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Sie strömten über die offene Grenze herüber

(Berlin)

 

Ich arbeitete in einem Verlag, der weit verstreut in Berlin-Mitte untergebracht war. Am 17. Juni kam ich völlig ahnungslos zur Arbeit, da ich keinen RIAS gehört hatte.

Kurz nach Arbeitsbeginn wurde ich mit einem Kollegen in die Zentrale (Unter den Linden) zum Empfang von Instruktionen gerufen. Dort, in der Nähe des Brandenburger Tors, brodelten Menschenmassen, die vom Westen her durch die offene Grenze herüberströmten. Wer ein SED-Abzeichen trug, wurde bedroht und gezwungen, es abzulegen. Man plünderte Geschäftsauslagen und zündete einen Kiosk an. Nur mit großer Mühe konnten wir unsere Zentrale erreichen. Dort wurden wir beauftragt zu verhindern, daß Kollegen aus unserem Bereich den Betrieb verließen. Der Rückweg gestaltete sich ebenso schwierig.

Danach riefen wir die Kollegen unserer Abteilung zu einer Aussprache zusammen. Bis auf zwei verhielten sie sich ruhig, und die meisten distanzierten sich von den Vorkommnissen. Als wir die Tore abschlossen - auch um keine ungebetenen Gäste hereinzulassen - wurden die beiden Kollegen ausfällig und wollten sogar tätlich werden.

Aus der Gegend des Domes waren vereinzelte Schüsse zu hören. Vor unserem Betrieb war es jedoch relativ ruhig, und wir versuchten zu arbeiten. Da die S-Bahn den Betrieb eingestellt hatte und der Heimweg unter diesen Bedingungen sehr schwierig zu werden versprach, entließen wir alle Kollegen, die nicht zur Bewachung des Betriebes gebraucht wurden, nach Hause.

Ich blieb mit anderen im Betrieb und verbrachte eine ruhige Nacht. Am Morgen begrüßten wir auf der Straße eine sowjetische Patrouille, und damit hatte sich für uns der „Aufstand" erledigt. Den beiden „aufmüpfigen" Kollegen war danach anzumerken, daß sie auf Ärger gefaßt waren. Es geschah ihnen jedoch überhaupt nichts, und sie blieben auch weiter im Betrieb.

Nach etwa einer Woche wurde zur freiwilligen Teilnahme an einer Kundgebung aufgerufen. Und obwohl es in Strömen regnete, zog fast die gesamte Belegschaft mit vor das Haus der Ministerien, wo Fritz Selbmann eine Ansprache hielt.

Dr. Günter Lein 


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