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Rückkehr in ein unbekanntes Land

 Ich war neun Jahre alt, als meine jüdischen Eltern 1933 Frankfurt/Main verließen, um mit ihren drei Kindern in der Tschechoslowakei Asyl zu suchen.

Ich war gerade 22 Jahre alt geworden, als ich am 2. August 1946 mit einer Zille, einem mit irgendwelchen Waren beladenen Schleppkahn, die Elbe hinunter von Decin nach Pirna fuhr und wieder deutschen Boden betrat.

Wir - die meisten von uns deutschsprachige Kommunisten aus der Tschechoslowakei, denen es nach der Besetzung ihres Landes durch Hitler gelungen war, nach England zu entkommen - waren am 20. Juni 1946 von London aus über die Nordsee nach den Niederlanden gekommen und schließlich nach einer wohl mehr als zweiwöchigen Fahrt mit der Bahn durch große Teile Europas im Juli in der Tschechoslowakei eingetroffen.

Zwei Wochen in Zügen - die Nächte manchmal in Massenunterkünften, oft auch auf dem Fußboden des Waggons schlafend, verpflegt aus „Gulaschkanonen“ (diesen Ausdruck kannte ich damals allerdings nicht), wenn der Zug irgendwo auf der Strecke hielt. Wahrscheinlich hielten die Züge mehr als sie fuhren, denn ein Jahr nach Kriegsende waren nur wenige Eisenbahnstrecken befahrbar. Durch welche Gebiete, durch welche Städte oder an welchen Städten vorbei unsere Reise uns führte - ich wußte es damals wahrscheinlich nicht und habe heute, zweiundfünfzig Jahre später, erst recht keine Ahnung mehr.

Die Jüngste in dieser Gruppe war ich nicht - es gab einige Familien mit Kindern -aber ich war die Jüngste, die diese Reise selbständig machte. Mein Weg nach England hatte sich weniger abenteuerlich gestaltet als der vieler meiner Reisegefährten. Denn wir waren schon etwa acht Tage vor der Münchner Konferenz aus dem Ort in der Nähe von Marienbad, wo wir damals lebten, zur Schwester meiner Mutter in die Schweiz gefahren und von dort später nach England. Sicher, so einfach, wie sich das heute schreibt, spielte es sich im September 1938 nicht ab, aber das ist eine andere Geschichte, und ich will ja über meine Rückkehr schreiben.

Seitdem bin ich oft gefragt worden, sowohl in der DDR, als auch nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik, warum ich 1946 allein, das heißt ohne meine Familie, nach Deutschland gegangen bin.

Ich hatte fast acht Jahre in England gelebt, dort waren meine Eltern und Brüder und sehr viele gute Freunde. Aber ich betrachtete die Emigration nie als etwas Endgültiges, und obwohl ich ziemlich fließend Englisch sprach, war Deutsch meine Muttersprache geblieben - im wörtlichen Sinne, denn wenn immer ich mit meiner Mutter allein war, redeten wir in dieser Sprache. Von Mutter hatte ich auch meine Liebe zur deutschen Literatur, deren Kenntnis sich jedoch auf das beschränkte, was ich bis zum 14. Lebensjahr gelesen hatte - das war allerdings nicht wenig und schloß die meisten Schillerschen Dramen, vieles von Lessing und manches von Goethe ein - sowie auf die unermeßliche Zahl deutscher Gedichte, die meine Mutter auswendig kannte und die ich von ihr lernte. Deutsche Bücher besaß ich nur wenige, die ich in englischen Antiquariaten aufgetrieben hatte. Das alles spielte sicher eine Rolle bei meinem Entschluß, nach Deutschland zurückzukehren. Der Hauptgrund aber war der Wunsch, dort zu sein, wo ich gebraucht wurde. Und ich war überzeugt, als Antifaschistin in Deutschland eine wichtige Aufgabe erfüllen zu können, meinen Teil zum Kampf gegen die Überreste der faschistischen Ideologie, vor allem in den Köpfen Jugendlicher, beizutragen. Mutter unterstützte meine Absicht, nach Deutschland zurückzukehren, obwohl uns beiden die Trennung sehr schwer fiel. Vater versuchte, mich davon abzuhalten. Es wäre doch viel klüger, so meinte er, erst zu studieren, mehr Wissen und Können zu erwerben - ich war damals ausgebildete Kinderpflegerin - ich werde dann in meiner neuen Heimat von viel größerem Nutzen sein. Er machte sich Sorgen darum, wie ich unter den schweren Lebensbedingungen im Nachkriegsdeutschland zurechtkommen würde. Ich wollte aber nicht erst in vier, fünf Jahren, wenn die schlimmsten Kriegsfolgen beseitigt waren, zurückkehren, ich wollte von Anfang an beim Aufbau eines neuen Deutschland dabei sein.

Eine weitere, mir oft gestellte Frage lautete: „Sie stammen aus Frankfurt/Main, warum sind Sie da in die Ostzone gegangen?“

Das Ziel der Gruppe, mit der ich England verließ, war Sachsen. Ich kannte Sachsen nicht. Aber kannte ich denn Frankfurt, das ich als neunjähriges Kind verlassen hatte? Kannte ich überhaupt Deutschland? Ich wußte 1946 sehr viel über Deutschland. Ich wußte, warum wir 1933 von dort weggegangen waren, wußte über die Verfolgung der Kommunisten, Sozialdemokraten und aller Andersdenkenden, über Konzentrationslager sowie die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Die Münchner Konferenz 1938 hatte ich bewußt verfolgt. Da wir die dort beschlossene Auslieferung unseres ersten Asyllandes, der Tschechoslowakei, an Hitler voraussahen, waren wir zum zweiten Mal in die Emigration gegangen. In England erlebte ich den 2. Weltkrieg, ich kannte die Vorgeschichte dieses Krieges und die Schuldigen an seinem Ausbruch. Aber Deutschland kannte ich nicht! Das ganze Deutschland war für mich 1946 ein unbekanntes Land. Da machte es keinen Unterschied, in welchen Teil, in welche Stadt ich gehen würde.

Einen großen Unterschied aber machte die Besatzungsmacht! Ich hatte die Bemühungen der englischen und französischen herrschenden Klasse gesehen, sich mit Hitler auf Kosten der Sowjetunion zu einigen, nicht nur zur Zeit des Münchner Abkommens, nicht nur bis zum Beginn des Krieges am 1. September 1939, sondern auch noch in den Monaten nach Kriegsausbruch, in der Zeit des sogenannten „drole de guerre“, des „komischen Krieges“. Und so hatte ich kaum Illusionen über die Möglichkeiten antifaschistischer Betätigung in den drei westlichen Besatzungszonen. In der „Ostzone“ aber war man schon 1945 daran gegangen, eine antifaschistisch-demokratische Ordnung zu errichten. Nur dort konnte mein Platz sein!

Vor einigen Jahren fragten mich israelische Bürger - ehemalige Leipziger Juden, die zum ersten Mal wieder ihre frühere Heimatstadt besuchten - ob ich bei meiner Rückkehr nicht das Gefühl gehabt hätte, den Mördern meiner Verwandten und Freunde gegenüber zu stehen. Ich hatte dieses Gefühl nicht. Meine engeren Bekannten waren Antifaschisten, aus der Emigration oder aus Konzentrationslagern zurückgekehrt. Auch einige Soldaten der Wehrmacht waren darunter, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft eine Antifa-Schule besucht hatten. Die meisten der jungen Menschen, mit denen ich im Neulehrerkurs und in der Freien Deutschen Jugend zusammentraf, waren erschreckend unwissend, aber nie hat einer von ihnen mich, die Jüdin, beleidigt oder beschimpft.

Ein Beispiel für diese „Unwissenheit“: Eine Studienkollegin, wahrscheinlich sogar etwas älter als ich, wollte wissen, wieso ich Rahel heiße. Meiner Antwort, das sei ein alttestamentarischer Name und ich sei Jüdin, widersprach sie heftig: „Nein, du bist keine Jüdin, höchstens Halbjüdin!“ Auf meinen Einwand, ich müsse das wohl besser wissen, meine beiden Eltern seien Juden, erwiderte sie im Brustton der Überzeugung: „Juden sehen anders aus.“ Sie meinte das keineswegs böse oder abwertend, aber ihr Bild vom Juden war eben von dem antisemitischen Schmierblatt „Stürmer“ geprägt, und sie hatte nie etwas anderes über Juden gehört oder gesehen.

Hier noch ein anderes Beispiel. Der Deutschlehrer unseres Kurses - ein von meinem damaligen Standpunkt aus „älterer Herr“, der jedenfalls schon vor 1933 Lehrer gewesen war - stellte uns die Aufgabe, Kurzreferate zu halten. Ich bat darum, über Heinrich Heine sprechen zu dürfen - ein Thema, das in seiner Liste nicht enthalten war. Ich wußte natürlich, daß Literatur über Heine kaum aufzutreiben sein würde, aber der Schriftsteller Max Zimmering, der mit derselben Gruppe wie ich aus England gekommen war, besaß viele Bücher über diesen Dichter. Es würde mir nicht schwerfallen, daraus die nötigen Informationen für mein Referat zu erhalten. Unser Lehrer aber meinte, so wichtig sei Heine doch wohl nicht und, um seinen Standpunkt zu untermauern, fragte er die etwa fünfzig Kursteilnehmer, wer etwas über ihn wisse. Die Antwort fiel erwartungsgemäß aus: Nur etwa fünf bis sechs ältere Teilnehmer, die ihre Allgemeinbildung schon vor der Nazizeit erworben hatten, meldeten sich. Daraufhin bat ich, eine „Gegenprobe“ machen zu dürfen und fragte: „Wer von euch kennt das Lied ‚Die Lorelei’?“ Diesmal gingen fast alle Hände hoch. - Ich habe meinen Vortrag über Heine gehalten.

Mir war zuerst vorgeschlagen worden, Englischlehrer zu werden. Meine Sprachkenntnisse boten dafür sicher gute Voraussetzungen. Aber ich hatte Englisch gelernt, wie ein Kleinkind seine Muttersprache erlernt - durch hören und sprechen; die Rechtschreibung hatte ich mir vor allem durch lesen englischer Bücher angeeignet. Irgendwelche theoretischen Kenntnisse über Grammatik und Orthographie besaß ich nicht, und ich interessierte mich auch nicht dafür. Aber als man mir anbot, an einem Neulehrerlehrgang für Geschichte teilzunehmen, sagte ich sofort zu. Geschichte war das Gebiet, das mich schon immer am meisten gereizt hatte. Kindern Geschichtskenntnisse zu vermitteln, bedeutete, die Vorstellungen von der Welt, die ihnen in der Nazizeit eingetrichtert worden waren, zurechtzurücken, ihnen klar zu machen, daß es keine „höherstehenden“ und „niedrigeren“ Völker gibt, daß, um mit Lessings Nathan zu sprechen, „... alle Länder gute Menschen tragen“.

Im Sommer 1947 begann ich meine Laufbahn als Geschichtslehrer in Aue im Erzgebirge. In diesen Ort hatte es mich auf ungewöhnliche Weise verschlagen. Im Lehrgang war mir ein etwa achtzehnjähriger Schlosser aufgefallen, dessen Aufrichtigkeit und eindeutige politische Haltung mir gefielen und zu dessen „Betreuer“ ich, die vier Jahre Ältere und dank meiner intellektuellen Herkunft mit einer wesentlich besseren Allgemeinbildung Ausgestattete, mich berufen fühlte. Wir lernten zusammen, ich führte ihn in die Grundkenntnisse der klassischen deutschen Literatur ein und vermittelte ihm das, was ich mir in der Emigration an Kenntnissen des historischen Materialismus angeeignet hatte und ohne das mir ein Verständnis der Geschichte bis heute unmöglich erscheint. So weit ich konnte, bemühte ich mich auch um sein leibliches Wohl und teilte die Mahlzeiten, die ich mit Hilfe der seltenen Pakete meiner Mutter bereitete, brüderlich - oder vielmehr schwesterlich - mit Heinz. Vielleicht ersetzte er mir meine beiden in England lebenden jüngeren Brüder, unser Verhältnis zueinander war ein rein geschwisterliches. Er erzählte mir, daß sein Vater vor 1933 Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war, sich aber während der Nazizeit kaum politisch betätigt hatte. Als Heinz erfuhr, daß ich die Weihnachtsfeiertage ganz allein in einem kalten Zimmer verbracht hatte, rief er bei dem Fleischermeister an, in dessen Haus seine Eltern wohnten, und teilte seiner Mutter mit, er werde zu Ostern eine „Genossin aus England“ mit nach Hause bringen. Ihre erste Reaktion war: „Können wir denn überhaupt mit der sprechen?“ Als er ihr versichert hatte, daß mein Deutsch sich von dem ihren nur dadurch unterschied, daß ich den Erzgebirgsdialekt nicht beherrsche, war sie einverstanden. Ich fuhr nicht nur zu Ostern, sondern zu allen weiteren Ferien während des einjährigen Lehrgangs nach Aue, und bald gehörte ich zu der erzgebirgischen Arbeiterfamilie. Ich nannte Heinz’ Eltern so, wie er und seine Geschwister sie nannten: „Mam“ und „Pap“, und sie sahen in mir nicht nur die jüngere Genossin, sondern vor allem Mam behandelte mich wie eine Tochter. Als unser Neulehrerlehrgang zu Ende ging, wurde mir eine Lehrerstelle in Dresden angeboten. Die Schulbehörde ging davon aus, daß ich, die Jüdin und ehemalige Emigrantin, in der Großstadt eher Anschluß finden, mich nicht so einsam fühlen würde. Ich lehnte ab und bat um einen Einsatz in Aue. Mam hatte mir in der Nachbarschaft ein möbliertes Zimmer besorgt, und ich wurde wie ein Familienmitglied behandelt. Ich habe in jenen Jahren in Ostdeutschland viele wertvolle Menschen kennengelernt, viele halfen mir, wenn ich Schwierigkeiten hatte. Aber bei dieser Familie war ich tatsächlich zu Hause, auch noch, als ich längst nicht mehr in Aue lebte und arbeitete. Und ich werde diesen Menschen mein ganzes Leben lang dafür dankbar sein.

Meine Lehrtätigkeit an der Lessingschule in Aue war nicht von langer Dauer. Wenige Wochen nach Schuljahresbeginn nahm ich an einer Versammlung der Freien Deutschen Jugend teil, und in der Diskussion pries ein Schüler der Erweiterten Oberschule (die damals noch einfach „Oberschule“ hieß) die „dreihundertjährige englische Demokratie“. Ich hatte diese Demokratie und ihre Mängel aus eigener Anschauung kennengelernt und wollte diesen Lobgesang nicht unbeantwortet hinnehmen. Bis dahin hatte ich noch nie irgendwo öffentlich gesprochen, und als ich an etwa einhundert jungen Leuten vorbei zum Rednerpult schritt, war mir, als müsse ich Spießruten laufen. Was ich sagte, muß aber einigermaßen überzeugend gewesen sein, denn nach der Versammlung fragte mich der Kreisvorsitzende der FDJ, ob ich bereit sei, im Kreisvorstand zu arbeiten. Ich überlegte es mir längere Zeit, wurde aber gegen Ende des Jahres hauptamtlicher Mitarbeiter der FDJ, verantwortlich für Bildung und Erziehung im Kreis Aue.

Wieder war ich einen Schritt in unbekanntes Terrain gegangen. Bildung und Erziehung, davon verstand ich einiges, aber die Organisationsarbeit, die mit einer solchen Funktion unweigerlich verbunden ist, lag mir gar nicht. So sind in meiner Erinnerung auch nur die vielen Abende haften geblieben, die ich in FDJ-Gruppen des Kreises verbrachte und zu den jungen Menschen über den Faschismus und seine Wurzeln sprach, über Ursachen und Folgen des Antisemitismus, über Konzentrationslager und über das Elend, das der von Hitlerdeutschland provozierte Krieg für viele Länder und Völker Europas gebracht hatte. Ich organisierte auch Literaturabende, vor allem mit Gedichten von Heinrich Heine. Die Schwierigkeit bei dieser Arbeit lag keineswegs in mangelndem Interesse der Jugendlichen - darüber oder etwa über irgendwelche Feindseligkeit mir gegenüber hatte ich nie zu klagen. Die Schwierigkeiten waren viel profaner: Wie sollte ich bei dem unregelmäßigem Zugverkehr auf den meist eingleisigen Strecken in die kleinen Erzgebirgsgemeinden kommen - von einer Rückfahrt nach Aue am späten Abend ganz zu schweigen. Zurückblickend wundere ich mich selbst darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit ich bei Kälte und Dunkelheit in irgendein Dorf gefahren bin, bei der Familie irgendeiner „Jugendfreundin“ übernachtete. Aber ich war damals fünfzig Jahre jünger, und jungen Menschen macht so etwas wenig aus. Angst hatte ich nie.

Einmal, ich sprach in einer FDJ-Gruppe über die Schuld Deutschlands am Krieg und seinen Greueln, wies ein Jugendlicher auf die Bombardierung deutscher Städte durch die Geschwader der Antihitlerkoalition hin. Bevor ich mit einer tiefgründigen Analyse des Charakters imperialistischer Kriege antworten konnte, meinte ein anderes Gruppenmitglied: „Wir haben zuerst Bomben abgeworfen, konnten wir da erwarten, daß die anderen mit Pfannkuchen werfen würden? Hätten wir nicht angefangen, die Engländer hätten keinen Grund gehabt, unsere Städte zu zerstören.“ An diese so einfache Antwort eines jungen Menschen, der seine ganze Kindheit im Nazistaat verbracht hatte, muß ich heute oft denken, wenn von den Internierungslagern nach 1945 die Rede ist. Hätte es keinen deutschen Faschismus mit seinem menschenverachtenden Wesen gegeben, es wären nie Internierungslager auf deutschem Boden eingerichtet worden, weder von der Sowjetunion noch von den USA oder England.

Zu meinen Aufgaben im FDJ-Kreisvorstand Aue gehörte auch die Entgegennahme und Begutachtung bzw. Auswahl der Bewerbungen für die Erweiterte Oberschule. Die Zulassungen mußten dann noch von der örtlichen Kommandantur der sowjetischen Besatzungsmacht bestätigt werden. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal meine Liste einsandte. Ich hatte nicht viel auszuwählen gehabt, die Zahl der Bewerbungen überstieg nicht die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze. Von der Kommandantur erhielt ich die Aufstellung zurück mit der Frage, ob es im Kreis Aue tatsächlich keine begabten Arbeiterkinder gebe? Erst da fiel mir auf, daß die Bewerbungen ausnahmslos von Intellektuellen- und Handwerkerfamilien kamen. Mir wurde klar, daß es sich nicht um die formale Entgegennahme handelte, sondern daß ich mich bemühen mußte, mit Hilfe der Lehrer der 8. Klassen solche Kinder für die weitergehende Bildung zu gewinnen, deren Eltern von sich aus gar nicht auf den Gedanken kamen, daß ein Arbeiterkind, mochte es noch so gute Zensuren haben, für ein Studium in Frage kommen könnte.

Im Sommer 1949 erhielt ich die Möglichkeit, die Landesparteischule der SED in Ottendorf bei Sebnitz zu besuchen. Ich schloß den Lehrgang mit sehr guten Resultaten ab - was wohl in erster Linie der Tatsache zu danken ist, daß ich mich bereits lange vor meiner Rückkehr in England mit marxistischer Literatur beschäftigen konnte, zu einer Zeit, als meine Altersgefährten in Deutschland nur von faschistischer Ideologie beeinflußt waren. „Theoretisch bist du sehr gut“, sagte nach dem Abschluß ein Genosse vom Landesvorstand zu mir, „aber du weißt ja nicht einmal, wie eine Fabrik von außen aussieht, geschweige denn von innen.“ Ich mußte ihm recht geben, und es kam zu der Festlegung, daß ich ein halbes Jahr im Tagebau Böhlen arbeiten sollte. Ich fuhr erst einmal für ein paar Tage nach Aue zu meinen „Pflegeeltern“; dann brachte mich ein Genosse vom Landesvorstand mit dem Auto nach Böhlen.

Was ein Tagebau war, hatte ich irgendwann einmal in der Schule gelernt, aber vorstellen konnte ich mir nichts darunter. Mit jeder Kilometertafel, die anzeigte, daß wir uns Böhlen näherten, sank mein Herz mehr und mehr. Aber ich hatte eingewilligt, und einen Rückzieher zu machen, war nie meine Sache. Ich habe in den Jahren von 1946 bis 1989 viel gesehen und viel erlebt - die Zeit im Tagebau Böhlen gehört zu meinen angenehmsten Erinnerungen. Die Frauenbrigade, der ich zugeteilt wurde, nahm mich freundschaftlich auf und führte mich mit großer Geduld in die Arbeit ein - ich wußte doch nicht einmal, wie man eine Schaufel hält, geschweige denn, wie man damit umgeht. Da wir im Brigade-Leistungslohn arbeiteten, mußte mein mangelndes Geschick sich auf alle Mitglieder der Brigade auswirken, aber niemand ließ mich das spüren. Als ich meine Kolleginnen einmal daraufhin ansprach, wurde mir erwidert, sie sähen doch, wie ich mich anstrenge; daß ich bisher andere Arbeit geleistet habe, könne man mir ja nicht vorwerfen. Ich war also weiter ins Unbekannte vorgedrungen und ich fühlte mich unter den Arbeiterinnen und Arbeitern des Braunkohlenwerkes sehr wohl. Dennoch griff ich sofort zu, als man mir nach einem Jahr die Arbeit anbot, die mir am meisten lag - zu unterrichten. Im August 1950 wurde ich Lehrerin an der Kreisparteischule der SED in Leipzig. Aber schon wenige Monate später machte die „Affäre Noël Field“ diesem Glück ein Ende. Wahrscheinlich wissen heute nur noch wenige, worum es sich dabei handelte. Der parteilose, links eingestellte US-Amerikaner Noël Field hatte während des Krieges Kontakt zu den kommunistischen deutschen Emigranten in Frankreich gehabt und ihnen in vieler Hinsicht geholfen. 1950 aber wurde er - ich weiß nicht durch wen - als Agent des USA-Geheimdienstes verleumdet. Er selbst wurde in Ungarn inhaftiert und alle Genossen, die irgendwie mit ihm Berührung gehabt hatten - und dabei handelte es sich um eine große Anzahl führender Genossen, wie z. B. Franz Dahlem und Paul Merker - aus ihren Funktionen entfernt, viele auch ins Gefängnis geworfen. In der SED entwickelte sich eine Art Agentenphobie. Alle Genossen, die in westlicher Emigration oder Kriegsgefangenschaft gewesen waren, wurden aus der Volkspolizei, aus propagandistischer Tätigkeit und aus verschiedenen anderen Funktionen entfernt. Auch mit meiner Arbeit an der Schule war es zu Ende. Für mich schien eine Welt zusammenzubrechen. Nicht etwa, daß ich im Stich gelassen wurde. Fritz Beyer, damals 2. Sekretär der SED-Kreisleitung Leipzig, schlug mir vor, Arbeitsdirektorin in einem der Leipziger Frauenbetriebe zu werden. Aber diese Aufgabe traute ich mir nicht zu, hatte wohl auch keine rechte Vorstellung, was sie beinhaltete. Ich wußte, daß mein theoretisches Wissen für die damalige Zeit gut und ich in der Lage war, es weiterzugeben. Aber genau das durfte ich nicht mehr tun. Eine Zeitlang arbeitete ich als FDJ-Sekretär im Volkseigenen Betrieb Leipziger Eisen- und Stahlwerke, später als Lehrer an der Betriebsberufsschule dieses Betriebes.

Übrigens ereignete sich in diesem Zusammenhang Seltsames. Im Tagebau Böhlen, wo ich ja noch vielen bekannt war, kam das Gerücht auf, ich sei verhaftet worden. Ein ehemaliger Böhlener Kollege war ganz erstaunt, mich auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig zu treffen. Von ihm erfuhr ich, daß ich angeblich im Gefängnis sei. Wie dieses Gerücht entstand, weiß ich nicht. Es zeigt aber die Einstellung, die gegenüber Genossen, die aus westlicher Emigration gekommen waren, bestand. Und dieses Gerücht war zählebig. Als ich im Frühjahr 1998 zufällig die Adresse eines Freundes aus der Böhlener Zeit erfuhr und ihn anrief, war er noch immer der festen Meinung, ich sei damals inhaftiert gewesen. Aber auch in dieser Zeit, die für mich in vieler Hinsicht nicht leicht war, habe ich nie eine antisemitische Bemerkung zu hören bekommen!

Während ich als Berufsschullehrer tätig war, bereitete ich mich auf die 1. Lehrerprüfung vor - meine einzige Qualifikation war ja der einjährige Neulehrerlehrgang. Anfang 1952 bewarb ich mich um ein Geschichtsstudium an der Universität Leipzig (den Namen Karl-Marx-Universität erhielt sie erst im Karl-Marx-Jahr 1953) und gleichzeitig - weil ich mir keineswegs sicher war, an der Universität angenommen zu werden, da meine 1941 in England abgelegte Matriculation-Prüfung im Niveau einem Abitur kaum entsprach - um eine Stelle als Lehrer des Institutes für Berufsschullehrerbildung. Eines Tages kamen dann, mit gleicher Post, die Einstellung am Institut für Berufsschullehrerbildung, zu einem für mich damals sagenhaften Gehalt von etwa 700,- Mark, und die Zulassung zum Studium mit einem Stipendium von 170.- Mark im Monat. Ich wählte die Universität.

Inzwischen war das Land, in das ich 1946 zurückgekehrt war, schon lange kein unbekanntes mehr. Damals konnte ich von einer Rückkehr sprechen, aber keinesfalls von einer Heimkehr. Nun, im Jahre 1952, war das Land, in dem ich lebte, zu meiner Heimat geworden. Sicher, das Leben war in diesen sechs Jahren, und auch noch in den folgenden, nicht leicht. Lebensmittel gab es während des Krieges auch in England auf Marken, aber was Hungern und Frieren heißt, hatte ich erst hier kennengelernt.

Meine Situation als ehemaliger „Westemigrant“ brachte auch noch während des Studiums manche Schwierigkeit mit sich. Ich hätte bei meiner Familie in England bleiben, vielleicht auch wieder dorthin gehen können, aber auf diesen Gedanken bin ich nie gekommen.

Ob ich meine Rückkehr nach Deutschland, speziell nach Ostdeutschland, je bereute? Ich habe hier keine besonderen Leistungen vollbracht, sondern nur mit meinen Mitteln dazu beigetragen, die faschistischen Denkweisen aus den Köpfen einer Reihe von Menschen (ich weiß nicht, wie vieler) zu vertreiben, ihnen zu helfen, die Welt mit offenen Augen zu sehen. Und ich bemühe mich heute, möglichst viele Menschen gegen neofaschistisches Denken immun zu machen. Ich war und bleibe Antifaschistin. Und Faschismus bleibt Faschismus, gleichviel, in welche Gewänder er sich kleidet.

Nein, ich habe keinen Grund, meinen Weg zu bereuen! 

Rahel Springer 


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