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Erfahrungen zwischen Malin und Renzow

 Also, es war im Winter 1945/46 in Malin (Ukraine). Den genauen Tag und Monat weiß ich nicht mehr. Auf alle Fälle war es ein Sonntag.

Draußen muß es ganz schön kalt gewesen sein, der Schnee knirschte unter den Stiefeln, die Posten trampelten vor Kälte auf der Stelle. Hinter Mauervorsprüngen des ehemaligen Kulturhauses, das nun als Kriegsgefangenenlager diente, versammelten sich kleine Gruppen hungriger Gefangener, die ständig Augenkontakt mit dem Lagertor hatten. Dort trafen allmählich immer mehr Zivilisten (meistens Frauen) ein und diskutierten mit der Wache. Nach einiger Zeit trat ein Posten vor das Lagertor und machte eine einladende Handbewegung. Wie ein Schwarm Krähen stürzten von allen Seiten die lauernden Männer hervor und stellten sich ohne Kommando in Doppelreihe vor dem Tor auf. Es wurde geöffnet, die Wache zählte ab, und so stampften wir nach draußen. Ich hatte Glück, denn bald nach meinem Nebenmann und mir wurde die Schlange „abgeschnitten“. Der Rest mußte auf den nächsten Sonntag warten.

Begleitet von den Zivilisten, führten uns die Posten in die Stadt. An Ort und Stelle gaben sie ihnen und den nächsten Gefangenen jeweils einen Wink. Wir beide kamen in das Hospital von Malin. Die oberen Stockwerke waren noch zerstört, das Erdgeschoß war benutzbar gemacht worden. Zwei weißgekleidete junge Krankenschwestern führten uns in den Keller. Der war voller Holz. Alles schon gesägt, es mußte nur zerkleinert werden. Und das roch gut - gut nach Kiefernholz. Wir wollten uns gleich an die Arbeit machen - aber nichts dergleichen. Statt dessen mußten wir uns auf einen Holzberg setzen; die Schwestern standen meist vor uns, lösten sich manchmal ab, eine dritte im Pelzmantel kam noch hinzu.

Und dann haben wir von früh bis zum Dunkelwerden diskutiert, gegessen, getrunken, wieder diskutiert - und kein einziges Stück Holz gespalten. Sooft wir Bedenken wegen der mitgekommenen Posten äußerten, beruhigten uns die Schwestern damit, daß diese etwas zu essen hätten und deshalb friedlich wären; denn ihnen ginge es ja auch nicht viel besser als uns.

Die Schwestern fragten uns nach Alter, Herkunft und früheren Lebensverhältnissen. Sie betrachteten sehr interessiert meine Familienfotos, die ich damals noch besaß; und wollten dann wissen, warum wir in den Krieg gezogen seien. Das war die schwerste Frage, und wir mußten zugeben, daß wir darauf keine Antwort finden konnten. Wir haben uns maßlos vor den jungen Frauen geschämt. Danach erzählten sie auch von ihren Schicksalen. Die zwei Schwestern in Weiß hatten „Glück“ gehabt, da sie noch rechtzeitig vor den anrückenden Deutschen evakuiert werden konnten. Die Familie der Schwester im Pelzmantel war auf grauenhafte Weise umgebracht worden. Nur sie allein hatte fliehen und ihr Leben retten können.

Sehr lange diskutierten wir über die Frage, wie es zwischen der Sowjetunion und Deutschland, zwischen Sowjetbürgern und Deutschen nun nach dem Kriege weitergehen werde. Sollten sich die „Russen“ an den Deutschen rächen, danach wieder umgekehrt und immer so weiter? Am Ende hatten wir uns so ausgesprochen, daß wir einander nicht länger als Feinde gegenüberstehen wollten. Wir versprachen uns in die Hand, mit ganzer Kraft dafür einzutreten, daß sich Faschismus und Krieg nicht wiederholen könnten; daß wir uns immer für Frieden, Völkerfreundschaft und Verständigung einsetzen wollten.

Dieses Versprechen habe ich bis zum heutigen Tag gehalten. Dort, im Keller des Hospitals von Malin, wurden die Weichen für mein weiteres Leben gestellt. Und das werde ich den drei Schwestern nie vergessen.

Nach der Rückkehr ins Lager nahm ich noch meine Essenration in Empfang. Während ich meine Suppe löffelte, klaute mir ein deutscher „Kamerad“ meine 600 Gramm Brot.

An einem der nächsten Tage ging ich zur Lagerkommandantur und bat um etwas zu lesen. Ich wurde sehr freundlich empfangen und erhielt einen Sammelband von Lenin in deutscher Sprache. Wie lange ich das Buch besaß, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich es bei einem Lagerwechsel wieder abgegeben. Aber es war für lange Zeit mein ständiger Begleiter.

Etwa zwei Jahre später nahm ich in Winiza an der antifaschistischen Lagerschulung teil, wurde danach Mitglied des Antifa-Aktivs und leitete zeitweise das Jugendaktiv des Gefangenenlagers im Kiewer Botanischen Garten. Später war ich in Dorniza bei Kiew sowie in Kiew, Lager 2. Von dort aus fuhr ich Ende November 1949 als Waggonagitator nach Hause. Das war einer meiner schwersten Einsätze damals.

Als ich wieder deutschen Boden betrat, hatte ich meinen 30. Geburtstag hinter mir. Es gab bereits beide deutsche Staaten, und die DDR war an die sieben Wochen alt.

In Gefangenschaft hatten wir Gleichgesinnten mit großer Besorgnis verfolgt, wie im Westen mit Bildung der Bizone, Trizone, separater Währungsreform und Abwehr aller Einheitsbestrebungen systematisch die Spaltung Deutschlands betrieben wurde. Unter uns gab es Unmut und Ablehnung; denn es schien von Anfang an klar, daß dies von verhängnisvoller Auswirkung auf die Beziehungen der Deutschen untereinander und besonders der Familien sein mußte. Wir malten uns das bereits damals so aus, wie wir es in den Folgejahren tatsächlich erleben mußten. Deshalb beteiligte ich mich nach meiner Heimkehr sofort an Veranstaltungen für die Wiedervereinigung oder für Organisationsformen, die der Vereinigung dienen sollten.

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren hatte ich eine gewisse Sortierung der Deutschen nach West und Ost beobachtet. Das merkte man auch bei den Entlassungen aus der Gefangenschaft. Diejenigen, die bis dahin aus Faschismus und Krieg nichts gelernt hatten, gingen natürlich nach dem Westen. Für mich war klar, daß ich mich in die DDR entlassen würde - obwohl ich noch nicht viel darüber wußte, welchen Weg dieser neue Staat, der sich antifaschistisch, demokratisch und friedliebend nannte, gehen würde. Die Sache schien für mich nicht zuletzt deshalb problematisch, weil ich mir als Sohn eines Erbhofbauern und als ehemaliger Gutsverwalter keine großen Entwicklungschancen ausrechnete.

Nun war ich also zu Hause - in meiner Kriegsgefangenenkluft und mit 50 Mark Entlassungsgeld. Die Freude war groß. Meine Ankunft sprach sich im Dorf schnell rum, und eine Einwohnerversammlung wurde einberufen: Spätheimkehrer berichten über ihre Erlebnisse in der Sowjetunion. Ergebnis: Gründung einer Ortsgruppe der DSF1. Ich trat natürlich auch ein.

Den elterlichen Hof besaß und bewirtschaftete mein jüngerer Bruder, der als Erbe eingesetzt war. Meine Mutter und Schwester wohnten noch dort. Bei ihnen zog ich ein. Unterkunft und Verpflegung waren also vorläufig gesichert. Aber wie weiter? Natürlich half ich bei meinem Bruder etwas mit, aber das konnte nicht von Dauer sein - auch wenn er gern von meinem Koffer voller Tabakwaren profitierte. Deshalb sah ich mich nach Arbeit um und bewarb mich um Teilnahme an einem agrarpolitischen Lehrgang der Deutschen Bauernhochschule (DBH) in Paretz bei Potsdam. Zu meiner Freude wurde ich sofort angenommen, zog Anfang 1950 ins dortige Internat und war glücklich. Ein Stipendium (50 Mark) bei freier Kost und Unterkunft erhielt ich auch.

Bei der Abschlußprüfung wurde uns nichts geschenkt. Unerwartetes Ergebnis war, daß ich trotz aller meiner Bedenken, Hemmungen und Ängste als Assistent an der Bauernhochschule eingestellt wurde. Die Arbeit war sehr anspruchsvoll und kreativ. Ich konnte viel lernen - in Vorlesungen und Seminaren sowie vielen Diskussionen mit den Lehrgangsteilnehmern, die aus allen Ecken der DDR, aus sämtlichen Parteien und Massenorganisationen, zu uns kamen. Was sich auf dem Lande abspielte, merkten wir auch während unserer häufigen Einsätze in den Dörfern. Dabei ging es nicht nur um konkrete Hilfe für die Neubauern, sondern immer auch um das Thema „Wiedervereinigung Deutschlands“.

Anfangs war ich parteilos, wurde aber Ende 1950 auf eigenen Wunsch, gestützt auf wohlgesinnte Bürgen, als Kandidat in die SED aufgenommen.

Meinen Weihnachtsurlaub 1950 verbrachte ich zu Hause, heiratete am darauffolgenden 6 Januar, erhielt aus diesem Anlaß ein schönes Grußtelegramm - und dazu die „erfreuliche“ Mitteilung, daß ich mit sofortiger Wirkung zum Leiter der Landesbauernschule Guthmannshausen in Thüringen berufen sei. Das war ein Schreck. Noch nie in einem Leben hatte ich eine Vorlesung gehalten, und dann das! Nach Urlaubsende packte ich in Paretz meine Siebensachen und wurde bei dichtem Nebel zu meiner neuen Wirkungsstätte gefahren. Meine Frau holte man in Machern ab. Sie traf kurz nach mir in Guthmannshausen ein. Noch am Abend machten wir uns bis weit nach Mitternacht an die Ausarbeitung meiner Begrüßungsansprache und ersten Vorlesung. Die Lehrgangsteilnehmer waren bereits vor mir angereist. Nur gut, daß ich in Paretz so gut aufgepaßt und mir so viele Notizen gemacht hatte!

In Guthmannshausen blieb ich ein Jahr und nahm in dieser Zeit auch an den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin teil. Danach konnte ich nach Sachsen zurückkehren, denn man übertrug mir die Leitung der Landesbauernschule in Mischütz bei Döbeln. Auch hier ergaben sich viele Möglichkeiten zum direkten Kontakt mit der Landbevölkerung. Ich erinnere mich noch sehr gut, mit welcher Freude wir die ersten sowjetischen Mähdrescher begrüßten.

Seit meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft hatte ich an vielen Diskussionen und Aktionen zur Unterstützung der demokratischen Wiedervereinigung Deutschlands teilgenommen. Nachdem dieser Kampf allmählich immer aussichtsloser wurde, setzte ich mich mit ganzer Kraft für die Festigung und Entwicklung der DDR ein.

Da ich es als Mangel empfand, bereits seit zwei Jahren als Lehrer zu unterrichten, ohne dafür ausgebildet zu sein, bewarb ich mich - trotz meines für damalige Verhältnisse guten Einkommens - um einen Studienplatz am Institut für Lehrerbildung in Dresden; natürlich mit der Absicht, danach meine Arbeit an der Landesbauernschule oder einer ähnlichen Einrichtung fortzusetzen.

Das Institut für Lehrerbildung „Karl Friedrich Wilhelm Wander“ in der Dresdner Wigardstraße nahm mich auf. Nach einem Jahr wurde ich an das Pädagogische Institut gleichen Namens übernommen und studierte dort bis Mitte 1955. Mit dem Staatsexamen erhielt ich einen Vorvertrag. In ihm stand allerdings, daß ich nach zwei Jahren Praktischer Arbeit an das Institut zurückkehren sollte. Damit war ich in der Volksbildung gelandet.

Am Institut war ich Mitglied der zentralen FDJ-Leitung und des Wissenschaftlichen Rates gewesen, außerdem verantwortlich für die wissenschaftliche Studentengemeinschaft und das FDJ-Studienjahr. Die von uns vertretene Losung lautete: „Wir gehen dorthin, wo uns der Staat braucht“. Und so geschah es auch. Ich wurde in Renzow/Mecklenburg - einem fast ausschließlich aus Neubauern bestehenden Dorf – Leiter einer Zentralschule und baute sie zur zentralen Mittelschule aus, die kurze Zeit später - wie die anderen Schulen auch - „Polytechnische Oberschule“ wurde.

Hier blieb ich bis 1962, war Mitglied des Polytechnischen Beirats beim Rat des Bezirkes Schwerin, Gemeindevertreter in Renzow sowie Leiter der Fachkommission Geschichte im Kreis Gadebusch. Später wurde ich Schulbereichsleiter und damit zuständig für elf Schulen. An das Pädagogische Institut kehrte ich trotz aller Mahnungen aus Dresden nicht zurück, da ich die Arbeit in Mecklenburg für wichtiger hielt.

Ich selbst habe diesen oft schwierigen Jahren sehr viel zu verdanken. Vor allem enge menschliche Kontakte, aus denen herzliche Freundschaften entstanden. Aber auch vielfältige Erfahrungen der gegenseitigen Hilfe und des verständnisvollen Miteinander beim Auf- und Ausbau unserer Schule, bei der Gründung und Unterstützung der LPG sowie vielen anderen Aufgaben. Denn Gemeinde, MTS, LPG und alle übrigen Institutionen oder Organisationen engagierten sich ebenso für die Schule wie umgekehrt. Natürlich war mein Arbeitstag sehr lang, doch ich wußte, wofür ich es tat.

Und auch mein eigenes Leben hatte sich völlig anders gestaltet, als es mir früher vorausbestimmt schien. Ich brauchte nicht mehr für einen Gutsherren an der Ausbeutung der Landarbeiter teilnehmen; mußte nicht wie mein Vater für Banken und Geldleute in Schuldknechtschaft schuften; brauchte keine Angst haben, daß sich meine Mutter vor lauter Sorgen das Leben nehmen würde; brauchte sie nicht mehr vor den Zudringlichkeiten des Viehhändlers zu beschützen, dem in Wirklichkeit alle Kühe in unserem Stall gehörten; konnte aufrecht gehen - nicht wie im Leipziger Gymnasium, das vorwiegend Kinder wohlbestallter Eltern besuchten, wo mein Vater das Schulgeld oft nur bezahlen konnte, wenn er es sich borgte; wo ich weinend zum befreundeten Krämer gehen und um Geld bitten mußte, damit fällige Wechsel bezahlt werden konnten. Und wie winzig war ich mir trotz meines Theateranrechtes vorgekommen, wenn ich in einfachster Kleidung zwischen all den eleganten Menschen saß - so daß ich in den Pausen nicht einmal vom Platz aufzustehen wagte!

Ich hatte in der DDR den Staat gefunden, in dem nicht mehr Reichtum der Maßstab des Ansehens war, sondern Arbeit und Leistung; alle Kinder gleiche Bildungschancen besaßen und die bisher benachteiligten besondere Förderung genossen; wo die zehnjährige Schulbildung Allgemeingut wurde und die Schüler ab 9. Klasse Stipendium erhielten; wo das Studium nicht nur gebührenfrei war, sondern durch angemessene Stipendien unterstützt wurde; wo jedem Schulabgänger eine Lehrstelle zur Verfügung stand, jedem Lehrling eine Arbeitsstelle angeboten wurde; wo die Schule frei von kirchlichen Zwängen war und Eltern wie Schüler großen Einfluß auf die Entwicklung des schulischen Lebens nehmen konnten; wo Talente gefördert wurden und sich unsere Schüler durch zahlreiche Arbeits- und Interessengemeinschaften eine sinnvolle Freizeit gestalten bzw. auf ihren Beruf vorbereiten konnten; wo sie unter lückenloser medizinischer Betreuung standen und die planmäßigen Impfungen gesichert waren; wo Sport des Menschen wegen und nicht des Profits wegen betrieben wurde.

An unseren Schulen wurden die Kinder zu selbständig denkenden, bewußt handelnden und schöpferischen Menschen erzogen und gebildet. Wir erzogen sie gegen Nationalismus, Chauvinismus, Revanchismus, Rassismus und Faschismus. Wir erzogen sie für Freundschaft zu anderen Völkern, für gute Nachbarschaft, Solidarität, internationale Völkerverständigung und Gemeinschaftssinn. Wer etwas anderes behauptet, der lügt bewußt.

Auch wir Erwachsenen konnten unser Leben auf längere Sicht planen und gestalten, brauchten vor flächendeckenden Entlassungen keine Angst zu haben, kannten keine Bettler auf den Straßen oder gar Obdachlose. Die Kriminalität hatte solche Ausmaße, daß man sich wünscht, sie würde wieder so niedrig und wenig bedrohlich werden.

Im gesellschaftlichen Alltag ging es allerdings selten ohne Widerstände, Schwierigkeiten und Fehlleistungen ab. In zähem Bemühen konnten wir meist erreichen, was wir uns vorgenommen hatten. Aber der Widerspruch zwischen Absicht und Wirklichkeit wurde allmählich größer.

Trotzdem bin ich froh, diese DDR mit ihrem ganzen Wenn und Aber erlebt zu haben. Ich halte es für gut - für heute und für die Zukunft - daß es sie gegeben hat. Die Geschichte wird einst gerechter urteilen als der gegenwärtige „Zeitgeist“.

Günther Brückner


1 Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft


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