schon seit über zwei Wochen bei mir und ich komme erst jetzt dazu, Dir zu antworten.

Es waren zu viele Arbeits- und andere Dinge, die mich davon abhielten, gleich zu schreiben. Damit Du nicht gar so ärgerlich darüber bist, will ich Dir mal kurz meinen Tagesablauf schildern:

05:30 Aufstehen, Frühstück für die Peg machen und ihre Aufgaben in den Tagesplan schreiben (ich lasse sie schlafen bis 06:45, sie muss ja erst 07:30 in der Schule sein),

06:30 verlasse ich das Haus, um mit der S-Bahn von Springpfuhl nach Friedrichstraße zu fahren (1/4 Stunde Fußweg, damit ich nicht umsteigen muss und ein wenig lesen kann. Falls ich gerade mal kein Buch habe, lese ich für gewöhnlich bei anderen in der Zeitung mit, die jeder zweite aufgeschlagen hat und so erfahre ich rundum das Neueste aus der „Jungen Welt", der „Berliner Zeitung" oder dem „Neuen Deutschland"). Meistens bekomme ich hier keinen Sitzplatz mehr, weil so viele aus ihren „Arbeiterschließfächern" in die Stadt fahren. Ich frage mich immer wieder, wo all diese Menschen denn nur arbeiten, so übervoll ist das meistens. Noch schlimmer ist es, wenn dann mal eine S-Bahn ausfällt, was regelmäßig passiert, sobald die erste berühmt berüchtigte Schneeflocke quer auf der Schiene steht und das für den Winterdienst jedes Jahr so ganz und gar überraschend kommt. Damit die S-Bahnen nicht so gequetscht gefüllt sind, sollen von zentraler Stelle aus die Arbeitsbeginnzeiten gestaffelt festgelegt worden sein. Daran zweifle ich aber jeden Tag, wenn ich mich in das Gewühle stürze.

07:30 dann Beginn der Arbeit.

16:45 Ende des Arbeitstages. 1- bis 2-mal wöchentlich irgendwelche verordnete Weiterbildungen oder Versammlungen, gleich im Anschluß an die Arbeit oder nach kurzem Zwischenaufenthalt zu Hause zum Abendessen. Oder die angenehmeren Theater- und Konzertbesuche, 1- bis 2-mal monatlich. Dann ca. 22:30 wieder zu Hause.

Zwischendurch noch Einkaufen in der Konsum-Kaufhalle, die glücklicherweise ja nur 5 Minuten entfernt ist. Da habe ich übrigens vorgestern das von Dir gewünschte Spee gekörnt 2x, Weichspüler(Apfel), Duftkerzen und Kriepa Taschentücher gekauft, bringe ich Dir bei meinem nächsten Besuch nach Dresden mit.

Um mal kurz abzuschweifen, fällt mir doch beim Stichwort „Konsum" ein, dass eine Bekannte neulich erwähnte, dass auch ihr Nachbar, auf den sie ein Auge geworfen hat, wahrscheinlich in selbiger Einrichtung arbeite. Ich erwiderte daraufhin, dass das ja dann wohl nichts ist mit dem von ihr gewünschten reichen Märchenprinzen und so, denn ich kenne einige Verkäuferinnen von da und die klagen immer über ihr geringes Gehalt bei körperlich sehr schwerer Schufterei. Sie wiederum: Nein, ich meine doch bei der Stasi... Diese Bezeichnung hatte ich nun wirklich noch nicht im vorliegenden Zusammenhang gehört. Kanntest Du die schon? Bisher wusste ich nur bei VEB Horch und Guck, was gemeint ist.

Das ist also der normale Arbeitstag. Dazu kommen 1 bis 2 Tage wöchentlich für Dienstreisen, da sind die Arbeitstage dann deutlich länger, früh zum ersten Zug und abends, wenn nicht wegen Abendveranstaltungen mit Übernachtung, sehr spät zurück.

Im Moment bin ich für den Bezirk Schwerin zuständig, war in der letzten Woche in Hagenow und in dieser Woche in Güstrow.

Schade, dass ich nicht mehr für Dresden und Leipzig eingeteilt bin, da könnte ich wenigstens immer mal einen Kurzbesuch einschieben oder bei guter Planung sogar bei Euch übernachten und wir könnten uns einmal öfter sehen.

Ja und an den Wochenenden geht dann die Zeit für das Notorische drauf, Hausputz, gründlicheres Durchsehen der Schulangelegenheiten unseres Wildfangs und Aufenthalte an der frischen Luft in den Wäldern oder an den Seen rund um Berlin. Wenn nicht gerade, wie letzte Woche, ein Arbeitseinsatz im Rahmen des Programms „Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit!" ansteht. Von der DFD-Gruppe im Wohngebiet haben wir doch die Patenschaft über den Spielberg vor unserem Haus übernommen. Du glaubst gar nicht, wie schnell das Unkraut da immer nachwächst. Zum Glück ist da noch nicht so viel kaputt gegangen, wie auf anderen Spielplätzen. Wäre jammerschade, wenn diese einzigartigen Holzplastiken die Zeit nicht überdauerten. Sie stehen ja schon ziemlich lange. Du erinnerst Dich vielleicht, dass sie auf der 13. Kunstausstellung in Dresden seinerzeit vorgestellt wurden.

Unsere „Kleine" ist ja nun schon aus dem Spielplatzalter 'raus, trifft sich höchstens abends mal dort mit Kumpels zum Rauchen. Ja, Du hast richtig gelesen, sie raucht neuerdings heimlich. Anfangs hat sie sich rausgeredet wenn sie mit stinkenden Klamotten nach Hause kam, hätte sich bei Schulkameraden in der Wohnung aufgehalten, deren Eltern stark rauchten. Bis dann die Klassenlehrerin bei ihrem diesjährigen Hausbesuch darüber berichtete, dass sie schon mehrmals in den hinteren Ecken des Schulhofes mit einer Gruppe dabei erwischt worden sei.

Das ist zum Verzweifeln, und ich mache mir indirekt Vorwürfe, dass ich nur so wenig Zeit für sie habe. Aber was soll ich machen? In den Schulhort konnte sie ja nur bis zur 4. Klasse gehen und ist nun schon seit ein paar Jahren am Nachmittag sich vollkommen selbst überlassen. Da reichen auch die Sportgemeinschaft und die anderen Arbeitsgemeinschaften nicht aus, wenn zuhause kein Ansprechpartner da ist.

Aber was nützt das Jammern, anderen Eltern geht es doch ebenso, die meisten haben ja mindestens zwei Kinder und gehen auch voll arbeiten.

So, nun weißt Du Bescheid und bist hoffentlich etwas nachsichtig wegen der verzögerten Antwort.

Liebe Grüße von Ta.

 

 

8. September 1989 von Gundobert

 

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Bei uns gibt es wenig Neues zu berichten. Wir sind pflichtgemäß im Plangetriebe vereinnahmt und steuern unsere unbedeutenden Bewegungen bei.

Es bekäme uns sicher besser, anderes zu tun, aber man will ja nicht alles Gewohnte aufs Spiel setzen bei unsicherem Ausgang des Unterfangens.

...

 

 

28. September 1989 von Reimund

 

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Die herzlichsten Kurgrüße aus Reichenbach im Vogtland Euch allen. Das Kurprogramm hat mich schon voll im Griff. Der Aufenthalt ist angenehm und die Betreuung insgesamt sehr gut. Ich hätte gar nicht gedacht, dass bei so einer dreiwöchigen prophylaktischen Kur so viel im Programm steht, hatte mich eher auf einen entspannten Zusatzurlaub eingestellt.

Andererseits habe ich irgendwie eine unbestimmbare innere Unruhe und möchte eigentlich lieber zu Hause sein.

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20. Oktober 1989 von Judith

... nur ganz kurz ein Lebenszeichen, es geht ziemlich viel durcheinander, die gesellschaftlichen Ereignisse drängen massiv in unseren Alltag und stellen vieles in Frage.

Um Wandas Gesundheitszustand werde ich mich kümmern, sobald ich wieder zur Besinnung gekommen bin. Ich habe so viel um die Ohren.

Auf Gundobert kann ich im Moment nicht bauen, er ist viel dienstlich eingesetzt und seine Dissertation drängt jetzt.

Und ich selbst mitten in den Prüfungen, pauke wie verrückt. Strafrecht habe ich schon vermasselt, konnte mich einfach nicht konzentrieren, es strömt so viel Neues auf uns alle ein. So ist aus der Vorzensur 1 nur eine „gute" 3 geworden. Na, macht nichts, dafür habe ich meine Staatsrechtsprüfung mündlich mit „sehr gut" abgeschlossen.

Im September hatten wir noch ein schönes Erlebnis. Wir waren übers Wochenende mit unserer Seminargruppe in einer Jugendherberge. Bloß gut, dass dort im Ort keiner wusste, dass wir angehende Juristen sind. Unter bestimmten Voraussetzungen wird man eben wieder richtig kindisch. Nach den vielen Vorlesungen und Seminaren zum Strafrecht brauchten wir das einfach mal.

So stellten wir uns ausführlich der Frage, wann der Tatbestand des § 121 (Vergewaltigung) erfüllt ist und was ihn vom 122 unterscheidet. Kannst ihn Dir ja mal von Klaudius etwas näher erläutern lassen, am besten praktisch.

Neuigkeiten gibt es bezüglich eines bevorstehenden Wohnungswechsels bei Großmutti. Stell Dir vor, jetzt, nach 15 Jahren bekommt sie nun doch noch eine Wohnungszuweisung für einen altersgerechten Wohnraum. Wäre ja schön, wenn alles gut ginge und sie mit ihren 89 Jahren nach dem Wohnen zur Untermiete seit Kriegsende endlich eine eigene Wohnung beziehen könnte. Für das Feierabendheim fühlt sie sich noch nicht reif genug. Es ist sogar ganz in unserer Nähe, so dass ich mich gut um sie kümmern könnte. Wenn alles klar geht, ist der Umzug Anfang Dezember.

Ende dieses Monats wollten wir eigentlich nach Leningrad und Riga fahren, da der Sommerurlaub etwas mager ausgefallen war und freuten uns auch schon riesig. Aber angesichts der veränderten Situation erscheint uns das jetzt zu unsicher.

Wir hängen in jeder freien Minute vor der Glotze oder vorm Radio, sehen und hören uns an, was so alles in Bewegung geraten ist.

Lass uns in der nächsten Zeit lieber öfter mal miteinander telefonieren, weil so manche Botschaft schon wieder verfallen sein könnte, bevor ich sie aufgeschrieben habe. Oder besser noch, kommt doch bald mal zu einem persönlichen Schwätzchen zu uns.

...

 

 

28. Mai 1990 von Großmutti

 

...

Zu Deinem Geburtstag werde ich nicht zu Hause sein, um bei Dir anrufen zu können. Deshalb schreibe ich Dir. Es wird nämlich wieder eine dieser schönen Tagesfahrten von der Volkssolidarität sein, die mich diesmal in den Nationalpark Sächsische Schweiz, Elbsandsteingebirge und Lichtenhainer Wasserfall führt.

Ich liebe diese Ausflüge. Es ist alles so schön bequem, Abfahrt direkt vor unserem Haus und unterwegs kehren wir zum Mittagessen und Kaffeetrinken in nette Lokale ein. Da bekommt man auch mal etwas anderes zu essen geboten als mir sonst zur Auswahl steht.

Ich finde diese Gemeinschaftsverpflegung zwar gut, das erspart mir das mühselige Einkaufen und Kochen, was ich ja alles nur unter großen Erschwernissen noch selbst machen kann. Dennoch bin ich nicht ganz zufrieden, weil ich bei der Vorauswahl oft nicht weiß, was sich für ein Essen hinter den phantastischen Namen verbirgt. Können die uns alten Leutchen nicht deutsche Gerichte anbieten, wie wir es die ganzen Jahre gewohnt waren oder wenigstens genau aufschreiben, was da auf dem Teller liegen wird, damit einem die Entscheidung leichter fallt. Anfangs habe ich mir von den Kuchenfrauen immer übersetzen lassen, was sich dahinter verbirgt und in Abkürzung aufgeschrieben. Aber oft konnte ich dann selbst nicht mehr entschlüsseln, was es sein sollte und musste mich doch wieder überraschen lassen. Da stand dann auf meinem Notizzettel so etwas wie Zwiflei (Zwiebelfleisch) für Cäsarteller, Stekräubu (Steak mit Kräuterbutter) für Hot & Spicy, Kegu (Kesselgulasch) für Spezzantino Funghi, Ribra (Rinderbraten) für Tournedos Santa Lucia, Gemüei (Gemüseeintopf) für Minestrone, Schweschn (Schweineschnitzel) für Scaloppa usw. Abkürzungen wie Bugeka, Mirei oder Fint standen da auch noch ohne Erklärung.

Vielleicht denken die ja, dass ich auf diesem Wege auf meine alten Tage auch noch an andere Sprachen wie italienisch, französisch, griechisch oder chinesisch herangeführt werden sollte, damit meine kleinen grauen Zellen nicht zu schnell verkalken.

Ehrlich gesagt, ist mir das auch ein bisschen zuviel. Es ist ohnehin schwer, sich noch überall zurechtzufinden, von den enorm gestiegenen Preisen gar nicht zu sprechen.

Andererseits findet man bei Kleidung und allem, was im Haushalt so gebraucht wird eine viel größere Auswahl als vorher. Und von meiner geliebten Sarotti-Schokolade habe ich immer einen kleinen Vorrat zu Hause. Erinnert mich das doch an die Zeit, als ich für diese Firma gearbeitet habe. Nach 1945 bekam ich sogar das Angebot, mit der Firma nach Westdeutschland zu gehen. Aber ich hing zu sehr an meinem geliebten Dresden, hatte ich mich doch hier aus den Flammen gerettet und als Trümmerfrau beim Aufbau mitgeholfen. Nein, nein, so etwas verlasst man doch nicht einfach.

Bei uns wird neuerdings ab und zu ein Markt aufgebaut. Die Händler überschreien sich förmlich mit ihren Angeboten. Ich habe mir das vom Hausbalkon aus mal angesehen und geriet in Versuchung, auch etwas von den vielen tollen Angeboten zu kaufen. Einer schrie, dass man für 20 Mark fünf wirklich schöne Grünpflanzen haben könne und wenn dann einer gekauft hat, bekam er zusätzlich noch einen Blumentopf. Oder einer, der sich Käse-Paul nannte, packte fünf verschiedene Käsesorten für 10 Mark in eine Tute. Ein anderer wiederum schrie sich fast die Kehle aus dem Leib, um seine Parfümflaschchen und Rasierwasser loszuwerden. Aber letztlich habe ich dann doch auf das alles verzichtet, denn was soll ich damit anfangen? Für die vielen Grünpflanzen ist meine Ein-Raum.Wohnung zu klein, von zu viel Käse bekomme ich Kopfschmerzen und Rasierwasser brauche ich auch nicht. Aber es war ein recht munteres Spektakel. So etwas ähnliches kannte ich ja schon von ganz früher mal, kommt eben alles wieder.

Falls es mit der Rückkehr vom Ausflug nicht zu spät wird rufe ich vielleicht doch noch an. Das Telefon ist ja gleich unten im Hausflur neben den Briefkasten, ich muss also nicht noch mal raus. Ein Telefon in der Wohnung wäre natürlich schöner, konnte mich dann hinsetzen und wir konnten langer und ungestörter miteinander sprechen. Aber das werde ich wohl nicht mehr erleben.

 

22. Juni 1990 von Jane'

... danke für Deinen langen Brief, mochte auch gleich auf all Deine Fragen eingehen.

Du interessierst Dich dafür, wie es beruflich für mich weitergehen wird. ,Was weiß ich?', kann ich da nur sagen. Es geht mir so wie Dir; ich bewerbe mich in alle Richtungen und fühle mich dabei nicht an meinen Beruf als Chemikerin gebunden. Ich bin mit meinen 29 Jahren noch jung und wurde auch noch mal etwas ganz anderes machen. Es muss sich eben nur mit meinen beiden Kleinen vereinbaren lassen. Bei einigen Stellen, bei denen ich mich bisher bewarb, war allerdings genau das der Grund, weswegen ich nicht eingestellt wurde. Man machte auch gar kein Hehl daraus.

Aber ich habe den Mut noch nicht verloren und bin auch nicht gewillt, mich weit unter meinem Wert zu verkaufen.

Das mit dem Telegramm vom Bertelsmann Verlag als Einladung zum Vorstellungsgespräch klingt ja sehr vielversprechend und ich drücke Dir die Daumen, dass es diesmal klappt. Hoffentlich stellt sich's letztendlich nicht wieder als ein Vertreter- oder Verkäuferjob heraus, da scheint ja ganz besonders großer Bedarf zu sein. Oder wenn ich an das Cafe denke, welches laut Anzeige einen Manager männlich/weiblich suchte und eigentlich nur einen Eisverkäufer wollte.

Nein, so weit solltest Du Dich als Sozialwissenschaftlerin nicht herabbegeben.

Andererseits gibt es ja genügend Beispiele dafür, dass es gar nicht anders geht, wenn man eine Arbeit haben mochte. Denk doch nur an unseren Diplom-Juristen, der jetzt Hilfssozialarbeiter ist. Sein Studium nutzt ihm überhaupt nichts mehr und mit weit über 50 wird er auch nicht mehr umschwenken aufs bürgerliche Recht.

Wenn Du am 28. nach Nürnberg fliegst, wirst Du ja erfahren, ob sich aus der nebenberuflichen Sache eventuell auch eine Hauptbeschäftigung machen lasst. Ist dann nur die Frage, ob Du tatsächlich ganz und gar weggehen wurdest aus Berlin.

Dann schon doch lieber der Sprung in die Selbständigkeit.

Was ist eigentlich aus Deiner Idee mit dem Frauenreisebüro geworden? Oder scheiterte das ebenso wie mit dem Teeladen am fehlenden Grundkapital? Man musste einen reichen Westonkel haben oder wenigsten einen Menschen kennen, der so viel Vertrauen hat und mit einem Kredit aushilft.

Ich kenne nur zwei Leute in meinem doch sehr großen Bekannten- und Verwandtenkreis, die ihre bisherige Arbeit mit leicht geänderten Inhalten oder Schwerpunkten behalten haben. Alle anderen sind schon ohne Arbeit oder wissen genau, ab wann sie arbeitslos sein werden.

Solche Möglichkeiten wie den Keramik Workshop, wie wir ihn im vorigen Monat hatten, sind natürlich eine wunderbare Gelegenheit, um gerade in unserer Situation die Gedanken mal frei fließen zu lassen und sich mit altvertrauten Leuten offen darüber auszutauschen. Das wird ja heutzutage nicht mehr so gern gesehen, wenn man zu ehrlich ist. Man gibt sich lieber gestelzt und selbstgeschont und auf jeden Fall nicht zu viel von sich preis.

Zu oft habe ich in letzter Zeit schon die Erfahrung machen müssen, dass es die so genannten Schaumschläger deutlich leichter haben, ihr Fell zu Markte zu tragen. Ehrlich gesagt widert mich diese Oberflächlichkeit und Blenderei regelrecht an.

Bezüglich Deiner Frage nach einer Qualifizierung sieht es folgendermaßen aus: ich habe diverse Weiterbildungen absolviert, das waren meist Tagesseminare an den Wochenenden oder in den Abendstunden. Da gibt es ja eine ganze Menge von Managementschnellkursen über Computerlehrgänge bis zum Crashkurs „Wie mache ich mich selbständig?" Und die Orientierung ist nicht immer leicht.

Ich nehme, ebenso wie Du, alles mit, was ich an kostenloser Weiterbildung bekommen kann. Auch an einem Info-Abend zu Rechten und Pflichten eines Arbeitslosen habe ich schon teilgenommen. Nur die Bibliotheken habe ich noch nicht so durchstöbert, kannst mir ja bei Gelegenheit mal sagen, wie die einzelnen so sind. Die Amerika Gedenkbibliothek interessiert mich besonders und die scheinst Du ja schon in- und auswendig zu kennen.

Dafür war ich aber schon in diversen Museen, wo man mit dem Personalausweis der DDR zumeist noch kostenlos reinkommt. Das Museum für Verkehr und Technik hat uns am meisten begeistert, wir waren schon 3-mal dort. Besonders für die Kinder wurde da viel geboten.

Der Kurs an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst würde mich auch interessieren, kannst mir ja mal Bescheid geben, wann er genau startet und was an Kosten für Lehrmaterialien etc. aufzubringen wäre.

Ja, meine Fahrerlaubnis habe ich auch im vorigen Monat umgetauscht. Aber ein neues Auto steht noch nicht in Sicht. Wir müssen uns jetzt erst mal auf anderes konzentrieren, die Zeiten sind so unsicher, erst mal abwarten, was alles noch so kommt. In meinem Bekanntenkreis haben sich allerdings ganz viele Leute schon einen „Westschlitten" ausgesucht. Wir fahren jedenfalls vorerst weiter unseren Trabi, wie Du Deinen Skoda.

Laß uns trotz der Wirrnisse der Zeit weiter regelmäßig zur Keramik gehen, es ist immer so schön. Man fühlt sich irgendwie geborgen und es ist so angenehm mit der gemeinsamen abendlichen Tafel. Wenn all das jetzt auseinandergehen sollte, wäre das sehr bedauerlich und mir würde etwas ganz Wichtiges fehlen. Du denkst ja auch so, wie ich weiß.

Ein paar Tage noch, dann ist die Kontoumstellung. Für neue Versicherungen habe ich mich auch schon entschieden. Wir haben sogar einen Bausparvertrag abgeschlossen. Durch Ronalds neue Arbeit bei der Immobilienfirma tragen wir uns mit dem Gedanken, ein Häuschen am Stadtrand zu kaufen und auszubauen.

13. August 1991 von Wanda

... welch ein denkwürdiger Tag. Vor 30 Jahren wurde die Mauer errichtet und heute gibt es sie einfach nicht mehr. An den damaligen Tag selbst kann ich mich noch gut erinnern. Wir waren gerade in einem Ferienheim im Erzgebirge und ihr Kinder wart im Ferienlager. Als uns über das Radio die Nachricht von dem Ereignis erreichte, hat sich Arthuro umgehend mit seiner Arbeitsstelle, dem Rat des Kreises, in Verbindung gesetzt um zu erfragen, ob seine Anwesenheit in dieser außergewöhnlichen Situation dort erforderlich sei. So war das damals.

Von einem solchen Patriotismus habe ich '89 nichts mitbekommen. Im Gegenteil, es gab eine große Zurückhaltung. Hinsichtlich der Unterdrückung von Gewaltanwendung war das ja auch sehr gut so. Stell Dir vor, es wäre anders gekommen, einfach nicht auszudenken.

Ich muss gestehen, dass mich angesichts der wachsenden Massendemonstrationen vor unserem Haus eine große Angst erfasste, dass dies eskalieren könne und es zu einem Bürgerkrieg kommt. Ich hatte plötzlich Angst vor den Menschen, die uns Parolen wie „Weg vom Fenster, rauf auf die Straße" und anderes zuriefen. Es schien alles von dieser Woge erfasst. Es gab aber keine genauen Vorstellungen davon, wie es konkret weitergehen sollte.

Die Hauptstraße vor unserem Haus, die sonst nur 1. Mai Demonstrationen halb so großen Ausmaßes erlebt hatte, entwickelte sich plötzlich zum regelmäßigen Tummelplatz für Menschen unterschiedlichster Schichten und Alters mit scheinbar einem einzigen Anliegen; diese DDR grundlegend ändern zu wollen.

Ist schon merkwürdig, dass mir gerade heute, nach sehr langer Zeit, danach ist, wieder mal einen Brief zu schreiben. Eigentlich könnten wir ja alle glücklich und zufrieden sein; des Volkes Wille hat sich durchgesetzt, wir haben die D-Mark und viele andere Dinge und Möglichkeiten, von denen wir kaum zu träumen wagten.

Wir bemerken jedoch, dass es trotz aller Vorzüge auch eine ganze Menge Nachteile mit sich gebracht hat.

Henry hat sich z. B. sehr darüber erregt, dass seine Rente ab diesem Monat um 300 D-Mark gekürzt wurde. Angeblich wegen Überzahlung. Und das als Lehrer, wo er doch mit seinem Sonderversorgungssystem eigentlich Anspruch auf so genannte Intelligenz-Rente erworben hat, ebenso wie die Ärzte. Sein Widerspruch allein wird nichts nützen, da werden wir uns einen Rechtsanwalt nehmen müssen und das kostet...

Wir sind so froh, dass wir uns den ganzen Strapazen der Arbeitssuche, mit eventuell verbundenem Wohnungswechsel und der ständigen Angst, den endlich gefundenen Arbeitsplatz eventuell zu verlieren, nicht mehr stellen müssen. Uns plagen andere Sorgen. Wird es denn unseren Kindern gelingen, sich in der neuen Gesellschaftsordnung zurechtzufinden und durchzusetzen? Werden sie die immensen Kredite auch zurückzahlen können? Und vor allem, wie werden die Enkel durchkommen in den Wirren der Zeit ohne in Drogen oder andere Abhängigkeiten zu verfallen?

Wir haben doch im Vergleich dazu einen relativ sicheren Status. Auch wenn die Preise für das Notwendige noch steigen sollten, können wir das irgendwie verkraften. Allerdings haben wir schon ganz schön geschluckt, als uns die Mitteilung mit der Mieterhöhung auf 600 D-Mark erreichte. Das ist schon die zweite Erhöhung und die Rekonstruktion soll im nächsten Jahr noch einen Schritt weitergehen, heißt, noch einmal Mieterhöhung. Wenn ich daran zurückdenke, dass wir für die 75 qm nur 75 Mark der DDR zahlten und das fast 30 Jahre lang stabil, dann bekommt man doch schon das Grübeln.

...

30. Mai 1993 von Judith

... die Zeit der Telegramme ist ja nun vorbei, deshalb ein kurzer Brief zum Geburtstag, der zwangsläufig zu spät eintreffen wird. Dennoch alle guten Wünsche aus diesem Anlass und ein Zurechtfinden in diesem Irrgarten des jetzigen Lebens immerdar.

Bei uns ist wie immer Stress pur. Unsere neue Firma etabliert sich sehr gut am Bildungsmarkt hier in Sachsen. Während andere ähnlichgelagerte schon wieder pleite sind, boomt es bei uns noch mächtig und wir expandieren, haben kürzlich in Cottbus einen Ableger eröffnet und werden demnächst in Leipzig präsent sein. Vielleicht gehen wir auch noch nach Berlin. Da ist ganz viel Arbeit, wie sich denken lässt und wir wissen manchmal nicht, wo uns der Kopf steht. Falls Du also keine Arbeit finden solltest, kannst Du gern bei uns einsteigen.

Unser neues Haus können wir gar nicht richtig genießen, weil wir ständig auf Achse sind. Für die Anwerbung von Praktikumsplätzen für unsere Absolventen ist Gundobert ständig im Ausland. Das macht natürlich unsere Kurse für die Teilnehmer so begehrt und wir können uns kaum retten, so viele Bewerbungen und Zuteilungen vom Arbeitsamt erhalten wir. Ich decke zeitweilig alle Rechtsfächer ab. Dabei gab es große Probleme mit der Zulassung. Weil ich doch keine pädagogische Ausbildung habe, sollte ich als Juristin auch nicht Recht unterrichten dürfen. Auf der anderen Seite hatten wir ausgebildete Pädagogen, die hätten unterrichten dürfen, denen fehlte aber das Fachwissen. Wie G. es letztlich geschafft hat, das ad absurdum zu fuhren, weiß ich nicht, das Ergebnis ist jedenfalls, dass ich nun doch unterrichte.

Dabei hätte ich lieber in eigener Kanzlei gearbeitet, wo ich mir doch alles so schwer erkämpfen musste. Aber bei so einem großen Unternehmen muss man innerhalb der Familie zusammenhalten. Selbst für den Preis, dass wir seit der Gründung, bis auf die Ausnahme von ein paar Tagen, noch keinen Urlaub nehmen konnten.

Das Endstadium meines Studiums fiel ja in die Wendezeit. Es war also alles auf DDR-Recht ausgelegt. Ich musste mich vollkommen neu orientieren und habe nach zahlreichen Weiterbildungen schließlich meine 1. Staatsprüfung nach neuem Recht absolviert. Anschließend dann noch 2 1/2 Jahre Referendardienst. Mein Studium hat sich durch die Änderung des Staates genaugenommen um fast 3 Jahre verlängert.

 

 

20. September 1993 von Maggy

 

...

Du weißt ja, dass ich seit längerem gern einen anderen Weg zu meiner beruflichen Selbstverwirklichung gehen möchte. Immer in der zweiten Reihe mit Einschränkungen bezüglich der freien Entscheidung über Arbeitsinhalte und Schwerpunkte genügen mir seit langem nicht mehr. Mein ganzer beruflicher Werdegang, mein Studium und die Menschen, mit denen ich in Kontakt bin, waren und sind eher von freigeistlicher Natur. So dass ich mich der Herausforderung, selbst ein Museum zu übernehmen, gern stellen möchte.

Obwohl mir bewusst ist, dass die Zeiten, in denen die Museen als reines Kulturgut und als eindeutige Bildungsstätte betrachtet wurden, nun doch mehr und mehr der Praxis weichen, zu Event- und Ereignisstätten zu verkommen.

Der finanzielle Aspekt steht derartig im Vordergrund, dass ich demnächst ca. 80 Prozent meiner Arbeitszeit darauf werde verwenden müssen, Förder-, Sponsoren- und andere Gelder einzuwerben und für ein Museum atypische Veranstaltungen zu organisieren.

Das erfordert einen grundsätzlichen Einstellungswandel zur Thematik und ein Anfreunden mit den Spielarten des Marketing. Das fällt schwer, wie Du Dir sicher denken kannst. Für die geliebte wissenschaftliche Arbeit, die ich bisher immer als meinen eigentlichen beruflichen Auftrag gesehen habe, bleibt kaum Zeit.

Stattdessen kann es passieren, dass ich angesichts des immer mehr verknappten Personalbestandes auch schon mal den Eintritt selbst kassieren muss, um die Öffnung des Museums zu gewährleisten.

Solche Einsätze sind dann auch nicht als Überstunden abrechenbar, sie gehen ein in all die Aufwendungen, die zusätzlich zur eigentlichen Arbeitszeit und für das Funktionieren der Abläufe erforderlich sind.

Dazu kommen noch Fachtagungen, für die ich extra Urlaub nehme und ganz viel Organisatorisches. Sei es nun die Gestaltung einer Broschüre oder die Vorbereitung museumsfremder Leistungen, welche die Attraktivität der Einrichtung und somit die Besucherzahlen steigern sollen.

Mit meinen guten Ideen und den aufgebauten Verknüpfungen bin ich da relativ erfolgreich, spüre sogar so etwas wie Neid anderer Leiter von Einrichtungen und ertappe mich dabei, dass ich im Erfahrungsaustausch bewusst vorenthalte, was ich mir selbst sehr schwer erarbeiten musste.

Die Freizügigkeit, mit der wir Mittel und Methoden zu erfolgreicher Arbeit preisgaben, weicht immer mehr dem sich Abschotten und sich nicht in die so genannten Karten schauen lassen bis hin zum Gebrauch der sprichwörtlichen Ellenbogen. Ehrlich gesagt, fühle ich mich immer wieder unwohl dabei. Und in Selbstdarstellung bin ich immer noch nicht so trainiert.

Mit Unterstützung von ABM-Kräften oder Zivis konnte vieles realisiert werden, was sonst undenkbar gewesen wäre. Wir hatten da auch wirklich bisher immer Glück, es waren gute Leute, nur schade, dass kurz nachdem sie sich in ein bestimmtes Gebiet gut eingearbeitet hatten, ihre Zeit auch schon wieder um war. Aus Interesse an der Sache oder zur würdigen Beendung einer Angelegenheit haben sie dann oft ohne Bezahlung weitergemacht. Und für mich ging dann die Einarbeitung anderer Leute von Neuem los. Das kostet viel Zeit und manchmal auch Nerven. Ich halte zudem diesen ständigen Wechsel für äußerst ineffizient. Andererseits könnten wir die zusätzlichen Kräfte nicht bezahlen. Nicht zu vergessen die Sachmittel, die an so einer ABM-Stelle dranhängen. Natürlich verstehe ich, dass recht viele von den Arbeitslosen einmal in den „Genuss" einer Anstellung kommen sollen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Wie Du schreibst, hast Du nun, nach Deiner 120. Bewerbung (unglaublich), endlich einen Vertrag bekommen und dann auch noch in Deinem Fach. Da gratuliere ich schon mal. Das darauf Anstoßen legen wir vielleicht gleich mit meiner Wohnungseinweihung zusammen. Es ist schon ein Jammer, dass so wenig Zeit für Privates bleibt. Weißt Du noch, wieviel Zeit wir uns früher für Treffen, Theaterbesuche, gemeinsame Wanderungen oder Unterhaltungen über Bücher genommen haben? Lang, lang ist's her ...

Nochmal zurück zu Deinem neuen Job. Ich finde es schon sehr beeindruckend, dass die Dich aus 220 Bewerbern herausgefischt haben für die Begleitung des neuen Studienganges. Scheint ja eine interessante Aufgabe zu sein und eine echte Herausforderung, musst Du mir unbedingt mehr dazu erzählen.

Ich denke ohnehin, dass den sozialen Aufgaben immer mehr Bedeutung zukommen wird und glaube da einen Wandel festzustellen zur Verlagerung derartiger staatlicher Aufgaben auf Vereine und Organisationen. Auch die ehrenamtliche Arbeit wird wieder stärker in den Blickpunkt gerückt werden müssen.

Wenn das Projekt des Instituts, für welches Du jetzt arbeitest, 1996 voraussichtlich
beendet werden soll, wie geht es dann für Dich weiter, warten dann schon neue Aufgaben oder wird es so kommen, dass Du nur auf Basis von Honorar- oder Werkverträgen arbeitest? Das nimmt ja jetzt auch immer mehr zu. Aber bis dahin ist ja noch eine Weile Zeit und wie ich Dich kenne, wirst Du das schon gut organisieren....

12. November 1993

Liebe Maggy,

inzwischen habe ich mit dem Psychologiestudium an der Fernuniversität Hagen begonnen. Genau heißt es Psychologie und Soziale Verhaltenswissenschaften. Ist ähnlich gegliedert wie ein Fernstudium in der DDR. Ich muss zu einigen Präsenzseminaren in unterschiedliche Studienzentren fahren, z. B. nach Neuss. Nach bestimmten Studienabschnitten stehen Klausuren und mündliche Prüfungen an, zwischendurch natürlich Hausarbeiten. An Forschungskolloquien kann ich mir einige aussuchen die mich besonders interessieren. Ich habe mich zunächst für „Moralpsychologie" und „Soziale Interaktion und Kommunikation" eingetragen.

Das ganze Studium ist mit fachmentorieller Begleitung. Ich bekomme sogar einen Studientag pro Monat.

Du wirst Dich fragen, warum ich denn all diese Strapazen auf mich nehme, wo ich doch einen Beruf, ein abgeschlossenes Studium und diverse Anpassungsqualifizierungen in der Neuzeit habe?

Das ist ganz einfach: zum einen weiß ich nicht, was ich anfangen werde, wenn die jetzige Arbeit beendet ist und zum anderen bin ich der Überzeugung, dass fast jeder in diesem Land früher oder später mal eine „Psycho-Couche" brauchen wird.

Ich habe natürlich meine Fühler in alle möglichen Richtungen ausgestreckt. Bin in ein Osteuropa-Projekt integriert - Ausgang jedoch unklar. Des weiteren engagiere ich mich im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerkes für den Austausch über Methoden in der Sozialarbeit. Und die Zukunftswerkstatt, bei der ich gleich nach der Wende zum ,Sozialmanager' gemacht wurde, ruft gelegentlich an wegen der Gestaltung von Einzelseminaren. Aber das sind alles Dinge, die irgendwann vorbei sein werden und man hat dann eine Menge mehr Erfahrung, aber eben keinen Abschluss.

Deshalb büffle ich jetzt viel abends und nachts oder an den Wochenenden, habe also wenig Zeit, da mich die Arbeit auch ganz schön in Anspruch nimmt. An den meisten Tagen bin ich 10 Stunden im Institut, manchmal auch länger. Das ist auch bei mir alles in der guten Bezahlung enthalten.

15. September 1994 von Rica

... will Dir nur kurz mitteilen, dass ich gut zu Hause angekommen bin. Es war wieder wunderschön bei Dir in Berlin. Nur eine Begebenheit trübt mir die angenehmen Erinnerungen ein wenig und ich bin noch jetzt ganz aufgeregt darüber.

Auf dem Bahnhof, wahrscheinlich beim Einsteigen in den Zug, wurde mir meine Brieftasche mit allen Papieren und Kreditkarten entwendet. Dummerweise hatte ich auch noch meine Geheimzahlen, verschlüsselt zwar, aber eben genau in dieser Brieftasche. Bin sofort zur Polizei nach meiner Rückkehr, habe auch gleich die Konten sperren lassen, dennoch waren inzwischen schon 1 000 Mark abgehoben. Nun noch der ganze Trubel mit den Neubeantragungen.

Dabei hätte ich wirklich vorsichtiger sein müssen, da mir schon mal auf einem Markt das Portemonnaie geklaut wurde. Na ja, die große Freiheit schleust eben auch solch ein Gesockse mit ein.

Überhaupt muss man jetzt mehr denn je gegen alles und jeden misstrauisch sein. Als ich neulich tagsüber zu Hause war, klingelte es bei mir. Vor der Tür stand ein junger Mann, so in Susis Alter, stellte sich freundlich vor und als sein Anliegen schilderte er mir, wie schwer es ihn seit der Wende getroffen hat, dass er immer wieder Pech hatte und oft reingelegt wurde und er wolle jetzt als letzte Chance Zeitungsabonnements verkaufen. Ich sei seine erste Kundin. Er hatte mir seinen Abstieg so plastisch geschildert, dass mich doch sofort das Mitleid packte und ich gleich 3 Zeitschriften abonnierte, die ich eigentlich gar nicht brauchte. Einige Zeit später erfuhr ich dann von einer Frau aus dem Nachbarhaus, dass es ihr genauso ergangen war und wollte alles rückgängig machen. Das ging aber nicht mehr, da die Frist verstrichen war. Nun muss ich das ein Jahr lang beziehen. Hoffentlich verpasse ich die rechtzeitige Kündigungsfrist von einem Vierteljahr nicht, sonst läuft das immer um ein Jahr weiter.

Bei der Dame, die seinerzeit vor meiner Tür stand und sagte ,Guten Tag, Frau Vollrath, ich bin Ihre neue AVON-Beraterin' habe ich da besser reagiert, indem ich sie gleich abwimmelte.

Und von dem Staubsaugervertreter habe ich mir erst mal die ganze Wohnung reinigen lassen, als Vorführung versteht sich. Und dann doch keinen gekauft. Der war vielleicht sauer, sage ich Dir.

 

 

5. Mai 1995 von Eva

 

...

Ab Ende des Monats werde ich wieder für einige Wochen in Deutschland sein. Ich hoffe, wir sehen uns mal.

Der Anlass ist jedoch ein recht trauriger. Mein Vater hatte einen Schlaganfall und liegt jetzt zu Hause. Er hat sich immer über alles so erregt, was sich bei Euch in Deutschland abspielt, wahrscheinlich war das bei seinem hohen Blutdruck auch die Ursache. Er war nun wirklich kein Kommunist oder Ausländerhasser. Aber wenn ich ihn manchmal reden hörte, konnte man durchaus denken, dass er beides wäre.

Wenn ich hier aus dem Ausland auf Deutschland schaue, dann muss ich sagen, dass die sozialen Bedingungen im Vergleich doch sehr gut sind. Schon allein die Versorgung meines Vaters seit er wieder zu Hause ist. Man hat ihm ein hochmodernes Pflegebett aufgestellt, er hat einen Zimmerrollstuhl, einen Badewannenlift und viele andere Hilfsmittel, die eine Betreuung zu Hause doch recht einfach machen. Hier in den Staaten müsste man für derartiges extra und viel Geld bezahlen.

Überhaupt finde ich, dass insbesondere im Osten die Unzufriedenheit recht groß ist. Bei meinen Besuchen in den vergangenen Jahren stellte ich immer wieder fest, dass unter Marktwirtschaft offenbar nur das gewaltige Anziehen der Preise verstanden wurde, ein wirklich guter Service sich jedoch nicht unbedingt dahinter verbarg. Auch machen die Menschen oft ein unfreundliches Gesicht. Es ist einfach die ganze Atmosphäre im Land. Im Osten sind sie wütend auf den Westen, weil ihnen alles übergestülpt wurde und ihnen die Identität verloren scheint und im Westen sind sie wütend auf den Osten, weil sie ihnen so viele Gelder für den Aufbau Ost beisteuern müssen.

Wenn das so weitergeht, wird die Mauer in den Köpfen eher noch stabiler, statt dass ein wirklich einheitliches Deutschland zustande kommt.

...

 

 

10. September 1995 von Martin

 

...

Du wirst erstaunt sein, nach so langer Zeit wieder einmal Post von mir zu erhalten. Ich hoffe aber auf Dein Verständnis, weil mir einfach kaum Zeit bleibt.

Seit ich Unternehmer bin, und das ist nun schon eine ganze Anzahl von Jahren, brauche ich die wenige Freizeit tatsachlich für meine eigene Reproduktion.

Der aktuelle Stand ist inzwischen so, dass es mir endlich gelungen ist, aus meinen einst 10 Prozent Anteilen am Unternehmen nun 100 Prozent zu machen. Ich will Dir hier nicht genau schildern, wie dieses Ding der Unmöglichkeit doch möglich wurde. Es war jedenfalls ein sehr harter Kampf. Aber mit guter anwaltlicher Hilfe habe ich es geschafft, diesen ,Glücksritter' Borch aus dem Westen dazu zu bringen, mir die Firma zu überlassen. Kannst Du Dir vorstellen, dass dieser Typ zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal seine Anteile eingezahlt hatte? Vor uns hat er jedoch immer ganz große Reden geschwungen und uns für unfähig erklärt, so ein Unternehmen zu leiten.

Na, das Thema ist durch. Inzwischen haben wir mit hohen Krediten ein komplett neues Gebäude gebaut. Aber es ist tatsachlich nicht einfach, die Prozesse immer am Laufen zu halten. Ich stehe ständig unter Druck, neue Auftrage an Land zu ziehen und ein Netzwerk zu knüpfen.

Natürlich bin ich in der Zwischenzeit auch zu etwas Wohlstand gekommen, aber auf den Lorbeeren ausruhen ist nicht. Ich muß immer auf Trapp sein, bei Strafe meines Untergangs sozusagen.

Es ist ein ständiges Auf und Ab. Nachdem ich anfänglich 85 Menschen einen Arbeitsplatz einrichten konnte, sind wir im Moment gerade mal bei 50. Wir mussten also auch ‚verschlanken', wie es neudeutsch so schon heißt. Das mit den Entlassungen ist mir verdammt schwer gefallen. Da hat mein soziales Gewissen mächtig geschlagen, kennst mich ja. Aber letztlich musste ich es tun, sonst wäre ich untergegangen und das hatte ja keinem von uns etwas genutzt. Wenn die Firma den Bach runter gehen sollte, musste ich mich selbst auch beim Sozialamt anstellen.

Der Vorteil ist, dass wir mit einer ganzen Anzahl neuartiger Angebote auf den Markt gegangen sind. Wir haben so genannte Lucken gefüllt und sind ziemlich erfolgreich damit. Das bedeutet aber nicht, dass das auch in den kommenden Jahren so sein wird. Eine gewisse Unsicherheit ist immer präsent.

Ich hätte zu DDR Zeiten nicht für möglich gehalten, dass ich einmal einen solchen Weg einschlagen werde. Aber alles in allem hat sich für mich nur Positives ergeben und ich bin froh, dass es so gekommen ist.


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