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Schritt ins Ungewisse

 Mein Weg in die Deutsche Demokratische Republik führte über das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges an der Ostfront und bei der Ardennenoffensive sowie die Kriegsgefangenschaft bei der US-Army.

Am 4. Dezember 1942 wurde ich eingezogen, neunzehn Jahre alt. Meine Kriegsgefangenschaft in Frankreich dauerte vom 18. April 1945 bis 4. November 1946. Ich ließ mich nach Wiesbaden entlassen und wohnte dort bei einem Unteroffizier unserer ehemaligen Batterie. Ich hatte ihr zuletzt als Leutnant und Zugführer angehört.

Mein Heimatort, die Lutherstadt Eisleben, lag in der Sowjetischen Besatzungszone, und die Rückkehr dorthin konnte für einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier gefährlich werden. Trotzdem wollte ich nach Hause zurück und hoffte, dort die letzten Jahre leichter beiseite schieben zu können. Verdrängen wollte ich die Erinnerung an blutige Gefechte mit angreifenden Rotarmisten im Dnjeprbogen und Schwarzamerikanern während der Ardennenoffensive. Dabei hatte ich als vorgeschobener Beobachter erfahren, was es hieß, für „Führer, Volk und Vaterland“ Menschen töten zu müssen. Danach mußte ich im US-Army-Lager von Remagen sechs Wochen lang erleben, wie Ruhr und Typhus unter den Gefangenen wüteten. Später - im Offiziersgefangenenlager von Attichy - stand ich dabei, wenn sich die Herren Hauptleute und Majore auf die Essenkübel stürzten, um auch noch eine Fleischfaser oder einige Sauerkrautfäden zu erwischen. Ihr Verhalten war beschämend. Ich selbst wurde bis August 1945 bei einer Körpergröße von 1,76 m auf etwa 60 Kilo „herunter-ernährt“. Als mich ein Captain fragte, ob ich in ein Arbeitslager umziehen wolle, sagte ich sofort zu. Andere junge Offiziere taten das ebenfalls.

Man konnte sich auch in Wiesbaden irgendwie einrichten. Ich war als Zivilarbeiter bei der US-Army angestellt und fuhr einen Fünftonner. Aber zu Hause wäre ich bei meiner Familie gewesen, hätte mit Freunden sprechen können, früheren Mannschaftskameraden aus der Fußballjugend, den Nachbarn - eben mit vertrauten Menschen. Ich wollte auch das Mansfelder Land wieder erleben: seine Schlackenhalden, den flammendroten Nachthimmel, wenn die Kochhütte glühende Schlacke löschte, auf Halde kippte; und die Schächte, den Wolfsschacht vor allem, wo ich in den großen Ferien 1938 als Treckejunge unter Tage gearbeitet hatte. Das alles wollte ich wiedersehen.

Doch der Weg nach Hause barg viele Ungewißheiten und mußte deshalb gut vorbereitet werden. Über die sowjetische Wirklichkeit hatte unsere Generation durch die Nazipropaganda nur erfahren, daß sie durch den Typ des „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ beherrscht werde, dessen verzerrte Plakatfratze mit dem Dolch zwischen den Zähnen uns das Fürchten lehrte. Inzwischen war ich allerdings in den Dörfern am Dnjeprufer mit anderen Menschen zusammengetroffen, kannte auch die zerstörten Städte Odessa, Nikolajew, Kriwoi-Rog und deren Einwohner. Schon diese Eindrücke paßten nicht so recht in das faschistische Gruselbild.

Und nun bekam ich auch fünf Monate lang direkte Informationen aus Eisleben: Abgesehen von Versorgungsschwierigkeiten und der anhaltenden Trauer über die vielen Kriegstoten verliefe das Leben normal. Inzwischen sollten auch schon drei oder vier ehemalige Wehrmachtoffiziere wieder in der Stadt leben. Vater hatte bei der Finanzrevision des Landratsamtes einen Arbeitsplatz gefunden, meine Schwester war Schülerin einer 11. Klasse. Es wurde intensiv Sport getrieben - natürlich auch Fußball im alten Verein. Im April 1945 hatte sich Eisleben einen Oberbürgermeister gegeben, der Kommunist war und die Amerikaner bei ihrem Einmarsch begrüßte. Allerdings war er von den Siegern danach schnell abgeschoben worden. Mit diesem Mann hatte ich bei Rot-Sport 1932 gemeinsam den Fußball getreten, obwohl er zehn oder zwölf Jahre älter war als ich.

Von der Roten Armee spürte meine Familie nichts. Im April 1945 war das anders gewesen. GI’s klauten erst das Klavier meiner Mutter, zerschlugen danach ein Motorrad NSU-D und nahmen eine handgeschnitzte Truhe mit - das Gesellenstück eines engen Freundes der Familie. Als später die Rote Armee mit ihrem Panjewagen-Troß einzog, wurden solche Dinge zumindest in Eisleben nicht mehr bekannt. In Eilenburg - dem Heimatort meiner Frau - hatten allerdings auch die Sieger mit dem roten Stern gestohlen, und zwar meist Fahrräder. (Das erfuhr ich aber erst später.)

Nach diesen beruhigenden Informationen setzte ich mich Anfang April 1947 in Marsch. Mein ganzes Gepäck bestand aus einem Rucksack mit Verpflegung. Vorsichtshalber borgte ich von meinem Quartiergeber einen auf ihn ausgestellten Paß. Später verwendete ich ihn jedoch nicht. Ob ich bei den Roten bleiben würde, stand für mich zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht fest. Aber vielleicht kassierten sie mich auch gleich.

In der Nacht zum 12. April schlich ich unweit von Ellrich gemeinsam mit einigen anderen über die Demarkationslinie. Allerdings wurden wir von einer sowjetischen Streife aufgegriffen, in einem Gebäude „gefilzt“ und in einen ziemlich großen Raum gesperrt. Dort saßen schon ein paar Grenzgänger. Am nächsten Morgen bekamen wir - nein, kein Frühstück - sondern einige Äxte und Tragekörbe in die Hände gedrückt, wurden zu einem riesigen Holzstapel geführt und mußten bis zum Abend Brennholz hacken. Danach ließ man uns frei. Ich übernachtete in einer Scheune, fuhr morgens per Anhalter zunächst bis Sangerhausen und anschließend auf einem offenen LKW in Richtung Eisleben. Vor der Stadt war alles, wie ich es in Erinnerung hatte: die Krughütte, der kleine Viadukt und die Halden. Nur mitten in der Stadt stand plötzlich ein Lenindenkmal. Als ich Vater später danach fragte, erfuhr ich seine Geschichte.1 Aber erst einmal klingelte ich zu Hause und stand meiner völlig perplexen Mutter gegenüber. Auf den ersten Blick erkannte sie mich gar nicht, weil ich so „abgekommen“ aussah. Wem dieses Wort der Jägersprache zur Kurzcharakteristik meines Äußeren nicht genügt: Ich war nicht nur unrasiert und abgemagert, sondern trug zu Zivilhose, Knobelbechern und ausgebleichter Schirmmütze eine arg verschlissene Mannschaftsjacke, dazu eine der scheußlichen Gasmaskenbrillen.

Danach war ich zwar endlich zu Hause - aber was mich erwartete, wußte ich immer noch nicht. Abends tagte der Familienrat und beschloß, daß ich die Wohnung zunächst nicht verlassen solle. Nach drei Wochen hatte ich es allerdings satt, meldete mich polizeilich an, und es gab dabei auch keinerlei Schwierigkeiten. Im Büro der Entnazifizierungskommission erhielt ich das erforderliche Formular von einer jungen Frau, die mich mit meinem Namen ansprach und sich als Schwester eines ehemaligen Klassenkameraden erwies. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß von uns vierundzwanzig Schülern nur fünf den Krieg überlebt hatten, mich mitgerechnet.

Anschließend ging ich zur sowjetischen Stadtkommandantur, wo sich ehemalige Offiziere zu melden hatten. Dort teilte man mir mit, ich solle in einer Woche wiederkommen. „Na, denn man tau“, dachte ich, und die folgende Woche erschien mir sehr, sehr lang. Auch einen Ausbildungsplatz als Elektriker suchte ich in jenen Tagen vergebens.

Und dann stand ich vor dem Roten Kommandanten! Er bemerkte meine Erregung und bot mir höflich, fast freundlich, einen Stuhl an. Sein Dolmetscher saß an der Schmalseite des Tisches. Zuvor hatte ich nur in Erfahrung bringen können, daß der Kommandant Oberstleutnant sei. Er mußte etwa 40 oder 45 Jahre alt sein, wirkte robust und war nicht einmal mittelgroß. Unser Gespräch dauerte etwa 30 Minuten, währenddessen der Dolmetscher fleißig meine Antworten notierte. Hauptthema war, mit welcher Einheit und an welchen Frontabschnitten ich in der Sowjetunion gewesen sei - genau mit Namen und Zeitpunkt. Schließlich die offenbar wichtigste Frage: was mich aus der amerikanischen in die sowjetische Besatzungszone geführt habe. Zwischendurch blickte mein Gegenüber immer wieder auf ein eng beschriebenes Papier, das vermutlich von der Entnazifizierungskommission stammte. Danach brachte mich ein Wachsoldat mit übergehängter MPi für diesmal auf die Straße.

Nach jenem ersten Gespräch fühlte ich mich sehr erleichtert, obwohl es nicht das letzte sein sollte. Aber ich hatte ein gutes Gefühl und sah mich nicht mehr gefährdet, da auch meine Entnazifizierung glatt verlief. Die nachfolgenden Aussprachen beim Kommandanten waren meist sehr kurz und bewegten sich sowohl um politische als auch persönliche Probleme. Bereits im zweiten Gespräch fragte der Oberstleutnant beispielsweise, ob ich einen Arbeitsplatz hätte und nickte zufrieden bei meiner Mitteilung, daß ich inzwischen in der Rechtsstelle des Landratsamtes angestellt sei. Trotzdem geriet ich in Verwirrung, als mir ein anonymer Briefeschreiber mitteilte, daß meine Verhaftung unmittelbar bevorstehe. Sicherheitshalber fuhr ich für einige Tage nach Halle zu Verwandten und wartete. Als nichts geschah, kehrte ich nach Eisleben zurück und berichtete beim nächsten Mal dem Kommandanten davon. Dieser meinte allerdings zu Recht, daß es für ihn doch jedenfalls leichter wäre, mich in der Kommandantur festzunehmen; sofern das beabsichtigt sei. - Ich erinnere mich nicht genau, nach dem wievielten meiner Rapporte schließlich unerwartet eine Flasche Wodka und drei Gläser auf dem Schreibtisch des Kommandanten standen. Jedenfalls schenkte der Dolmetscher „STO-Gramm“2 ein und der Oberstleutnant forderte mich auf, „Ex“ zu trinken, da ich nun zum letzten Mal bei ihm sei. Dies tat ich natürlich sehr gern. Später sah ich den Kommandanten gelegentlich mit anderen sowjetischen Offizieren als Zuschauer auf dem Fußballplatz.

Ziemlich enge Kontakte bekamen mein Vater und ich zu anderen Rotarmisten beim Angeln. Zur Aufbesserung unseres Tisches saßen wir beide jede Woche am Süßen See auf Aal, Schlei, Karpfen, Rotfeder und Hecht. Oft hatten wir dabei Soldatenbesuch und wurden um Fisch gebeten, für den wir Butter und Speck erhielten. So war beiden Seiten geholfen, zumal für die geliebte Tabakspfeife meines alten Herren noch manche Tüte Machorka abfiel.

Alles in allem entwickelten sich meine Beziehungen zu den Sowjets also in völlig unerwarteter Weise. Es war dann wohl schon Ende 1947, als in unserem Landkreis Mangel an Saatkartoffeln herrschte. Ich erhielt den Auftrag, die fehlende Menge gemeinsam mit einem sowjetischen Hauptmann in Prenzlau aufzutreiben. Ein Opel P 4 brachte uns hin, und binnen einer Woche hatten wir den Auftrag erfüllt. Der Hauptmann entpuppte sich als gelernter Agraringenieur und umgänglicher Mensch, obwohl er jeden Abend seine Pistole unters Kopfkissen schob. Da er auch ein wenig Deutsch radebrechte, kamen wir recht und schlecht über die Runden. Wenn wir bei Bauern zu Mittag aßen, zahlte er großzügig den Preis und spendierte auch mal eine Flasche Soldatenwodka aus dem „Magasin“. Einmal schenkte er einem kleinen Jungen einen Pullover, auch von dort. Leider verloren wir uns nach dem Ende unseres erfolgreichen Einsatzes aus den Augen.

Als im Jahre 1949 die Verwaltung verkleinert wurde, ging ich wieder auf Arbeitsuche und fand in der „Fußballwoche“ eine Annonce. Da wurde für das Landambulatorium Lenzen/Elbe ein Verwaltungsleiter gesucht, der auch Fußball spielen konnte. Nun hatte ich bereits als Achtzehnjähriger einer Gauligamannschaft angehört und galt in Eisleben als torsicherer Allrounder auf dem Platz. Also bewarb ich mich und gefiel dem Vereinsvorsitzenden beim Vorspielen unter drei Bewerbern am besten. Er war gleichzeitig Chefarzt des Landambulatoriums.

Danach legte ich mich richtig ins Zeug - in der Arbeit und im Fußball. Bereits im folgenden Jahr stiegen wir auf, waren „dicke da“ - und die Bauern der Stadt versorgten uns nun noch besser mit Hausgeschlachtetem als vorher. Die BSG3 „Traktor“ wurde gegründet und ich zum Vorsitzenden gewählt. Der Chefarzt war inzwischen auf die andere Seite der Elbe „ausgewandert“, aber wir hielten die Stellung und fühlten uns als Aushängeschild der Stadt. Von Lenzen aus bewarb ich mich schließlich in Halle zum Studium, hier wurde ich Mitglied der SED und hier erlebte ich die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Aber war ich deshalb schon in ihr angekommen? Nein, das vollzog sich erst während meines Studiums an der Philosophischen Fakultät der Universität Halle in den Jahren 1950 bis 1954.

 

                                                                                           Wolfgang Ahrens


1 Dieses Bronzestandbild wurde von den Nazis aus Puschkino bei Leningrad nach Eisleben zum Einschmelzen verschleppt, verschwand aber statt dessen unter Mithilfe der Hüttenmänner in einem riesigen Schrottberg. Nachdem mutige Hitlergegner die Stadt am 18. April 1945 selbständig vom Faschismus befreit hatten, wurde das Denkmal unversehrt geborgen, im Zentrum (auf dem früheren „Schlageter-Plan“) aufgestellt und den Bürgern der Lutherstadt Eisleben am 1. Mai 1948 von der sowjetischen Regierung geschenkt. - Seine 1991 erfolgte Demontage geht auf einen Beschluß der Stadtverordnetenversammlung zurück. Nach einer Zwischenstation im Deutschen Historischen Museum Berlin soll es sich nunmehr in Privatbesitz befinden.

2 100 g

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