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Erster Versuch einer Lebensbilanz

 Meine Frau und ich verbrachten die Weihnachtstage 1999 bei einem unserer Söhne und seiner Familie. Es waren vier Generationen beieinander. Das war schön, mitunter sehr berührend. Die beiden Urenkelkinder waren verständlicherweise Mittelpunkt vielen Geschehens, das kleinere Mädchen, dreieinhalb Jahre alt, berichtete immer wieder, mit Blick auf ihre Mutter, daß sie bald einen kleinen Bruder bekommen würde, Thomas solle er heißen, wie der Vati.

Dieses hier nur anzudeutende Geschehen machte uns oft nachdenklich, wir erinnerten uns immer wieder der hinter uns liegenden Jahrzehnte, und dieses Erinnern geht weiter. Wir beide sind zusammengerechnet 149 Jahre alt, seit 1946 sind wir verheiratet. Es liegt also nahe, das gelebte Leben in seiner Gesamtheit noch einmal zu bedenken. Wir wollen uns damit noch nicht von unserem Leben verabschieden. Wir tun manches, um uns möglichst lange dem Alter entsprechend gesund und leistungsfähig zu erhalten. Das aber muß Nachdenken über unsere gelebten Jahrzehnte nicht ausschließen. Unser Nachdenken darf wohl durchaus den Charakter einer Bilanz tragen, vielleicht den einer vorläufigen, den einer beginnenden Bilanz. Darin hat das gesellschaftliche Umfeld, haben auch Menschen, die uns besonders nahe, besonders verbunden waren, einen gebührenden Platz. Wichtig erscheint mir, sich auch einiger Erlebnisse zu erinnern, die eine gewisse Schlüsselfunktion für unsere Lebensgestaltung hatten.

Wir lernten uns 1945 kennen. Meine Frau war Operationsschwester in einem Kreiskrankenhaus im Harzgebiet. Ich war seit dem Kriegsende auf der Flucht, als Verwundeter brauchte ich medizinische Versorgung. Die fand ich in eben diesem Hause. Diese junge, lebhafte, hübsche Schwester nahm Anteil an meinen Erlebnissen, das tat sie gewiß auch anderen Patienten gegenüber. Wir aber kamen uns näher und ich erfuhr, daß auch sie den Krieg erlebt, eigentlich überlebt hatte. Das Krankenhaus war bombardiert worden, es gab schreckliche Szenen. Zeitweise mußten die eingelieferten Verwundeten im Keller operiert werden. Bedrückend müssen jene Aufgaben gewesen sein, die nach dem Versorgen der Soldaten erfüllt werden mußten. Dazu gehörte unter anderem, die amputierten Gliedmaßen in die Heizung zu transportieren, um sie dort verbrennen zu lassen. Und dann erfuhr ich, daß diese freundliche Schwester ein Jahr zuvor, kurz vor der Heirat, ihren Verlobten in Italien verloren hatte.

Es war ein schreckliches, ein belastendes Erleben, das uns beide bedrückte, obwohl wir darüber nicht allzuoft gesprochen haben. Wir jedenfalls wünschten uns Frieden, möglichst den immerwährenden. Jeder hatte den Krieg anders erlebt, auf jeden von uns wirkte er als Schlüsselerlebnis.

Mit der Zeit wurden wir immer deutlicher mit den Ursachen dieses Geschehens konfrontiert. Wir erhielten überzeugende, zugleich bedrückende Beweise für die Kriegsschuld unseres Volkes, für die unsäglichen Verbrechen, die in unserem Namen in den Konzentrationslagern begangen worden waren. Wir lernten Überlebende dieses Grauens kennen. Wir lernten, uns unserer Mitschuld zu schämen, denn beide waren wir durch den Nationalsozialismus erzogen, geprägt worden, auch jeder von uns im Elternhaus. Wir suchten Wege, um mit unseren Kräften dazu beitragen zu können, daß sich Derartiges nie wiederholen möge. Das war ein langanhaltender Denk-, ein schwerer Klärungsprozeß. Er dauerte viele Jahre. Mir hat beispielsweise der nach dem Kriegsende, vielleicht aus der Not heraus, geborene Berufswunsch, Lehrer zu werden, geholfen. Für mein ursprüngliches Ziel, einmal Forstwissenschaft studieren zu können, sah ich keine Möglichkeiten. Im Neulehrerkurs, auf meiner ersten Stelle als Dorflehrer, im Umgang mit den ähnlich belasteten Kollegen, erhielt ich jene Denkanstöße, jene Informationen, die mich, die uns wesentlich geprägt haben.

Wir hatten 1946 geheiratet, bis 1955 wurden unsere drei Söhne und unsere Tochter geboren. Wir wurden eine Familie, wir waren auf das Wohlergehen unserer Kinder bedacht, wir hatten auch verstanden, daß sich das nur verwirklichen läßt, wenn wir uns jenen Kräften anschließen, die aus ähnlichen, aus vielleicht noch schlimmeren Erfahrungen eine Wiederholung deutscher Geschichte der ersten Jahrzehnte dieses 20. Jahrhunderts vermeiden helfen wollten. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, der DDR, erlebten wir bereits bewusst. Mich stieß ab, daß der erste Präsident dieses Staates, Wilhelm Pieck, von einer Ehrenformation der Volkspolizei mit präsentiertem Gewehr begrüßt wurde, daß zu den Uniformen beispielsweise jene Schulterriemen gehörten, die mir aus der Nazizeit her bekannt waren Uns beide beeindruckte die gewählte Nationalhymne von Johannes R. Becher, in der es hieß, „. daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.“ Zwei Widerstandskämpfer, die sich in jenen Tagen in unserem Dorf aufhielten, waren unsere Gesprächspartner. (Einer von ihnen erkannte Ähnlichkeiten zwischen der Melodie der neuen Nationalhymne und dem Lied „Goodbye Jonny ...".)

Diese DDR wurde allmählich unsere Heimat. Für uns war unter anderem überzeugend für unsere Entscheidungsfindung, daß in der zuvor begründeten Bundesrepublik Deutschland so unendlich viele Überbleibsel aus dem früheren deutschen Reiche neues Leben bekamen, das betraf sowohl staatsrechtliche Grundlagen wie auch den Einsatz übelbeleumdeter Politiker und Offiziere, die sich um das faschistische Deutschland verdient gemacht hatten. Und wenn auch aus dem Deutschlandlied nur noch ein Vers übernommen wurde, um als Nationalhymne zu dienen, so konnten wir, wann immer wir sie hörten, die nicht gesungenen Verse nicht verdrängen, gedanklich hörten wir zudem das Horst-Wessel-Lied.

Wir wuchsen allmählich in diese neue Gesellschaft hinein, wir begannen zunächst sehr zögerlich, uns politisch zu profilieren. Ich trat beispielsweise erst 1951 der SED bei, ich hatte zwei Jahre Kandidatenzeit zu absolvieren. Zuvor hatte sich mir mancherlei am Leben dieser Partei wenig anziehend dargestellt, andererseits wollte und konnte ich mich nicht zum Maßstab aller Dinge machen. Das Wirken vieler mir bekannt gewordener Antifaschisten, sie hatten während des Widerstandskampfes teilweise Schreckliches ertragen müssen, ihre Standhaftigkeit, wurde mir Maßstab meines Handelns. Ich ordnete mich ein, um etwas von meinen Versäumnissen als Jugendlicher bis 1945 auszugleichen. Neben vielem Widersprüchlichem gab es überzeugende Erfolge. Insbesondere wurde das bewußt, wenn man das politische und wirtschaftliche Einwirken der Bundesrepublik berücksichtigte, denn das zielte in der Regel darauf, diese sich ausbildende, sich allmählich festigende Deutsche Demokratische Republik zu schädigen. Aber darüber muß an anderer Stelle und in anderen Zusammenhängen weiterhin geforscht, diskutiert und publiziert werden. Auch über jene Fehler, die in der DDR und durch die DDR begangen worden sind. Hier soll es vor allem um das persönliche Erleben, um die sich daraus ergebende innere Bindung an diesen Sozialismus gehen.

Es ist also zu fragen, was uns, was mir diese DDR brachte: Arbeit, gesundheitliche Versorgung, Bildungsmöglichkeiten für unsere Kinder und für uns, Wohnung, Kultur verschiedener Art, Freizeit, Reisen, kurz, alles zu einem gesicherten Leben Benötigte war gegeben. Sicher gingen unsere Wünsche auch über die gegebenen Möglichkeiten hinaus, konnten nicht voll befriedigt werden. Aber damit konnten wir leben, vor allem, wenn wir unsere Ansprüche und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung mit dem verglichen, was allein in den sozialistischen Ländern gang und gäbe war.

Unsere vier Kinder erhielten eine qualifizierte Schulbildung. Sie trieben in ihrer Freizeit Sport, insbesondere Wintersport, hierbei konnten sie sich hervorragend weiterentwickeln. Alle vier waren, wenn auch auf unterschiedliche Weise, kulturell tätig. Über Jahre, teilweise bis zum Abitur, wirkten sie in Chören mit, sie hatten unvergeßliche Erlebnisse. Alle vier hatten studiert, dabei kamen die unterschiedlichsten Fachrichtungen in Frage, nicht immer waren die Studiengänge konsequent durchgehalten worden, es gab Unterbrechungen, Wechsel.

Unser ältester Sohn studierte Rechtswissenschaft, arbeitete im Wirtschaftsrecht, wurde Staatsanwalt, heute führt er eine Anwaltskanzlei.

Sein jüngerer Bruder, einstmals ein ausgewiesen guter Wintersportler, wurde Offizier der Volksmarine, spezialisierte sich zum Lehrstuhlleiter für Navigationsverfahren an der Offiziershochschule in Stralsund, wurde promoviert und habilitierte sich. Er schied zum 30. September 1990 aus dieser Einrichtung aus. Heute bringt er als Selbständiger seine Spezialkenntnisse in besonderer Form in die Wirtschaft ein.

Unsere Tochter wurde Lehrerin für Deutsch und Geschichte, sie erwarb weitere Diplome. Sie spezialisierte sich auf den Umgang mit Hörgeschädigten. Seit Ende der achtziger Jahre leitet sie mit geringen Unterbrechungen eine große, in dieser Fachrichtung wirkende Sonderschule.

Unser jüngster Sohn, heute auch schon vierundvierzig Jahre alt, war als Polizeioffizier intensiv mit Kraftfahrzeugen beschäftigt. Heute arbeitet er im Versicherungswesen, wieder geht er mit Kraftfahrzeugen um.

Alle vier Kinder bauten auf jenen Grundlagen auf, die während ihrer Schulzeit und während ihrer Studiengänge weit vor 1989 gelegt worden sind. Das gilt übrigens auch für die älteren unter unseren neun Enkelkindern, wenn auch bei einigen von ihnen Brüche erkennbar wurden.

Aber auch wir beide, also meine Frau und ich, verdanken den gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR viel für unser beider berufliche Weiterentwicklung. Meine Frau, qualifizierte Operationsschwester, sie hat nur wenige Jahre pausiert, erwarb noch einen zusätzlichen Fachschulabschluß. Zu dieser Zeit war sie bereits fünfzig Jahre alt. Sie war an der medizinischen Grundausbildung späterer Nautischer Offiziere der DDR-Handelsflotte beteiligt. Um spezielle Praxiserfahrungen sammeln zu können, fuhr sie während der siebziger und bis in die achtziger Jahre hinein insgesamt einundeinhalbes Jahr zur See, fast immer wurde sie zu Schiffsarzt-Vertretungen eingesetzt. Sie beendete ihr Berufsleben im Alter von fünfundsechzig Jahren.

Auch meine berufliche Weiterbildung war an die gesellschaftlichen Bedingungen dieses kleinen Staates gebunden. Nach erster und zweiter Lehrerprüfung wurde ich Schulleiter, später Schuldirektor einer zehnklassigen allgemeinbildenden Oberschule. Mir waren jüngere, sehr qualifizierte Lehrer nachgeordnet, also begann ich ein Fernstudium. Es erstreckte sich über mehr als sechs Jahre. Ich stellte mich zwei Staatsexamen und schloß mit der Lehrbefähigung für die erweiterte Oberschule ab. Während dieser Jahre gewann ich Freude an wissenschaftlicher Arbeit und konnte mich um eine außerplanmäßige wissenschaftliche Aspirantur bewerben. Ich erhielt sie am Lehrstuhl für Wissenschaftlichen Atheismus der Universität Jena, ich blieb aber Lehrer an einer bekannten erweiterten Oberschule, bis mich mein Doktorvater an eine Hochschule in Rostock holte.

Obwohl es in der DDR striktes Verbot gab, soziologische Untersuchungen anzustellen, es sei denn, sie waren von oberster Instanz genehmigt, gelang es mir, mit einer solchen, eigenständig angestellten Untersuchung zu Problemen der Religionssoziologie mein Promotionsverfahren in Gang zu bringen, es erfolgreich abzuschließen. Dabei verstand ich mich keineswegs als Widerstandskämpfer. Hingegen war ich überzeugt, sorgsam mit den Erhebungen umgegangen zu sein und zugleich hilfreiche Erkenntnisse für einen achtungsvollen Umgang mit Christen, insbesondere mit christlich geprägten Abiturienten, gewonnen zu haben. Das führte zu einer für mich wichtigen Erkenntnis, die ich während der folgenden Jahre stets zu vertreten bemüht war: Christen können sich durchaus für eine sozialistisch bestimmte gesellschaftliche Entwicklung engagieren. Sie sollten nicht, einem Denkschema folgend, von vornherein als Gegner einer solchen Entwicklung verstanden, abgestempelt und bekämpft werden. Ich finde diese Erkenntnis übrigens auch Ende der neunziger Jahre immer wieder bestätigt.

Es konnte nur angedeutet werden, daß und wie uns die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR geprägt hat. Daß es so war, ist für uns in keiner Weise beschämend. Wir sind dafür dankbar, auch wenn wir immer wieder erleben mußten, wie widerspruchsvoll, mitunter völlig unverständlich, politische Entscheidungen getroffen und durchgesetzt worden sind. In dieser Hinsicht wurden wir mithin gut auf unser derzeitiges neues Leben vorbereitet.

Wir haben die „Wendezeit“ in schmerzlicher Erinnerung. Unsere Kindheit und Jugend hatten wir in einem politisch einheitlichen Land gelebt. Die Politik der Herrschenden hatte auch uns ganz persönlich viel Leid gebracht. Nun hatten sich zwei deutsche Staaten ausgebildet und in dem kleineren, in der DDR, wurde versucht, einen anderen, einen menschlichen Weg gesellschaftlicher Entwicklung zu gehen, leider auch mit Mitteln und Methoden, die diesem Ziel nicht entsprachen. Unsere Hoffnung war es, dieses Staatswesen im Innern zu verändern, es seinen Bürgern wieder nahebringen zu können, es zu reformieren. Das wäre eine andere Möglichkeit der Wiedervereinigung geworden, dann auf der Grundlage von Gleichberechtigung beider Partner. Die Entwicklung verlief anders, damit müssen wir uns heute auseinandersetzen.

Ich weiß nicht, wie unsere Familie sich unter westdeutschen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt hätte. In mancher Hinsicht wären vielleicht ähnliche Verläufe möglich gewesen, aber auch viele andere sind denkbar. Und deshalb bleibt mein erster, kurzgefaßter Versuch einer Lebensbilanz durch unseren versuchten Weg zu einem Sozialismus bestimmt. Solange wir noch die Kraft haben, werden wir uns bemühen, für eine „Assoziation“ einzutreten, „worin die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Manifest der Kommunistischen Partei, Kapitel II, Schlußsatz).

Dr. Wolfgang Kaul 


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