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Nur in der Schule fühlte ich mich geborgen

 Um verständlich zu machen, was die DDR für mich bedeutete, den Weg nachvollziehbar zu schildern, den ich gehen mußte, bis ich meinen Platz in der Gesellschaft gefunden hatte, muß ich bis zurück in meine frühe Kindheit blicken.

Ich bin ein „Umsiedlerkind“, Jahrgang 1937, aus Schlesien. Wir, d. h. meine Eltern und meine zwei Brüder, wohnten in einer Breslauer Kellerwohnung, Wohnküche und Schlafraum. Diese Räume hatten winzige Fenster, die nur den Blick auf die Beine der Vorübergehenden ermöglichten.

Im Herbst 1944, ich war in der 2. Klasse, wurden wir Schulkinder wegen des zu erwartenden Großangriffs auf Breslau in umliegende Ortschaften evakuiert.

So stand ich also eines Tages inmitten vieler anderer Mädchen auf dem Marktplatz eines Dorfes, uns gegenüber Frauen in langer, dunkler Kleidung und mit Kopftüchern. Sie suchten sich je ein Mädchen aus, und ich verspürte große Angst, daß ich stehenbleiben müßte, weil mich niemand haben wollte.

Aber natürlich mußte ich nicht stehenbleiben, eine Frau Sch., selbst kinderlos, nahm mich auf. Sie war sehr freundlich zu mir. Es gab gut und reichlich zu essen, und sie versorgte mich mit Kleidung und Spielzeug. In bleibender Erinnerung behielt ich ein großes Märchenbuch mit eingeklebten bunten Bildern und eine kleine Zelluloidpuppe.

An einem sonnigen, sehr kalten Wintermorgen rief uns Glockengeläut auf den Marktplatz. Ein Mann verlas die Aufforderung, das Dorf schnellstens zu verlassen. Es gab dann große Aufregung, Weinen, Durcheinander, von dem wir Kinder nicht viel verstanden. Es hieß nur: „Die Russen kommen!“

Binnen weniger Stunden folgten die Einwohner der Aufforderung. In einem langen Treck, Pferdewagen an Pferdewagen, vollgepackt mit eiligst zusammengerafften Habseligkeiten, verließen wir das Dorf.

Es war bitter kalt. Manchmal hielten wir in noch bewohnten Ortschaften an, um etwas warme Nahrung zu erbitten. Viele, vor allem ältere Leute, blieben am Wegrand zurück und erfroren.

Tagelang waren wir unterwegs, bis wir schließlich in Leutnantsdorf, einer kleinen Gemeinde, aufgenommen wurden. Mit anderen Familien kamen Frau Sch. und ich in einer leeren Bäckerei unter. Ich sehe die große Papierrolle und die Kasse in dem gekachelten Verkaufsraum noch deutlich vor mir. Hier erlebte ich am 2. Februar 1945 meinen achten Geburtstag.

Im Januar 1945 hatten auch meine Eltern und Geschwister Breslau verlassen müssen. Danach suchten sie in allen Ortschaften, in denen Trecks angekommen waren, und fanden mich schließlich.

Als eines Tages, es war Anfang März, mein Vater vor mir stand, glaubte ich, er wolle mich nach Hause holen. Er nahm mich zu sich aufs Rad. Nach stundenlanger Fahrt bei Kälte und Dunkelheit kamen wir schließlich an. Allerdings nicht zu Hause, sondern in einer Schweidnitzer Kirche, die vielen Familien Unterschlupf gewährte. Verwirrt stand ich in der großen Kirchentür und schaute auf die unbekannten Menschen vor mir. Aber dann sah ich meine Mutter und meine Brüder!

Bereits einen Tag später wurden wir mit vielen anderen in einem Güterzug abtransportiert. Nach langer Fahrt landeten wir schließlich in der Nähe von Pilsen und wurden mit einer zweiten Familie im Kellerraum einer großen Villa untergebracht. Insgesamt waren wir dort zu zwölft. Die Familien trennten ihre Lebensbereiche notdürftig mit über Stricke gelegten Decken ab. In dieser Unterkunft „wohnten“ wir ein reichliches Jahr. Mir blieben aus dieser Zeit vor allem drei Erinnerungen:

Wir konnten nicht zur Schule gehen; hatten ständig Hunger, weil die Brotmarken nie reichten; und - besonders schlimm - ich war inzwischen zur Bettnässerin geworden. Jedesmal, wenn es passiert war, wurde ich vor allen Anwesenden beschimpft und bloßgestellt. Das hörte erst auf, als meinen kleinen Bruder das gleiche Geschick ereilte. Wahrscheinlich hatte sich unsere Mutter zwangsläufig damit abgefunden.

Im Frühjahr 1946 mußten wir die Stadt verlassen und landeten nach langer Fahrt, wiederum im Güterzug, im thüringischen Schlotheim. Zunächst wurden wir ins Quarantänelager eingewiesen, aber dann erhielten wir eine Wohnung: Küche, zwei Zimmer.

Nun besuchten wir Kinder wieder eine Schule. Ich war zwar schon neun Jahre alt, hatte aber offiziell nur die erste Klasse absolviert. Allerdings hatte uns unsere Mutter selbst unterrichtet, und so konnten wir altersgerecht beschult werden.

Den Start in das neue Leben machte man aber besonders uns Kindern sehr schwer. Überall wurden wir gemieden, mit Abstand betrachtet, ausgelacht und beschimpft, am häufigsten als „Pollacken“. Besonders schlimm war es in der Schule. Wochenlang versteckte ich mich auf dem Weg dorthin und auch nach dem Unterricht, um den Steinwürfen einer Kinderhorde zu entgehen. Dazu kam, daß wir völlig mittellos und nur mit wenigen Kleidungsstücken im Ort angekommen waren. Ausreichend zu essen hatten wir nie und mußten bei den Bauern sogar um Kartoffelschalen betteln. Denn als die bei ihnen so beliebten Tauschpartner fielen wir selbstverständlich aus.

Wie mein dreieinhalb Jahre älterer Bruder mit der Situation fertig wurde, weiß ich heute nicht mehr. Für mich und meinen eben eingeschulten kleinen Bruder beendete ich diesen Zustand jedenfalls auf ebenso rigorose wie wirkungsvolle Art, indem ich mich erbittert mit dem Anführer der Horde - einem wohlgenährten Bauernsohn und Mitschüler - schlug. Das geschah nicht nur vor der ganzen Klasse, sondern auch unter den Augen unseres jungen Lehrers. Doch er griff nicht ein und ließ mich diese Schlacht, die ich mit der ganzen Wut und dem Selbsterhaltungstrieb meiner neun Jahre führte, zu Ende bringen. Es sah dann so aus, daß ich den Knaben gründlich verdrosch und sein schönes Hemd zerfetzte. Natürlich war ich ebenso von Beulen, Kratzern, Nasenbluten gezeichnet. Aber immerhin hatten mein kleiner Bruder und ich von diesem Tag an Ruhe; und unser Lehrer trug ein übriges dazu bei.

Zur Schule ging ich nun gern. Aber je mehr Freude ich an ihr gewann, desto schlimmer wurde es zu Hause. Unser Vater hatte in Schlotheim keine Arbeit gefunden, während Mutter als Sekretärin eingestellt wurde. In dem Maße, wie sie sich beruflich und gesellschaftlich engagierte, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Eltern. Es verging kein Tag, an dem es nicht zu Streit, Geschrei und Tätlichkeiten kam. Mein Vater war extrem eifersüchtig, dazu jähzornig und gewalttätig. Wir Kinder fürchteten uns vor ihm.

Mitte 1948 mußte meine Mutter die Wohnung verlassen, d. h. sie wurde von meinem Vater schlichtweg hinausgeworfen. Unser älterer Bruder kam ins Schlotheimer Internat, wir Jüngeren mußten beim Vater bleiben. Meine Mutter war nach Sondershausen gezogen, wo sie eine Anstellung bei der Volkspolizei und eine Bleibe in einem Gasthaus fand. Ich, gerade elf Jahre alt, hatte mich nun um den Haushalt und meinen 8jährigen Bruder zu kümmern. Da der Vater auch zu dieser Zeit noch keine feste Anstellung hatte, schickte unsere Mutter monatlichen Unterhalt.

In diese für mich sehr schwere Zeit fällt meine erste Erinnerung an politische Ereignisse: An unserer Schule wurde die Pionierorganisation gegründet. Zur Gründungsveranstaltung waren die Eltern eingeladen, und auch mein Vater war anwesend.

Der Chor sang, und unsere Laienspielgruppe führte das Märchen „Schneewittchen“ auf. Ich durfte das Schneewittchen spielen. Dazu hatte mir die Mutter einer Mitschülerin ein langes gelbes Kleid geliehen, das sie für ihre Tochter genäht hatte. Allein ein solches Kleid anziehen zu dürfen, erschien mir bereits märchenhaft. Der Saal war voll, denn Veranstaltungen dieser Art gab es in dem kleinen Städtchen nicht oft.

Das Programm klappte gut. Anschließend wurde zur Gründung der Pionierorganisation gesprochen, und die ersten Kinder wurden als Pioniere aufgenommen. Ich gehörte dazu. Diese Entscheidung hatte ich für mich allein getroffen, weil die Schule für mich zunehmend zur Zufluchtsstätte geworden war. Unsere erste Pionierleiterin hieß Hanna, und wir Kinder liebten sie. Vater quittierte meinen Entschluß allerdings mit einer kräftigen Ohrfeige.

Gleich nach Mutters Weggang war eine junge Frau mit ihrem dreijährigen Sohn in unsere Wohnung gezogen. Sie lebte mit Vater zusammen und half auch ein wenig im Haushalt. Allerdings hatte ich mich nun auch noch um ihren Sohn zu kümmern. Da Vater noch immer nur Gelegenheitsarbeiter war, zehrten wir alle von dem Geld, das unsere Mutter schickte. Sie hatte inzwischen die Scheidung eingereicht. Ab und zu besuchte sie uns. An diesen Tagen verschwand die junge Frau mit ihrem Kind aus der Wohnung.

Wir Kinder freuten uns auf Mutters Besuche, aber der Abschied war jedesmal schlimm. Obwohl Vater mit der jungen Frau zusammenlebte, war er über die Scheidungsabsichten unserer Mutter sehr erbost. Bei einem ihrer Besuche betrank er sich sinnlos, tobte und drohte mit Selbstmord. Am nächsten Tag war alles wie gewohnt: Mutter war weggefahren, die junge Frau erschien mit Kind, und der Alltag zog wieder ein.

Eines Tages erhielt ich einen Brief von meiner Mutter, in dem es um die Scheidung ging. Sie schrieb, daß ich möglicherweise zur häuslichen Situation befragt werden sollte. Mein Vater verlangte die Herausgabe des Briefes, aber ich hatte Angst und verweigerte dies. In rasender Wut schlug er mich nieder, und vermutlich verhütete nur das zufällige Erscheinen eines Nachbarn Schlimmeres.

Dieser Vorfall wurde zum Anlaß dafür, daß Mutter in Sondershausen zunächst ein Zimmer erhielt. Sie nahm meinen kleinen Bruder zu sich, während ich als „Untermieterin“ zu zwei sehr frommen alten Damen in Schlotheim gegeben wurde.

Nun ging ich stets sehr früh zur Schule, blieb tagsüber dort und betrat mein Quartier nur zum Schlafen. In Erinnerung geblieben sind mir aus jener Zeit nur der in den Zimmern herrschende muffige Geruch, die beim Beten benutzten Rosenkränze sowie eine für mich sehr beschämende Episode. Eines Abends wurde ich nämlich von den Damen beschuldigt, aus der Schale in meinem Zimmer einen Apfel gestohlen zu haben. Ich beteuerte weinend meine Unschuld, aber sie glaubten mir nicht. Am nächsten Tag fand sich der Apfel wieder; er war nur unter den Tisch gerollt. Auf eine Entschuldigung oder ein nettes Wort wartete ich vergebens.

Im Oktober 1949 wurde die Ehe der Eltern geschieden, und meine Mutter erhielt das Sorgerecht für uns Kinder. Sie hatte inzwischen eine Wohnung in Sondershausen zugewiesen bekommen und konnte uns nun beide zu sich nehmen. Nun besuchte ich in Sondershausen die Schule. Das Lernen fiel mir leicht und machte Spaß. Ich war froh, nun endlich mit meiner Mutter und meinem Bruder zusammen zu sein. Doch unser Leben normalisierte sich nur für kurze Zeit, denn unsere Mutter wurde bereits zwei Monate später nach Weimar versetzt. Erst im Frühjahr erhielt sie dort eine Wohnung und wir konnten zu ihr ziehen. Damit verbunden waren natürlich wieder ein Schulwechsel, neue Lehrer, Klassenkameraden, ein neues soziales Umfeld. Das Lernen fiel mir nach wie vor leicht, aber der häufige Schulwechsel begann sich doch auszuwirken. Ich hatte viel nachzuholen, vor allem in Mathematik und Fremdsprachen.

An unserem Lebensstil änderte sich nicht viel. Unsere Mutter war durch ihren Dienst voll in Anspruch genommen, ich war für Haushalt und meinen Bruder zuständig. Allerdings habe ich die häuslichen Verpflichtungen vermutlich mehr schlecht als recht wahrgenommen, denn ich hatte inzwischen andere Interessen. Ich wurde Freundschaftsratsvorsitzende an der Schule, und gemeinsam mit einer FDJlerin leitete ich eine Pioniergruppe. Damals war die Mitgliedschaft in der Pionierorganisation noch nicht selbstverständlich. Unserer Gruppe gehörten nur wenige Mitschüler an, und wir waren oft den Hänseleien anderer ausgesetzt. Doch das war für mich nicht so wichtig. Ich fühlte mich in der Pionierorganisation aufgehoben, konnte mich nach meinen durch Krieg, Armut und Not verursachten negativen Erlebnissen voll mit dem identifizieren, was dort vertreten wurde. Auch die Teilnahme am III. Parlament der FDJ (erstmals in Pionierkleidung), am Deutschlandtreffen und an den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin war für mich unvergeßlich und prägend.

In dieser Zeit hatte ich eine Klassenlehrerin, die großen Einfluß auf mich ausübte. Sie war eine kleine zierliche Frau mit großer Ausstrahlung. Wenn sie das Klassenzimmer betrat, herrschte augenblicklich Ruhe. Sie half mir sehr. Obwohl sie meinen Bruder nicht unterrichtete, machte sie mich manches Mal auf Unzulänglichkeiten in seinem Äußeren oder auch in schulischen Belangen aufmerksam.

Diese Lehrerin war es auch, die wesentlich zu meinem Wunsch, Lehrerin werden, beitrug. Wenn es in der Klasse um Berufswünsche ging, sagte sie stets mit Bestimmtheit: „Du wirst Lehrerin.“ Das entsprach auch meinem Wunsch, schließlich war die Schule über Jahre die einzige Stätte, in der ich mich wohl und geborgen fühlte.

Zu Hause gab es zunehmend Probleme. Wir Kinder waren durch die uns früh aufgezwungene Selbständigkeit sehr schwierig geworden. Es gab viele Auseinandersetzungen. Unsere Mutter war dienstlich sehr belastet und ganz allein für die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder verantwortlich. Eine Stütze war für sie vielleicht unser ältester Bruder, der inzwischen am Institut für Lehrerbildung studierte und weiter im Internat lebte.

Da der Vater keinen Unterhalt für uns Kinder zahlte, war für mich an Oberschule und Studium nicht zu denken. Ich beendete die 8. Klasse und mußte danach ins Berufsleben einsteigen. Unsere Schule hatte einen Patenvertrag mit dem damaligen Mähdrescherwerk in Weimar. Ich war Mitglied der betrieblichen Kulturgruppe und erhielt ohne Schwierigkeiten einen Lehrvertrag als Maschinenschlosser. Dies war für mich sicher die ungeeignetste Ausbildung; aber es entsprach dem Zeitgeist.

Jedoch vorher kam noch die Schulentlassung. Für die abschließende Klassenfeier bekam ich von einer jungen Arbeitskollegin meiner Mutter ein abgelegtes Kleid geschenkt. Mir gefiel es und ich betrat damit stolz zum letzten Mal unser Klassenzimmer. Aber da ging das Gespött schon los: „Äh, was die anhat!“ Weinend rannte ich hinaus und meiner Klassenlehrerin direkt in die Arme. Offensichtlich hatte sie alles mit angehört. Sie brachte mich zu meinem Platz und sagte in ihrer leisen bestimmten Art: „Du bist mir in jedem Kleid lieber als diese Schreihälse!“ Daraufhin wurde es im Klassenraum sehr still. Der Verlauf dieser Abschlußfeier ist mir nicht mehr erinnerlich, der häßliche Auftakt hatte wohl alles überschattet.

Formal gesehen, endete damit meine Kindheit. Aber eigentlich hatte sie schon lange vorher aufgehört.

Im September 1951 begann ich meine Lehre als Maschinenschlosser. Es fiel mir alles recht schwer. Irgendwie fand ich keine innere Beziehung zu dieser Ausbildung, wurde oft krank, ließ mich wohl auch hängen und hatte keine rechte Freude an dem Ganzen. Irgendein kluger Mensch muß das gemerkt haben, denn man bot mir eine Lehre als Industriekaufmann an. Doch die Mathematik lag mir nicht besonders; ich hatte auch eine Abneigung gegen Büroarbeit und lehnte ab.

Schließlich erhielt ich durch Vermittlung des Betriebes im März 1952 eine Stelle als Cutterin beim Landessender Weimar. Im Kreis der Cutterinnen war ich, gerade 15 Jahre alt geworden, die Jüngste. Die Kolleginnen waren nicht nur älter, sie hatten auch Geld und verstanden sich zu kleiden und herzurichten. Daher schämte ich mich anfangs oft meines Aussehens. Nach und nach behauptete ich mich aber, kam auch mit der Arbeit zurecht, die mir zunehmend Freude bereitete. Leider wurde ein halbes Jahr später mit dem Land Thüringen auch der Landessender Weimar aufgelöst.

Da mein Chef wußte, daß mein ursprünglicher Berufswunsch Lehrerin war, setzte er sich bei der Kreisleitung der FDJ für meine Delegierung an das Institut für Lehrerbildung Weimar ein. Ich mußte eine Aufnahmeprüfung absolvieren und wurde Mitte September 1952 - das Studienjahr hatte bereits begonnen - als jüngste Studentin immatrikuliert. Auf eigenen Wunsch durfte ich sogar im Internat wohnen, obwohl ich in Weimar zu Hause war.

Zu jener Zeit war der Bedarf an Lehrkräften sehr groß, und er konnte nur über die Einrichtung zusätzlicher Klassen abgesichert werden. In eine dieser „Werktätigenklassen“ wurde auch ich aufgenommen. Bedingt durch den häufigen Schulwechsel hatte ich eine recht einseitige und lückenhafte Schulbildung. Aber ich wollte die mir gebotene Chance unbedingt nutzen! Natürlich hatte ich auch Minderwertigkeitsgefühle, und vor einigen Fächern fürchtete ich mich geradezu.

Dann kam die erste Mathematikstunde, und vor mir stand, völlig überraschend für mich, meine ehemalige Klassenlehrerin aus der Grundschule! Im Institut wurden wir mit „Sie“ angeredet. Ich empfand es als Auszeichnung, als sie vor der Seminargruppe zu mir sagte: „Aber zu Dir darf ich doch weiter Du sagen?“ In der Folgezeit half sie mir sehr, den Anschluß zu finden. Sie war fest davon überzeugt, daß ich eine gute Lehrerin werden könnte und bestärkte mich immer wieder darin.

Nun folgten zwei glückliche Jahre für mich. Mit Grund- und späterem Leistungsstipendium hatte ich 200 Mark zur Verfügung; davon bezahlte ich 60 Mark für Unterkunft und Verpflegung. Der Rest mußte für alles andere, wie z. B. Bücher, Studienmaterialien usw. reichen. Kleidung wurde selten gekauft, manchmal half meine Mutter aus.

Ich beendete das Studium mit dem Prädikat „Gut“. Mein Wunsch war also Wirklichkeit geworden, ich war Lehrerin. Aber das war nur der Anfang! Den zwei Jahren Fachschulausbildung schlossen sich knapp acht Jahre Fernstudium zum Erwerb des Hochschulabschlusses und des Diploms an.

Das wurde mir als Mutter von zwei Kindern in der DDR ermöglicht!

Erst als junge Frau habe ich ermessen können, wie schwer es für meine Mutter gewesen sein mußte, sich in dieser harten Zeit und nach der Trennung von unserem Vater allein mit uns drei Kindern durchzuschlagen. Und wenn es uns auch manchmal an der nötigen Aufsicht und Ordnung gefehlt hatte, war uns dafür doch nicht weniger Wichtiges von ihr vermittelt worden: die Freude am Lernen, am Umgang mit dem Buch, das Interesse am Zeitgeschehen und ein Bedürfnis nach eigener politischer Aktivität.

Sie konnte wohl zu Recht stolz auf ihre drei Kinder sein: Zwei von ihnen wurden Lehrer; ihr Jüngster wurde Diplomingenieur.

So, wie meine Mutter als junge Frau und alleinerziehende Mutter in die DDR die Möglichkeit fand, aus Zusammenbruch und Chaos heraus eine neue Existenz aufzubauen, so konnte auch ich meinen Weg in der DDR finden.

Nicht nur die negativen Kindheitserinnerungen, wie Evakuierung und Treck, Erlebnisse auf der weiteren Flucht, Zerfall der Familie, der ständige Zwang, mich behaupten und durchsetzen zu müssen sowie die anhaltende Armut wirkten sich auf mich aus. Ebenso wichtig sind Erinnerungen an die vielen Menschen, die mir halfen, diesen Weg zu gehen: allen voran meine Mutter, dann meine Lehrerin, damalige Vorgesetzte, Freunde und Genossen.

Dies alles, die negativen und positiven Erlebnisse und Begegnungen haben mich für das ganze Leben geprägt, waren entscheidend für meine spätere berufliche und politische Entwicklung, für meine Einstellung zur DDR, die mit all ihren Stärken und Schwächen zu meiner Heimat wurde. 

Ulrike Rath 


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