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Versammlung auf dem Feld

(Jena)

Am 12. Juni 1953 schloß ich mein erstes Studienjahr an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Hauptfach Philosophie, mit den anstehenden Prüfungen erfolgreich ab. Danach war ein sechswöchiges Berufspraktikum für uns vorgesehen. Zuvor hatten verschiedene Gremien darüber beraten, worin denn nun für Philosophiestudenten ein solches Praktikum bestehen könne. Man kam zu der weisen Einsicht, daß es im Kennenlernen der sogenannten Praxis bestehen solle und zwar der unmittelbaren, direkten Produktionspraxis. Deshalb wurde ich mit anderen Kommilitonen für 6 Wochen in die MTS1 Frauenprießnitz im Kreis Jena/Land geschickt. Dort lernte ich harte körperliche Arbeit kennen und führte mit den Arbeitern viele Gespräche, die für mich eine gute Schule waren, abstrakten Lehrstoff mit der Praxis, Theorie mit dem Leben zu verbinden. Die Arbeiter nahmen uns gegenüber überhaupt kein Blatt vor den Mund. Warum sollten sie auch? In manchen Angelegenheiten waren sie kritisch, aber keineswegs feindlich gegenüber der Politik der jungen DDR eingestellt.

Die Nachricht, daß in Jena gestreikt werde und Demonstrationen stattfänden, schlug deshalb wie eine Bombe in unsere bis dahin normal ablaufende Arbeit ein. Viele konnten es zunächst nicht fassen, hielten es für ein Gerücht. Die meisten schüttelten den Kopf und zeigten, nachdem sich die ersten Informationen bestätigten, keinerlei Solidarität mit den „Streikenden". Was sollten wir tun? Die Lage auf der MTS war normal, d. h. ruhig. Alle gingen ihrer Arbeit nach. Wir Studenten führten nach der Arbeitszeit irgendwo auf dem Feld eine FDJ-Versammlung durch, denn auch in anderen Dörfern waren Studenten im Praktikum. Eine solche Versammlung war etwas Spannendes, fast Abenteuerliches, weil nichts Alltägliches.

Am Wochenende fuhren wir mit dem Bus wieder nach Jena. Inzwischen hatten wir so manches über den Ausnahmezustand gehört, der dort und anderswo ausgerufen worden war. Kurz vor Jena fand eine Ausweiskontrolle durch sowjetische Soldaten statt. Sie verlief ohne Zwischenfall. Laut Ausnahmezustand durften sich nur bis zu drei Personen „versammeln". Wir dagegen blieben beim Aussteigen am „Kupferhütchen" -einer Jenaer Gaststätte - noch wie selbstverständlich als größere Gruppe zusammen. Die Blicke zwischen uns und den sowjetischen Soldaten, die dort gelassen auf ihrem Panzer saßen, waren freundlich. Ich glaube, wir winkten uns sogar zu. Die Lage in Jena hatte sich inzwischen beruhigt. Hier und da sah man noch Spuren von Randalen und Ausschreitungen, meist vor öffentlichen Gebäuden. In einer Eisenbahnunterführung las ich eine Losung, in der von Freiheit und dergleichen die Rede war, hatte beim Lesen dieser Forderung aber ein ungutes Gefühl.

Mein Wirt in Wöllnitz, bei dem ich zur Untermiete wohnte - ein klassenbewußter Arbeiter aus dem VEB Schott - erzählte mir so manches über die Ereignisse des 17. Juni in seinem Betrieb. Seine Darstellungen halfen mir beim Verständnis dieses ersten Versuches, die DDR zu beseitigen.

Dr. Gerhard Peine


1  MTS - Maschinen- und Traktorenstation


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