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Ein Leben mit der Jugend

 Die Deutsche Demokratische Republik - das waren die besten Jahre meines Lebens; und mein Leben in der DDR war ein Leben mit der Jugend.

Ich verbrachte meine Kindheits- und Jugendjahre bis Sommer 1959 in dem Dorf Bollstedt, Kreis Mühlhausen/Thür. Wir wohnten zur Miete, nutzten 1 Morgen (0,25 ha) Pachtland. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater verdiente 1951 als Milchleistungsprüfer monatlich netto 242,60 M. Ich war das zweite von fünf Kindern. Ab Sommer 1952 - damals beendete ich die fünfte der acht Klassen führenden Grundschule unseres Dorfes - arbeitete ich nachmittags und in den Ferien ganztägig bei Bauern. Unser Pachtland bestellten wir an Wochenenden, wofür wir als Bestandteil unserer Entlohnung Pferde, Ackerwagen und -geräte kostenlos nutzen konnten.

Wir haben damals Arbeiten verrichtet, die später durch die Mechanisierung in der Landwirtschaft kaum noch anfielen. Aber es machte schon stolz, wenn z. B. eine mehrere Meter hohe Fuhre Getreidegarben den kilometerweiten Transport durch die Flur und das Dorf bis zur Scheune, akkurat geschichtet und ohne Garben verloren zu haben, überstand. Die moralische Anerkennung, ausdauernd bei Wind und Wetter eine solide Arbeit vollbracht zu haben, war ebenfalls eine nicht unwichtige „Entlohnung“.

Da ich mit meinen zwölf Jahren die gleiche Leistung wie die Erwachsenen erbrachte, bekam ich ab Herbst 1952 von Ewald Hühn, bei dem ich meistens arbeitete, pro Stunde 1 M; hinzu kamen Verpflegung und ein Zentner (50 kg) Weizen als Erntegeschenk. So verdienten meine Brüder und ich einen großen Teil unserer Nahrung, Kleidung und Schuhwerk.

Ab Herbst 1952 ging ich aber dienstags und freitags nach der Feldarbeit noch eineinhalb Stunden lang zum Geräteturnen der Betriebssportgemeinschaft „Traktor“ Bollstedt, deren Trägerbetrieb die Maschinen-Traktoren-Station in Görmar war. Wir lernten, gerade zu stehen und zu gehen sowie korrekt auf Kommandos zu reagieren. „Turner, auf zum Streite“ sangen wir besonders gern. Irgendwie hatten wir den Eindruck, daß Disziplin, Korrektheit, Mut, Kraft und Körper- und Selbstbeherrschung zum Markenzeichen des Geräteturners gehörten. Hatte sich jemand von uns in der Schule oder überhaupt im Dorfe unkorrekt verhalten, konnte das vorübergehend oder längere Zeit zum Ausschluß vom Turnen führen. Und das empfanden wir als wirksame Strafe. Höhepunkte waren jährliche Turnfeste, das Schauturnen am Boden, Barren, Reck, Seitpferd, Längspferd oder an den Ringen sowie Wettkämpfe. Ab 1954 kam ich in die Riege der „Großen“ und wurde selbst Trainer von Schulkindern.

Ab September 1951, mit Beginn meiner 5. Klasse, begann bei uns der Fachunterricht. Ich zeichnete und malte gern. Geschichte fand ich interessant und trat in die Arbeitgemeinschaft (AG) „Junge Historiker“ ein. Ein Besuch unserer AG in der Abteilung Ur- und Frühgeschichte des Heimatmuseums Mühlhausen machte großen Eindruck auf mich. Dort waren Funde von zahlreichen Ausgrabungen des Kreisgebietes zu sehen.

In der Lehmgrube des Dorfes fand ich Teile eines menschlichen Skeletts sowie ein handgroßes Tongefäß mit eingeritzter Verzierung. Danach richtete ich in der Kammer, in der mein Bruder Adolf und ich schliefen, ein kleines Museum ein. An drei Wänden stellte ich das Leben in Urgesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus mit Zeichnungen, kurzen Texten und vor allem echten Sachzeugen (z. B. Sense, Dreschflegel, Flachsbrecher, Spinnrad, Gemeindeklingel) dar. Wie es im Geschichtsbuch zu sehen war, baute ich Nachbildungen von urgesellschaftlichen hölzernen Steinbohrern oder von Gestellen zum Weben. Die „Krönung“ des Museums war mein ausgegrabener Fund - aber nur solange, bis ihn meine Mutter zum ersten Mal sah. Die Fundstücke kamen ins Heimatmuseum. Meine Absicht, mich mit der Geschichte der Menschheit zu beschäftigen, war nun jedoch tief in mir verwurzelt.

Allmählich kamen zu den Schulbüchern andere Bücher hinzu. Fast alle, die mich in diesen wichtigen Jahren meiner Persönlichkeitsentwicklung begleiteten, habe ich noch heute. Ich lese die Widmungen und erinnere mich an diese Jahre.1 Von meinem verdienten Geld kaufte ich in diesen Jahren selbst noch Bücher hinzu.2 Zu Hause wurde das Lesen allerdings als Beschäftigung angesehen, die wenig einbrachte und daher nur als „Schmökern“ galt.

Die Literatur verstärkte in mir den Traum, Forschungen zu betreiben, möglichst verbunden mit Wanderungen und Fahrten. Das Lied der jungen Naturforscher „Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau glänzt ihr im Haar“ spielte ich abends nach der Arbeit gern auf der Ziehharmonika. Dem Kinderbuch „Auf dem Pfade der Wagehälse“ nacheifernd, bauten mein Schulfreund Martin Michel und ich für eine „Expedition“ im Sommer 1953 ein Floß. Es erwies sich aber im Flüßchen Unstrut als nicht imstande, sich selbst und uns nebst Gepäck über Wasser zu halten.

Mit dem Fachunterricht und der Bekanntschaft mit guten Büchern einerseits und meiner Zusammenarbeit mit Erwachsenen andererseits entwickelte sich allmählich ein immer heftiger werdender weltanschaulicher Konflikt. Mein Heimatkreis lag unter der Luftlinie der amerikanischen, britischen und französischen Flugzeuge, die von Frankfurt/Main nach Berlin(West) und zurück verkehrten. Bei der Feldarbeit fanden wir damals häufig über unserer Gegend abgeworfene Flugblätter vom „Ostbüro der SPD“ oder von der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, die offen zur Bekämpfung der Staatsordnung in der DDR und zum Sturz der SED aufriefen. „Argumente“ von solchen Flugblättern, über die während der Feldarbeit oder des Frühstücks diskutiert wurden, wiederholte ich im Gegenwartskundeunterricht und kam mir damit mutig vor.

In den Sommerferien 1954 verstarb unser Schulleiter, Herr Böhning. Mit Beginn meiner 8. Klasse wurde als sein Nachfolger Max Hartmann - damals 27 Jahre jung und schon in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen - eingesetzt. Bei ihm hatten wir nun Deutsch, Zeichnen, Geschichte und Gegenwartskunde. Auch ihm gegenüber wollte ich als Vierzehnjähriger mein oppositionelles Verhalten an den Tag legen. So hatten wir schulfrei bekommen, um in der Ende 1952 gegründeten und wirtschaftlich noch schwachen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft bei der Kartoffelernte zu helfen. Aber ich half auf dem Felde von Hühns. Bei der nächsten Gelegenheit fragte mich mein neuer Schulleiter, warum ich nicht in der LPG war. Ich schwieg. Er: „Warum antwortest du nicht, hast du kein Vertrauen zu mir?“ Ich: „Nein!“ Nun erwartete ich, daß er die Beherrschung verliert. Aber das tat er zu meiner Verblüffung nicht, sagte nur: „Wenn das so ist, dann ist das etwas anderes.“ Es folgte keine Bestrafung; er war nicht nachtragend und sagte auch nichts zu meinen Eltern. Darüber war ich verwirrt. Er machte einen interessanten, wissenschaftlich fundierten Unterricht, überzeugte mich nach und nach unaufdringlich immer mehr mit Fakten.

Er führte in Bollstedt auch zum ersten Mal Stunden zur Vorbereitung auf die Jugendweihe durch, die ich ebenfalls überzeugend fand. Das brachte mich noch mehr in Konflikt mit den Positionen, die uns von Erwachsenen und im Konfirmandenunterricht dargelegt wurden. Dennoch wollte ich nach der Konfirmation, die im April war, im Sommer an der Jugendweihe teilnehmen. Da hatte ich aber doch die Rechnung ohne den „Wirt“, nämlich meinen Vater, gemacht. Er sang immerhin im Kirchenchor, hatte auch eine innere Beziehung zur christlichen Religion und empfand eine kirchliche Feier im Vergleich zum mühevollen Alltag als einen kulturellen Höhepunkt (wofür ich bis heute Verständnis habe; wem in einer geschmückten Kirche und beim Ertönen der Orgel sowie der getragenen Gesänge nicht irgendwie warm ums Herz wird, der hat meines Erachtens zumindest ein wenig entwickeltes Gefühl). Er gab also im letzten Moment, nachdem auch noch mal der Pfarrer mit ihm gesprochen hatte, nicht seine Unterschrift. So nahm 1955 in Bollstedt niemand an der Jugendweihe teil.

Wie schon bemerkt, mußte ich nach der Schule Geld verdienen. Nach meinen noch vorhandenen Belegen hatte ich beispielsweise im Jahre 1954, also in der 7./8. Klasse, 366,72 Mark Einnahmen. Ich malte auf Bestellung von Nachbarn Landschaftsaquarelle. Für den Kuhstall der LPG beschriftete ich Tafeln, nahm erfolgreich an einem Preisausschreiben „Materialeinsparung“ teil und half dem Öbster beim Kirschenpflücken sowie mehreren Bauern bei Feldarbeiten und beim Hausdrusch. Schließlich kopierte ich durch Vermittlung meines Vaters für den Kirchenchor Noten.

Ich kaufte mir von diesen Einnahmen im Laufe der Jahre neben Kleidung, Schuhen und Schreibwaren auch einige hochwertige Gebrauchsgegenstände, z. B. ein Fernglas 10 x 50 des VEB Carl Zeiss Jena (389,50 M). Auf dem Auslieferungsschein dafür unterschrieb ich am 19. Mai 1958 folgende Belehrung: „Es ist nicht gestattet, diese Ware nach West-Berlin, West-Deutschland oder dem Ausland zum Zwecke des Verkaufs, Verschenkens, Verleihens oder Lagerns zu transportieren. Der illegale Transport dieser Ware aus der DDR und dem demokratischen Sektor von Berlin nach West-Berlin, West-Deutschland oder dem Ausland wird nach den geltenden Gesetzen bestraft.“ Dieses Dokument spiegelt die schwierige Lage wider, unter der damals in der DDR ein im Vergleich zur BRD grundsätzlich neuer Gesellschaftszustand, der nicht privates, sondern gesellschaftliches Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln zur Grundlage hatte, zu errichten war. Bei praktisch offener Grenze wurden unserer Republik bis zur Sicherung der Westgrenze am 13. August 1961 - selbst nach Berechnungen westdeutscher Wirtschaftsinstitute - etwa 100 Milliarden DM an hochwertigen Konsumgütern sowie viele Tausende auf öffentliche Rechnung ausgebildeter Fachkräfte zielgerichtet entzogen!

Am 25. August 1954 bescheinigte mir das DRK Mühlhausen nach Teilnahme an einer Arbeitsgemeinschaft meine erfolgreiche Ausbildung als „Junger Sanitäter“. Wir brachten eine fahrbare alte Sanitätstrage, gebaut um die Wende zum 20. Jahrhundert, „in Schuß“ und nahmen sie zu unseren Einsätzen, z. B. auf den Sportplatz, mit.

Am 22. Juni 1955 bat ich um Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Die 9. Klasse absolvierte ich in der Mühlhäuser Mittelschule „Thomas Müntzer“ und die 10. bis 12. in der dortigen Oberschule. In beiden Schulen beteiligte ich mich zunehmend an der Entwicklung einer sinnvollen FDJ-Arbeit, worunter ich vor allem gemeinschaftliches Ringen um gute Lernergebnisse, um eine niveauvolle kulturelle Arbeit und die Entwicklung der Selbständigkeit der gewählten Leitungen des Jugendverbandes in den Klassen und in den Schulen verstand.

Ich gehörte zu den „Fahrschülern“. In dieser Bezeichnung klang etwas geringschätzig mit, daß wir eben „vom Dorfe“ kamen. Das hieß aber auch, daß wir die schulischen Aufgaben unter ungünstigeren Voraussetzungen zu erfüllen hatten. Die Unterstützung von Fahrschülern sah ich deshalb als einen wichtigen Bereich der FDJ-Arbeit an.

1956 nahm ich erneut an den Jugendstunden teil und bat meinen Vater so lange, bis er widerstrebend die Einwilligung zu meiner Jugendweihe gab. Diese fand für etwa 20 Teilnehmer des Kreises Mühlhausen am Sonntag, dem 13. Mai 1956 vormittags statt. Das Kreiskulturorchester spielte uns zu Ehren Werke von Beethoven, Bach und Händel. Die Zahl seiner Mitglieder war größer als die der Jugendweiheteilnehmer des gesamten Kreises! Für ihre Verwandten und Bekannten genügten die ersten beiden Stuhlreihen des großen Saales. Ich war allein gekommen und auch der einzige Schüler aus Bollstedt.

Wir gelobten damals, „für ein glückliches Leben der werktätigen Menschen und ihren Fortschritt in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zu wirken“, „für ein einheitliches, friedliebendes, demokratisches und unabhängiges Deutschland“ mit unserem „ganzen Wissen und Können einzutreten“ und „im Geiste der Völkerfreundschaft zu leben“ und „unsere Kräfte einzusetzen, um gemeinsam mit allen friedliebenden Menschen den Frieden zu verteidigen und zu sichern“.

Im Herbst des gleichen Jahres trat ich auch in die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft ein. Diese Freundschaft war stets aufrichtig und mußte mir von niemandem „verordnet“ werden.

Ab September 1955 erhielt ich staatliche Stipendien: 25 Mark in der 9., 45 Mark in der 10. und 60 Mark monatlich in der 11. und 12. Klasse (davon gab ich 10, 20 und 30 Mark meiner Mutter). Für ganze 2,30 Mark fuhr ich mit einer Schülermonatskarte montags bis sonnabends von Bollstedt die fünf Kilometer zur Schule. Jetzt konnte ich nur noch an Wochenenden und in den Schulferien auf dem Felde oder beim Hausdrusch des Getreides helfen.

Die Weitervermittlung meiner Kenntnisse und Erfahrungen vor allem an jüngere Menschen begann mir zunehmend Freude zu bereiten. Ab Januar 1957 leitete ich die AG „Segelflugmodellbau“ der Bollstedter Grundschule. Wir waren sehr stolz, als selbst Tischler Walter Kleinschmidt uns beim Anblick eines großen Modells (2,40 Meter Flügelspanne) sagte, daß dies eine solide Arbeit sei. Wir versahen das Modell sogar noch mit einem kleinen Motor, der mit einem Gemisch von Äther und Rizinusöl angetrieben wurde. Diese AG fand einen ebensogroßen Zuspruch bei den Pionieren des Dorfes wie das Geräteturnen oder die „Jungen Sanitäter“.

Einmal fuhren wir mit den Fahrrädern von Bollstedt bis nach Bienstedt (nordwestlich von Erfurt), um uns vom damaligen Stützpunkt der „großen“ Segelflieger Sperrholz, Balsa-, Linden- und Kiefernholz zu holen. Im August 1958 unternahmen wir sogar eine einwöchige Fahrt durch den Thüringer Wald mit z. T. aus Ersatzteilen selbst zusammengebauten Fahrrädern. Am vorletzten Tag dieser Tour besuchte ich mit den Jungen Pionieren das ehemalige KZ Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar. Das war ein unvergeßliches Erlebnis. Danach waren wir alle hocherfreut, als uns die Besatzung eines Lastwagens der Sowjetarmee auf meine in russischer Sprache vorgetragene Bitte mit nach Weimar nahm.

Ab September 1957 stellte mich der Rat der Gemeinde Bollstedt für 30 Mark pro Monat als Leiter der Gemeindebibliothek ein. 1957 und 1958 kamen Arbeitseinsätze in der LPG meines Heimatdorfes, beim Bezirksjugendobjekt Rückhaltebecken Straußfurt, im VEB Lederwarenwerk Mühlhausen und in der Abt. Volksbildung (zur Organisierung der Ferienspiele für Kinder des Kreises Mühlhausen) hinzu.

Ich legte mir nun auch schwerer zu „verdauende" Literatur zu3 und abonnierte ab Januar 1958 das Zentralorgan der SED „Neues Deutschland“.

Im Spätherbst 1957 wurde ich auf der Delegiertenkonferenz zum FDJ-Sekretär unserer 400 Schüler ausbildenden Oberschule in Mühlhausen vorgeschlagen und gewählt. Ich wollte nicht enttäuschen und nahm die Arbeit ernst. Das war für mich als Schüler der 11. Klasse allerdings eine große zusätzliche Belastung. Denn dieses Schuljahr galt als das schwerste, und mit seinen Zensuren mußten wir uns zum Studium bewerben. Ich erinnere mich noch gut an jenen Herbst, weil am 4. Oktober und 3. November 1957 die ersten beiden künstlichen Erdtrabanten, die „Sputniks“ der Sowjetunion, erfolgreich auf eine Erdumlaufbahn gebracht wurden. Diese Leistung, dieses wahre „russische Wunder“, löste bei uns eine große Begeisterung und in der westlichen Welt einen ziemlichen Schock aus. Im Fach Mathematik, speziell in der Sphärischen Trigonometrie, berechneten wir von nun an auch Umlaufbahnen von Sputniks um die Erde.

Trotz der wachsenden Aufgaben an meiner Mühlhäuser Schule übernahm ich zusätzlich noch die Leitung der FDJ-Gruppe Bollstedt. Im Februar des gleichen Jahres wurde ich als Kandidat in die SED aufgenommen. Es bürgten für mich meine Klassen- und Mathematiklehrerin, Studienrätin Elsa Tappenbeck, und Lateinlehrer Dr. Killiches.

Nach dem V. Parteitag der SED (10. bis 16. Juli 1958 in Berlin) beschloß der Zentralrat der FDJ, den „Kompaß“-Wettbewerb der Jugend unter der Losung „Der Sozialismus siegt!“ zu organisieren. Die Nadel auf dem „Kompaß“ jeder FDJ-Grundeinheit sollte auf die „Marschrichtungszahl 60“ ausgerichtet werden (1960 war das letzte Jahr des 2. Fünfjahrplans der DDR). Diese Idee fand ich gut und schlug vor, daß auch wir Bollstedter mitmachen.

So begannen wir am 2. und 3. August 1958 - einem Wochenende - mit der Säuberung eines zugewachsenen Abflußgrabens in der Trift, damit das Wasser wieder abfließen konnte. Dazu steckten wir die Fahne unserer FDJ-Gruppe jeweils einen Arbeitsabschnitt weiter. Von der FDJ-Kreisleitung hatte ich ein großes rechteckiges Hauszelt besorgt. Beides erregte Aufsehen und zog immer mehr Jugendliche an. Aber auch Gemeindevertreter Oscar Ketzer kam und arbeitete mit. Bürgermeister Günter Huschke, der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei (ABV) Werner Baumbach, der Bauernkorrespondent Heinrich Hamm sowie eine Anzahl Einwohner sahen nach dem Rechten. Nach der Arbeit, dem Baden in der Tongrube und dem Abendessen am Lagerfeuer sangen wir Lieder, die ich auf meiner Ziehharmonika begleitete. Der Text eines Liedes lautete:

„Hört die Jugend!

Wohin wir blicken,

ob in Fabriken,

Schulen und Kontor –

ringt sich ein neuer

und wahrhaft freier

Jugendgeist empor.

Eng verbunden Land und Städte,

junges Geschlecht der Tat!

Wer mit uns die Heimat rettet,

ist unser Kamerad!

Laßt uns Brüder werden,

in Lust und Leid Gefährten,

wenn unsre Lieder klingen,

zieht Freude in uns ein!

Hand und Herzen dienen

an Pflugschar und Maschinen,

dann wird das Werk gelingen,

wir werden glücklich sein!“

Das paßte damals genau zu uns!

Am Sonntag arbeiteten wir von 8 bis 12 Uhr und schafften so unser gestelltes Ziel. 110 Meter Graben waren in Ordnung gebracht, und zusammengerechnet hatten wir 150 unentgeltliche Stunden für das Nationale Aufbauwerk geleistet. Das war der Auftakt für eine neue Ära der FDJ-Arbeit in Bollstedt.

Von da an halfen wir in der LPG bei der Ernte, gestalteten in 25 abendlichen Arbeitseinsätzen auf einer Fläche von 915 Quadratmeter einen Kinderspielplatz, schälten für die Umzäunung getrocknetes Fichtenholz, brachten an der Gemeindeschenke unseren beleuchteten Schaukasten an, nahmen am zweitägigen Herbstgeländespiel des Kreisverbandes der FDJ teil, gründeten mit finanzieller Unterstützung der LPG einen Fanfarenzug und übten Märsche und Lieder ein. Wir wirkten bei der Festveranstaltung zum 9. Gründungsjubiläum der DDR mit, besuchten in Mühlhausen spannende Filme, gestalteten unser Jugendzimmer im Gebäude der Gemeindeschenke aus, beteiligten uns an Agitationseinsätzen im Kreis zur Vorbereitung der Volkskammer- und Bezirkstagswahlen 1958, brachten einen im Gemeindearchiv gefundenen alten Ormig-Abzugsapparat „in Schuß“ und vervielfältigten damit selbstentworfene Flugblätter, führten das FDJ-Studienjahr durch und stellten uns erfolgreich den Prüfungen zum Erwerb des Abzeichens „Für gutes Wissen“ (Bronze), halfen beim Pflanzen von Obstbäumen, gestalteten eigene Geländespiele mit Übernachtung im Freien, führten Besprechungen der Bücher „Neuland unterm Pflug“ von Michail Scholochow und „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz durch und gestalteten die Feiern zum Internationalen Frauentag sowie zum 1. Mai mit aus.

Allein im Jahr 1958 leisteten wir Bollstedter FDJler 1461 Arbeitsstunden unentgeltlich im NAW - die Arbeitseinsätze in der LPG nicht eingerechnet! Viele von uns wurden daher „in Anerkennung vorbildlicher Leistungen im NAW“ öffentlich mit der Ehrennadel in Bronze ausgezeichnet.

Danach wurde unsere Grundeinheit auf der Kreisdelegiertenkonferenz der FDJ im Februar 1959 und in der Kreiszeitung „Das Volk“ mehrfach lobend erwähnt. Aber wichtig war vor allem, daß wir unser Leben auch ohne den Einsatz großer materieller Mittel sinnvoll und fröhlich gestalteten.

Leider konnte ich die Gruppe in Bollstedt später nicht mehr leiten, da mein Vater im Sommer 1959 eine Arbeitsstelle als Schweinehilfsmeister im Volkseigenen Gut Sambach bei Mühlhausen annahm und unsere Familie nach dort umzog. So verließ ich im 10. Jahr der Gründung der DDR mein Heimatdorf, das für mich eine Schule fürs Leben geworden war und mir auch mein Leben lang nicht aus dem Sinn gehen wird. Hier vor allem lernte ich zu arbeiten und das Leben zu meistern, was mir später immer wieder zugute kam. Aber die Verbindung zu Bollstedt riß nicht ab. Denn obwohl ich danach auch in der FDJ-Gruppe Sambach mitarbeitete, half ich meinen Bollstedter Jugendfreunden weiterhin.

Ab September 1958 hatte unsere Oberschule wieder einen hauptamtlichen FDJ-Sekretär, so daß ich mich in meinem 12. Schuljahr mehr auf die schulischen Aufgaben konzentrieren konnte. Für meinen deutschen Reifeprüfungsaufsatz wählte ich aus den möglichen Themen den Ausspruch Brechts im „Leben des Galilei“: „Die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit“. Gegenstand meiner Abhandlung waren Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung in Bollstedt.4 Von uns 80 Abiturienten des Mühlhäuser Jahrgangs 1959 bestanden 2 nicht, 24 mit „Bestanden", 45 mit „Gut", 4 (darunter ich) mit „Sehr gut" und 5 mit „Auszeichnung“. Leider verließen 5 Schüler aus den 9. bis 12. Klassen unserer Schule während der anschließenden Sommerferien die DDR.

Am 14. Mai desselben Jahres erklärte ich im Staatlichen Notariat Mühlhausen meinen Austritt aus der evangelischen Kirche. Die christliche Religion war inzwischen nicht mehr meine Weltanschauung. Der Kirchenaustritt fiel mir angesichts meiner Herkunft sowie der familiären und heimatlichen Umgebung nicht leicht. In den Jahren 1953 bis 1956 hatte ich weltanschauliche Konflikte durchlitten, bei deren Bewältigung ich nur etwa fünf Personen außerhalb der Familie ins Vertrauen ziehen konnte. Deshalb kann ich mich seitdem auch besser in die Gefühlswelt von Menschen versetzen, die sich in ähnlicher Lage befinden. Am Totensonntag 1959, dem letzten Sonntag des Kirchenjahres, wurde ich vor der Kirchengemeinde abgekanzelt. Damit kamen meine Eltern in der Verwandtschaft und Bekanntschaft ins Gerede. Aber meine Mutter stellte sich unerwartet auf meine, auf die Seite ihres Jungen - eben wie eine Mutter!

Ursprünglich hatte ich ein Archäologiestudium aufnehmen wollen. Aber während eines „Tages der offenen Tür“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena geriet ich in die Vorlesung von Nationalpreisträger Prof. Dr. Georg Mende über ein philosophie-geschichtliches Thema. Von diesem Moment an wußte ich, daß ich auf jeden Fall Philosophie studieren würde.

Uns wurde dringend empfohlen, vor diesem Studium eine Zeitlang praktisch zu arbeiten und damit erst einmal etwas vom Leben kennenzulernen. Nachdem ich mir während des Schulsports eine Meniskusverletzung zugezogen hatte, kam der von mir beabsichtigte freiwillige Wehrdienst in der NVA zunächst nicht mehr in Frage. Deshalb willigte ich ein, bis zum Studienbeginn als hauptamtlicher FDJ-Sekretär an „meiner“ Oberschule Mühlhausen zu arbeiten und bekam zum ersten Mal in meinem Leben Gehalt (650 Mark brutto pro Monat), mit dem ich nun auch Eltern und Geschwister unterstützen konnte.

Wahrend der Sommerferien 1959 gehörte ich als Verantwortlicher für Finanzen der Leitung des Zeltlagers unserer Schule an, das wir auf einem Hof in Fuhlendorf am Bodden betrieben. So hatte ich Gelegenheit, viele Schüler noch näher kennenzulernen. Sparsames und effektives Verwalten von Geld hatte ich „gelernt“. Die Nahrungsmittel kauften wir in Lebensmittelläden Fuhlendorfs, Bodstedts oder Prerows und „bekochten“ uns selbst. Durch gutes Wirtschaften konnten wir uns dann einiges zusätzlich leisten, z. B. den Besuch der Rügenfestspiele in Ralswiek (mit Aufführung von Kubas „Klaus Störtebecker“ auf der Naturbühne) oder für jeden einen viertelstündigen Rundflug über Bodden, Darß und Ostseeküste (pro Person 15 Mark).

Meine hauptamtliche FDJ-Arbeit an der Oberschule begann ich mit den Fahrschülern aus dem Kreisgebiet - der Hälfte aller Schüler. Nur etwa 20 Auswärtige wohnten wochentags im Internat, wo ich ihnen auch bei den Hausaufgaben und der Freizeitgestaltung half. Aber vor allem besuchte ich im Winterhalbjahr 1959/1960 mit meinem Fahrrad bei Wind, Regen, verschmutzten Wegen und Dunkelheit die Schüler und Eltern in zahlreichen Gemeinden des Kreises Mühlhausen. Auf diese Weise lernte ich das soziale Umfeld der Schüler kennen und konnte deren Eltern ausführlicher über ihre schulischen Leistungen sowie die Absichten der ZSGL der FDJ unterrichten. Bei nachfolgenden Elternversammlungen befragten Eltern dann häufig auch mich über den Leistungsstand ihrer Kinder.

Von der privaten Odenwald-Schule Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße wurde im Herbst 1959 eine FDJ-Delegation des Bezirkes Erfurt zu einem dreitägigen Besuch eingeladen. Ich nahm daran teil und lernte dabei die hauptamtlichen FDJ-Sekretäre Rosi Sprenger von der Heinrich-Mann-Oberschule Erfurt und Dieter Tautz von der Schiller-Oberschule Weimar kennen. Wir tauschten unsere Erfahrungen aus und überlegten, wie wir die FDJ-Arbeit verbessern könnten. Das Resultat war ein Aufruf zur Organisierung eines gemeinsamen Winterlagers unserer Schulen im Februar 1961 in der Nähe von Meuselbach-Schwarzmühle an der Schwarza. Dort sollten Wettbewerbe in Deutsch, Mathematik, Russisch, Englisch, Zeichnen, sowie kultureller (Junge Talente, Kabarett) und sportlicher Art (Lang-, Abfahrts-, Tor- und Patroullienlauf, Rodeln, Tischtennis, Federball, Schach) stattfinden. Der Unkostenbeitrag für Vollverpflegung, Bahnfahrt, Unterkunft usw. betrug etwa 15 Mark pro Teilnehmer. Mitfahren konnten in zwei Durchgängen zusammengenommen 100 unserer besten FDJ-Mitglieder und Funktionäre. Wir begannen begeistert mit der Vorbereitung und machten in Apolda sogar eine kleine Firma ausfindig, die uns „Gold“-, „Silber“- und Bronzemedaillen nach einer speziellen Vorlage (zu deren Auswahl ebenfalls ein Wettbewerb veranstaltet wurde) für etwa 4 Mark pro Stück prägte. Das Winterlager wurde ein voller Erfolg und machte allen Beteiligten großen Spaß (obwohl das Lager nachts nicht gerade warm war).

Danach fand unser Vorschlag große Zustimmung, auch im Sommer eine Spartakiade zu veranstalten, und zwar diesmal zu wissenschaftlichen Disziplinen, künstlerischen Gebieten und Sportarten, die in der Winterspartakiade nicht berücksichtigt werden konnten. Das Flugblatt mit dem Motto „Wer jung ist, verliebt und verwegen, den zieht es im Sommer hinaus“, das wir zum Gründungstag der FDJ am 7.3.1961 herausbrachten, lud die FDJler unserer drei Schulen vom 9. bis 11.6.1961 zur Sommerspartakiade nach Erfurt ein.

Inzwischen hatte sich im Bezirk herumgesprochen, daß diese Spartakiadebewegung unter den Oberschülern (die häufig von Funktionären übergeordneter FDJ-Leitungen als „schwierig“ oder „eingebildet“ bezeichnet wurden) großen Zuspruch fand. So meldeten in den nachfolgenden Wochen die FDJ-Leitungen von 13 weiteren Oberschulen ihr Interesse an. Die Bewegung nahm also ziemliche Ausmaße an und wollte organisiert sowie finanziert sein. Die FDJ-Bezirksleitung Erfurt hatten wir laufend über unsere Pläne informiert, aber noch keinen Kontakt zu den Schulräten in den Kreisen bzw. zum Bezirksschulrat aufgenommen.

Statt dessen kam uns die Idee, an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR zu schreiben und ihn um die Verleihung von 250 Urkunden sowie Bewilligung einiger materieller Prämien für die Besten unserer Sommerspartakiade zu bitten. Die Kanzlei des Staatsrates bestätigte den Eingang des Schreibens und sagte Prüfung zu. Unsere Stimmung war prächtig, zumal uns in jenen Tagen die sensationelle Nachricht erreichte, daß der sowjetische Kosmonaut Juri Alexejewitsch Gagarin als erster Mensch erfolgreich mit dem Raumschiff „Wostok 1“ die Erde umrundet hatte!

Etwa zu gleicher Zeit hatte sich Dieter Tautz aus Weimar an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Erfurt, Willi Gebhardt, gewandt und um finanzielle Unterstützung für die Sommerspartakiade gebeten. Aber als der Ratsvorsitzende den Bezirksschulrat um nähere Einzelheiten bat, wußte dieser ebensowenig von der Sache wie sein Schulinspektor oder sonst jemand in der Abteilung Volksbildung des Bezirkes. Das war eine fatale Situation.

Danach besuchte mich der Bezirksschulinspektor, machte mir Vorhaltungen über unseren Alleingang und schilderte (in Auswertung einiger zuvor im Bezirk organisierter „Sterntreffen“, für deren Vorbereitung etwa 15 Lehrer monatelang eingesetzt waren) , was da auf uns zukommen konnte. Quartiere, Sportplätze, Veranstaltungsräume, Finanzen, hygienische Betreuung und Versorgung wollten schließlich organisiert sein. Erschwerend war, daß damals eine angespannte Versorgungslage bei Fleisch, Butter und Kartoffeln herrschte und die Verpflegung nach Meinung des Bezirksschulinspektors daher kaum zu sichern sein würde. Zwar sagte er dennoch Unterstützung zu, wies jedoch daraufhin, daß die Spartakiade wegen der Internationalen Gartenbauausstellung auf keinen Fall in Erfurt stattfinden könne, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Nun war guter Rat teuer. Unsere ZSGL sprach sich anschließend sofort dafür aus, die Spartakiade in Mühlhausen zu organisieren Nachdem die übrigen Schulen sowie die FDJ-Bezirksleitung zugestimmt hatten, legten wir die neuen Aufgaben fest und bereiteten die Spartakiade nun für Donnerstag, den 22., bis Sonntag, den 25. Juni 1961, „mit allem Drum und Dran“ in Mühlhausen vor. An der Lösung dieser Aufgabe beteiligten sich 150 FDJler unserer Schule in den Ressorts Finanzen, Verpflegung, Quartiere, Städtebüros, Agitation, Veranstaltungen, Sport sowie Hauptkampfgericht und Informations- und Pressezentrum. Als Schirmherrin unserer Spartakiade gewann ich die DDR-weit bekannte Direktorin des VEB Bekleidungswerke Mühlhausen, Luise Ermisch, die in der DDR die Wettbewerbsbewegung „Brigade der ausgezeichneten Qualität“ und die nach ihr benannte Methode des Wettbewerbs von Mann zu Mann ins Leben gerufen hatte. Sie war außerdem Kandidatin des Politbüros des ZK der SED und Mitglied des Staatsrates der DDR.

Es schien alles im rechten Gleis, als wir sowie unser Kreisschulrat und die Direktoren einiger beteiligter Schulen drei Tage vor Beginn der Veranstaltung zur Abt. Volksbildung beim Rat des Bezirkes geladen wurden. Es ging um unsere „Partisanenpolitik“, d. h. das Versenden von Briefen und Einladungen an übergeordnete Stellen5, das eigenmächtige Verfügen über Wandertage usw. usf. Das war hart! In meinem Tagebuch steht dazu: „Harte, gründliche Aussprache; Kompromißlösung: Freitag früh: Wissenschaften und Erfahrungsaustausche der Foto-, Wandzeitungs- und Journalistikzirkel; Fr., 17.00 Uhr Eröffnung u. Leichtathletikkämpfe; Agit.-Prop.-Abend und Abend der heiteren Muse werden zusammen am Freitag, 20.00 Uhr durchgeführt; Gründe des nicht möglichen Unterrichtsausfalls: seit Monatsbeginn: 17.000 Std. Unterrichtsausfall, Schüler werden nicht für Katastropheneinsätze herangezogen (in Schulzeit), deshalb auch nicht für Spartakiade schulfrei“.

Was hieß: Drei Tage vor Beginn des große Ereignisses mußten wir alles vollständig umorganisieren! Aber unsere 150 Verantwortlichen arbeiteten „bis in die Puppen“ und schafften es! Die Spartakiade wurde ein schönes Erlebnis und eine persönhchkeitsformende Bewährungsprobe für Hunderte FDJler unserer Oberschulen. Vertreter von Presse, Funk und Fernsehen aus Berlin, Erfurt und Mühlhausen sowie die Sekretäre des FDJ-Zentralrates Inge Lange und Werner Engst erlebten das lebendige, vielfältige und interessante Treiben und versuchten der Frage auf den Grund zu gehen, wie Oberschüler zu solch ansprechenden Leistungen gelangen konnten.

Im Ergebnis unserer nachfolgenden Berichterstattung vor den verantwortlichen zentralen Organen beschlossen diese, die von uns entwickelte Spartakiadebewegung republikweit zu verallgemeinern. In den nächsten Jahrzehnten bot sie manchem jungen Talent eine gute Gelegenheit, sein Können und seine Fähigkeiten öffentlich vorzustellen und weiterzuentwickeln. Es wurden national und auch international beachtliche Leistungen erbracht, von denen wir zu Beginn nur hatten träumen können. Allerdings ging mit dieser Institutionalisierung der ursprüngliche, lebendige und mitreißende Geist unserer Bewegung zum Teil wieder verloren. Sie wurde kostenaufwendiger und eine den Jugendlichen teilweise fertig vorgesetzte Aktion, die wie nach einem Drehbuch ablief und den Akteuren und Statisten genau ihre Rollen vorschrieb.

Im späten Herbst 1959 und im März 1960, nahm ich - am 11. Januar 1960 als Mitglied in die SED aufgenommen - an einigen Agitationseinsätzen in Gemeinden unseres Kreises teil, um Einzelbauern von den Vorteilen der genossenschaftlichen Arbeit zu überzeugen. Viele Bauern hatten damals zwei Seelen in ihrer Brust. Sie hingen an der eigenen Scholle, kannten manche nicht vorbildlich wirtschaftende LPG und wurden von den westdeutschen Funk- und Fernsehstationen täglich aufgefordert, der „Kolchose“ Widerstand entgegenzusetzen. Andererseits begriffen sie allmählich, daß Großraumwirtschaft zu größeren Erträgen führt als „Handtuchfelder“-Wirtschaft und zur Erleichterung der Arbeit beitragen kann. Größere Mittelbauern waren bei uns übrigens einsichtiger, vor allem, wenn sie eine landwirtschaftliche Fachschule oder Fakultät absolviert hatten. Sie gehörten nicht zu den letzten, die der Genossenschaft beitraten. Aber mancher dieser letzten hätte ganz gern noch länger gewartet. Einerseits hatte ich Mitleid mit dem alten Struther Bauern und seiner Frau, die ängstlich neben ihm am Küchentisch stand. Er war von uns umringt, und seine Hand zitterte bei der Unterschrift. Andererseits spürte ich, an einer geschichtlichen Aktion teilzunehmen, die jahrhundertealte Zustände auf dem Lande umkrempelte. Und tatsächlich wollten wir ja den Bauern nichts stehlen - im Gegenteil, wir wollten dazu beitragen, daß Wissenschaft und moderne Technik ihre schwere Arbeit erleichterten und ertragreicher gestalteten. In meinem Tagebuch habe ich unter dem 2.4.1960 vermerkt, daß die Landwirtschaft unseres Kreises Mühlhausen seit dem Vortag um 10.30 Uhr - mit der Unterschrift des letzten Einzelbauern der Gemeinde Struth - voll „vergenossenschaftlicht“ war und der Bezirk Erfurt eine halbe Stunde später (als neunter Bezirk der gesamten Republik).

Im zweiten Jahr meiner hauptamtlichen FDJ-Arbeit lud mich das Kreisgericht Mühlhausen ein, als ehrenamtlicher, d. h. unentgeltlich arbeitender, Beistand straffällig gewordene Jugendliche (bis 18 Jahre) zu verteidigen. Ich beschäftigte mich daher intensiv mit dem Strafgesetzbuch und mit der Strafprozeßordnung. Mein erster Schützling war eine fünfzehnjährige Jugendliche, die wegen Diebstahls vor der Jugendstrafkammer stand. In der Woche vorher hatte ich mich durch Akteneinsicht und Gespräche mit der Angeklagten bzw. deren Mutter vorbereitet. Ich wollte auf jeden Fall gerecht sein und erlebte, daß jemand, nur weil er angeklagt war, von vielen Anwesenden von vornherein als schuldig betrachtet wurde. An jenem Tag und auch später saß ich als verteidigender Beistand doch manchmal ziemlich allein mit „meiner“ Mandantin oder „meinem“ Mandanten und mußte im Saal intensive Überzeugungsarbeit leisten. Das gelang mir deshalb, weil ich mich auch mit jedem weiteren Fall gründlich beschäftigte und meistens der einzige Gerichtsvertreter war, der - dabei wieder per Fahrrad beträchtliche Strecken im Kreisgebiet zurücklegend - Besuche in Arbeits- und Lehrwerkstätten sowie zu Hause auf sich genommen hatte. War die Schuld erwiesen, plädierte ich nicht auf Freispruch, was fast alle Betroffenen dann auch einsahen.

Mein schwerster und kräfteraubendster Fall war eine Jugendliche, die wegen versuchten Totschlags an einem Volkspolizisten angeklagt werden mußte. Diese Straftat wurde am Erfurter Bezirksgericht weiterverhandelt und endete mit der mehrjährigen Einweisung in einen Jugendwerkhof. Es war mein schönster „Lohn“, als mich Jahre später eine junge Frau mit Kinderwagen in der Mühlhäuser Pfortenstraße ansprach und sich dafür bedankte, daß ich seinerzeit fast der einzige Mensch gewesen sei, der an ihre guten Seiten geglaubt und ihr geholfen habe, das Urteil zu verstehen und ihr Leben von da an neu zu gestalten.

Als am 13. August 1961 die westliche Staatsgrenze unserer Republik gesichert wurde, war ich gerade im Schwarzatal zum Urlaub. Die Maßnahme fand sofort meine Zustimmung. Alle Versuche sowjetischer- und unsererseits, demokratisch zur Einheit Deutschlands und zu einem gerechten Friedensvertrag zu gelangen, waren bis dahin von den Westmächten und den politisch Herrschenden in Westdeutschland abgelehnt worden. Darüber hinaus wurde die gesellschaftliche Entwicklung, insbesondere die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung, durch Verzögerungen oder Einschränkungen vereinbarter Lieferungen usw. sowie durch gezielte Abwerbung von Fachkräften spürbar beeinträchtigt.

Zum 1. September 1961 hatte ich mich am Institut für Philosophie der Universität Jena eingeschrieben. Das Diplomstudium der Philosophie dauerte planmäßig fünf Jahre. Zu ihm gehörten neben Studentischer Körperziehung und Sprachen die Disziplinen Ästhetik, Dialektischer Materialismus, Ethik, Historischer Materialismus, Geschichte der Philosophie, Pädagogik, Philosophische Probleme der Einzelwissenschaften, Politische Ökonomie, Soziologie sowie ein wahlweise obligatorisches Nebenfach (ich wählte Geschichte).

Das Studienjahr begann für uns jedes Jahr mit dem Einsatz in der Landwirtschaft, in dem wir den Genossenschaftsbauern halfen, etwa bis zum Tag der Republik am 7. Oktober die restliche Getreide- und vor allem die Kartoffelernte abzuschließen. Diese Praktika waren aber auch für die Persönlichkeitsentwicklung jeder Studentin und jedes Studenten, für die Kollektiventwicklung in den Seminargruppen der Studenten und für die Entwicklung des gegenseitigen Verständnisses sowie der kameradschaftlichen Zusammenarbeit von Landbevölkerung und zukünftigen Angehörigen der Intelligenz günstig. Ich sehe mir die alten Fotos von unseren damaligen Ernteeinsätzen unter z. T. primitiven Lebensumständen an und kann nur bekräftigen, daß die dort zu sehende Begeisterung keine verkrampfte oder „verordnete“ war.

Am 14.2.1962 wurde ich zum Sekretär der FDJ-Hochschulgruppenleitung (HSGL) für die Juristische und die Philosophische Fakultät gewählt, weil der Vorgänger diese Tätigkeit plötzlich nicht mehr ausüben konnte. Aber wie sollte die Anleitung der Arbeit von mehreren Hundert FDJlern, darunter Altertumswissenschaftler, zukünftige Lehrer für Anglistik, Germanistik, Geschichte, Körpererziehung, Musik, Romanistik und Slawistik sowie Juristen und Psychologen, mit meinem eigenen Studium in Einklang gebracht werden? Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen: Es war recht schwierig, aber ich schaffte es und legte die Zwischenprüfungen nur zwei Wochen später als die Studenten meiner Gruppe ab.

Da wir 13 Jenaer Philosophiestudenten des 1. Studienjahres die Arbeitszeit mehrerer Lehrkräfte banden, wurden wir danach vor die Wahl gestellt, unser Studium entweder an der Humboldt-Universität Berlin oder an der Karl-Marx-Universität Leipzig fortzusetzen. Ich entschied mich, auch wegen der geringeren Bahnkosten, für Leipzig. Die seit Januar 1962 obligatorischen pädagogischen Praktika absolvierte ich in der Erweiterten Oberschule Mühlhausen, um auch unsere Spartakiadebewegung weiter zu unterstützen. Das vorgesehene Betriebspraktikum nahm ich mit anderen Kommilitonen im Petrolchemischen Kombinat in Böhlen wahr, wo wir gleichzeitig soziologische Untersuchungen betrieben. Dort erfuhren wir auch vom beträchtlichen Ausmaß der gezielten Abwerbung hochqualifizierter Spezialisten der petrolchemischen Industrie (die im Hinblick auf die geplante Verarbeitung des Erdöls aus der UdSSR in Schwedt/Oder ausgebildet worden waren) durch westdeutsche Chemiekonzerne.

Mit Beginn des Studienjahres 1964/65 kehrte ich nach Jena zurück und nahm dort an einem mehrjährigen Experiment des Philosophischen Institutes der Universität Jena teil, in dem Erfahrungen für eine in ins Auge gefaßte Reform des Hochschulwesens der DDR gesammelt wurden. Auf Anregung von Prof. Mende versuchte ich in meiner Diplomarbeit die Wirkungsgeschichte des ersten Bandes des „Kapital“ von Karl Marx bis zum Erscheinen der 2. deutschen Auflage und der französischen Ausgabe zu belegen. Dazu wandte ich mich brieflich an etwa 70 Personen, Archive und Universitäts- oder Stadtbibliotheken in beiden deutschen Staaten und in aller Welt. Diese Korrespondenz nahm allmählich beträchtliche Ausmaße an. Ein Assistent wies mich darauf hin, daß ich doch nicht einfach derartige Briefe verschicken könne und daß sich möglicherweise auch die Sicherheitsorgane dafür interessierten. Damit hatte ich nun gar keine Probleme. Erstens hatten die Kommunisten die Sicherheits- und Geheimdienste nicht erfunden und besaßen nicht allein welche; die BRD verfügte über mehrere. Zweitens zeichnen sich Geheimdienste dadurch aus, daß sie auch im Sozialismus weitgehend geheim arbeiten müssen. Drittens war das Ministerium für Staatssicherheit ein Bestandteil meiner Staatsmacht, unterlag den Gesetzen, die meine Volkskammer beschlossen hatte, und besaß nachlesbare Adresse und Telefon. Viertens hielt ich es für völlig berechtigt, daß auch ich der gesellschaftlichen Kontrolle unterlag. Außerdem wollte ich meine Republik mit meinen Handlungen stärken und nicht schwächen.

Im Rahmen des oben erwähnten Experimentes wurden wir als Seminarleiter im Studium der Grundlagen des Marxismus-Leninismus eingesetzt.6 Bereits im Herbst 1964 hatte ich mich zum ersten Mal als Seminarleiter für die Grundlagen der Philosophie in einer Gruppe Lehrerstudenten der Fachkombination Körpererziehung/Geschichte versucht. Das Studienjahr begann auch für diese Studenten, wie üblich, mit dem Ernteeinsatz, und zwar in der Gemeinde Palingen, Kreis Grevesmühlen, beim Kartoffellesen. Gesammelt wurde in Brigaden nach Leistung. Da ich Feldarbeit gewöhnt war, machte ich dabei wahrscheinlich eine ganz gute Figur. Nachdem ich den erschöpften Sportstudenten in einer Arbeitspause auch noch den Handstand auf einem Kartoffelkorb gezeigt sowie bei der dörflichen Festveranstaltung zum Tag der Republik in ihrer studentischen Turnriege mitgewirkt hatte, verstanden wir uns bestens.

Während unseres Einsatzes fanden Kommunalwahlen statt. Tags zuvor machte ein Student die Bemerkung, daß die Wahlkabine ja ohnehin nicht benutzt werden dürfe. Am nächsten Morgen führte ich die Reihe der Jenaer an, ging mit meinem Wahlzettel in die Kabine, sah ihn durch, faltete ihn zusammen und warf ihn draußen in die Urne. Nach mir benutzten sämtliche Studenten die Wahlkabine. Das war natürlich ungewöhnlich. Die allgemeine Spannung legte sich aber in erfreulicher Weise, als die abendliche Auszahlung ergab, daß im Stimmbezirk nicht eine, also auch keine studentische, Gegenstimme abgegeben worden war.

Ich leitete die Seminare der Lehrerstudenten dann noch bis Sommer 1967, bis zum Ende meines Aufenthalts an der Universität Jena. Diese Aufgabe machte mir viel Freude. Durch die aufgeworfenen Fragen war ich immer wieder gezwungen, nachbereitend zu lesen und mich noch „sachkundig“ zu machen. Hinzu kam, daß wir (wegen meines Nebenfachs Geschichte) gemeinsam manche Vorlesung hörten. Auch außerhalb der Lehrveranstaltungen waren wir oft zusammen, z. B. bei Verlobungs- oder Hochzeitsfeiern. (Übrigens habe ich durch die Zusammenarbeit mit dieser Gruppe, die ich Anfang 1966 im Skilager besuchte, auch meine Frau kennengelernt.) Zwischen den Studenten und mir entwickelten sich dauernde freundschaftliche Kontakte, die teilweise bis heute anhalten.

Als ich Student des 5. Studienjahres und später Aspirant bzw. Doktorand war, kam noch eine weitere Arbeit mit Jugendlichen hinzu. Eine Lehrerin der Erweiterten Oberschule Mühlhausen erwartete ein Kind, und ihr Unterricht der Staatsbürgerkunde in den 11 und 12. Klassen war zu vertreten. Ich erklärte mich bereit, einzuspringen. Der Unterricht wurde auf Sonnabendvormittag gelegt. Auf diese Weise unterrichtete ich Schüler, die heute Apotheker, Ärzte, Juristen oder Lehrer sind und mich erst vor zwei Jahren (anläßlich des 30. Jahrestages ihres Abiturs im Jahre 1968) zu ihrem Klassentreffen nach Mühlhausen eingeladen haben.

Solche Aufgaben waren interessant; aber ich mußte auch hinsichtlich der Forschung etwas tun. Als ich daranging, meine Diplomarbeit zu schreiben, war der Materialfluß aus den genannten Archiven und Bibliotheken gerade erst auf „Hochtouren“ gekommen. Prof. Mende schlug mir vor, den „Ochsenweg der Wissenschaft“ zu gehen. Ich erklärte mich einverstanden und erhielt vom Rektor eine einjährige Teilaspirantur bis August 1967 bewilligt. Ohne Unterbrechung machte ich mich an die Arbeit und erhielt am 14. Juni 1967 meine Promotionsurkunde.7

Gäste der Verteidigung waren außer Studenten und Mitarbeitern der Philosophischen Fakultät meine Mutter, die inzwischen im VEG Sambach als Raumpflegerin arbeitete (mein Vater war am 20 12.1966 verstorben), Marx-Engels-Forscher Hannes Skambraks aus Berlin und die Studenten „meiner“ Gruppe Körpererziehung/Geschichte.

Am 24.10.1967 wurde ich für hervorragende Leistungen im Studentenwettstreit mit dem „Preis der Friedrich-Schiller-Universität Jena (3. Klasse)“ ausgezeichnet. Das Experiment, an dem ich seit 1964 teilnahm, war also gelungen.

Am 1 8.1967 begann ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Philosophieausbildung der Lehrerstudenten des Pädagogischen Instituts (PI) Mühlhausen zu arbeiten.8 In den folgenden Jahren hielt ich Vorlesungen, leitete Seminare, gewährte Konsultationen und nahm Prüfungen ab. Gleichzeitig gründete und leitete ich die Forschungsgruppe „Marx-Engels-Forschung“, in der Lehrkräfte und Studenten arbeiteten.

Es bestand danach die Absicht, die PI Erfurt und Mühlhausen, die bis dahin nicht zur Durchführung selbständiger Promotionsverfahren berechtigt waren, 1969 zu vereinigen und zur Pädagogischen Hochschule (PH) Erfurt/Mühlhausen mit eigenem Promotionsrecht umzuwandeln. In diesem Zusammenhang wurde ein hauptamtlicher Sekretär der SED-Grundorganisation des PI Mühlhausen erforderlich. In der Kreisleitung war man der Meinung, daß ich dafür der geeignete Mann sei. Nachdem der Vorschlag auch im PI auf große Zustimmung stieß und ich gewählt wurde, begann ich mit Wirkung vom 1.5.1969 meine Arbeit als hauptamtlicher Parteisekretär.

Zunächst machte ich der ZPL den Vorschlag, die Parteistruktur des PI zu vereinfachen. Denn alle Bereiche arbeiteten „an“ denselben zukünftigen Diplomlehrerinnen und -lehrern für Biologie/Chemie oder Chemie/Mathematik. Das war der Inhalt, dem die politischen Strukturen gerecht werden mussten.

Unsere Parteiorganisation umfaßte etwa 24 Prozent aller Arbeiter, Angestellten, Studenten, wissenschaftlichen Mitarbeiter und Hochschullehrer. Die inhaltlichen Entscheidungen für Lehre und Forschung waren letzten Endes von den staatlichen Einzelleitern zu treffen. Aber in der sozialistischen Gesellschaft verwalten und leiten letztere nicht ihr privates, sondern gesellschaftliches Eigentum. Daher müssen sie vor ihrer endgültigen Anordnung - auch in ihrem eigenen Interesse - die Gelegenheit erhalten und nutzen, das Für und Wider der geplanten Schritte vor einem gesellschaftlichen Gremium zu erörtern und zu beraten. Darin sah ich den Sinn und Nutzen der Parteiarbeit. Von der Qualität der ausgebildeten Lehrer und der vorgelegten wissenschaftlichen, insbesondere Forschungsleistungen sollte man auch auf die Qualität der Arbeit der Parteiorganisation und ihrer Leitungen schließen können.

In diesem Sinne hielt ich es für richtig, wenn sich die zentrale Parteileitung der mühevollen Arbeit unterzog, durch gründliche Untersuchungen Monat für Monat selbst eine Mitgliederversammlung vorzubereiten, um auf diese Weise wenigstens einmal monatlich mit den Genossen aller Bereiche über Lage und Aufgaben zu beraten.

Darüber hinaus schlug ich vor, die Trennung in Parteigruppen der Mitarbeiter und Gruppen der Studenten aufzuheben (als seien Studenten keine Erwachsenen!). Warum sollten sich nicht Mitarbeiter und Studenten monatlich gemeinsam als Vorkämpfer für Neues und Gutes „zusammenraufen“ und erweisen? Meiner Meinung nach konnte es in unserer Partei auch keinen „Genossen Professor“ und keinen titellosen „Genossen“, sondern nur Mitglieder mit im Statut enthaltenen gleichen Rechten und Pflichten geben, das man mit seinem Eintritt anerkannt hatte. Der Vorschlag fand bei den Lehrkräften zunächst weniger Zustimmung als bei den Studenten. Manche Lehrkraft meinte, ihre Autorität ginge verloren, wenn ihre Erziehungsprobleme (bekanntlich müssen ja auch Erzieher erzogen werden) in Anwesenheit von Studenten verhandelt würden. Aber die Änderung brachte dann doch viele Vorteile. Nun konnten die älteren Genossen den jüngeren nämlich viel einfacher und direkter als bisher wertvolle Erfahrungen vermitteln. Auf diese Weise saßen in unseren monatlichen Versammlungen nicht nur Mitglieder der verschiedensten Bereiche und Sektionen, sondern auch Arbeiter, Angestellte, Laboranten, Lehrkräfte und Studenten zusammen und berieten die gemeinsam zu meisternden Probleme. Die Parteiorganisation entwickelte sich damit zum stärksten einigenden Band im Hochschulbereich Mühlhausen der PH „Dr. Theodor Neubauer“ Erfurt/Mühlhausen.

Als eines der wichtigsten Probleme sah ich die Art der Zusammenarbeit mit den staatlichen Leitern an. Das funktionierte dann auch gut. Ich hielt mich nicht für berechtigt, Anweisungen staatlicher Leiter einfach außer Kraft zu setzen (auch wenn mich mancher „erfahrene“ Genosse fragte, ob ich nicht wüßte, wer hier die Macht habe). Andererseits bemühte ich mich um eigenständige Vorschläge für die weitere Entwicklung von Lehre und Forschung, die den zentralen Orientierungen meiner Partei entsprachen und zu unserer Lage sowie zur Entwicklung des Kreises paßten. Dazu war ich oft auch bei den parteilosen Mitarbeitern und Studenten „vor Ort“. Unsere Genossen kannte ich alle, auch die Senioren, die ich monatlich besuchte, um die Mitgliedsbeiträge zu kassieren und mich mit ihnen zu unterhalten. Dabei erfuhr ich viel Interessantes aus vergangenen Jahren.

Das gute Verhältnis zwischen Lehrkräften und Studenten war auch außerhalb des Lehrbetriebes spürbar. Unsere kleine Hochschuleinrichtung in Mühlhausen hatte für die Studierenden große Vorteile, obwohl es manchem Außenstehenden nicht so scheinen mochte. („Was kann eine Provinzstadt einem Studenten schon bieten?“). Die Betreuung durch die technischen Mitarbeiter und Lehrkräfte, die grundsätzlich „am gleichen Strang zogen“, die Gewährleistung eines Praktikumsplatzes für jede Studentin und jeden Studenten, die Sorge der Arbeiter und Angestellten, der Bibliothekarinnen usw. um die Wohn-, Selbstudiums- und Versorgungsbedingungen waren erstklassig. Umgekehrt hatten aber auch wir viel Freude an den kulturellen und sportlichen Leistungen der Studenten. Zum 1. Mai, zum Tag des Kindes (1.6.), zum Tag des Lehrers (12.6.), zum Abschluß des Studienjahres und der Entlassung von Absolventen (Juli), zur Eröffnung des Studienjahres (September), zum Tag der Republik (7.10.) usw. spielte unsere legendäre Blaskapelle, in der vor allem Studenten der Polytechnik „den Ton angaben“.

Wir Mühlhäuser Lehrkräfte ließen uns aber auch etwas einfallen, womit wir die Studenten erfreuen konnten. Jedes Jahr im Dezember veranstaltete der Rundfunk der DDR ein Solidaritätskonzert. So bereiteten wir im Rahmen dieser die ganze Republik erfassenden Bewegung unsere eigenen Solidaritätskonzerte vor, die wir jährlich in der letzten Studienwoche vor Weihnachten im Saal der Mensa „live“ zur Aufführung brachten. Der Saal, die Empore und der sich anschließende Gaststättenbereich waren dabei stets überfüllt. Das ganze Jahr über mußten die Studenten den Lehrkräften ihr Können unter Beweis stellen; jetzt war es einmal umgekehrt! Wir boten mehrstimmige Chorgesänge, Rezitationen, Aufführungen von Instrumentalsolisten und Szenen aus Theaterstücken dar.

In der Parteiarbeit ging es mir auch darum, den Grundsatz der Kollektivität und der Öffentlichkeit durchzusetzen. Anfangs kamen manchmal Genossen ins Parteizimmer, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich versuchte dann, ein Leitungsmitglied oder die Sekretärin hinzuzuziehen bzw. nahm ein Blatt Papier zur Hand. Manchmal fragte der Gast, wozu das gut sein solle. Ich erklärte, daß die Notizen in die Vorlagenmappe für die nächste Leitungssitzung gelegt würden. Wenn der Betreffende dann meinte, das habe er so nicht gewollt, die Informationen seien nur für mich bestimmt, schlug ich ihm vor, die Unterhaltung zu beenden. Wie hatte ich mit all den „nur für mich bestimmten“ Mitteilungen leben sollen? Waren die Mitteilungen wahr, dann brauchte man sie nicht verheimlichen. An Gerüchten hatte ich kein Interesse.

Neben der Parteiarbeit mußte ich auch noch die Vorlesungen in Philosophie halten und die Marx-Engels-Forschung leiten. Bestandteil dieser fachlichen Arbeit war außerdem die Arbeit an meiner eigenen Dissertation B, also an der Habilschrift.

Von September 1972 bis August 1974 wurde ich (in Vertretung eines Kollegen, der seine Promotion betrieb) als Hauptreferent der Hauptabteilung Lehrerbildung in das Ministerium für Volksbildung (MfV) berufen. Der Einblick in die Arbeit des MfV war für mich durchaus lehrreich, ohne daß ich an dieser Stelle auf Einzelheiten eingehen kann.

Am 11 April 1974 verlieh mir der Wissenschaftliche Rat der Pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht“ Potsdam nach erfolgreicher öffentlicher Verteidigung meiner Dissertation „Reaktionen bürgerlicher Ideologen auf die Wirkung der Erkenntnisse aus dem ‚Kapital’ von Karl Marx in Deutschland von 1867 bis 1895/97“ und auf Grund meiner „erfolgreichen Tätigkeit als Leiter wissenschaftlicher Kollektive“ den akademischen Grad „doctor scientiae philosophiae (Dr. sc. Phil.)“

Ab September 1974 arbeitete ich wieder als Dozent an der PH Erfurt/Mühlhausen. Die dortige Forschungsgruppe „Marx-Engels-Forschung“ hatte ich auch während meiner Arbeit in Berlin geleitet. Ich wohnte und arbeitete vor allem in Mühlhausen, übernahm nun aber auch in wachsendem Maße Vorlesungen und Seminare im Hochschulbereich Erfurt Außerdem begleitete ich bis 1979 die Studentinnen und Studenten der Mühlhäuser Gruppe Chemie/Mathematik-75/2 als Seminargruppenberater. Ich half ihnen, wenn es nötig war, bei der planmäßigen und erfolgreichen Erfüllung ihrer Studienverpflichtungen genauso wie bei der Absicherung ihrer Lebens-, insbesondere Wohnbedingungen. Stand fest, daß eine Studentin ein Kind erwartete, teilte sie mir das mit, damit rechtzeitig ein Sonderstudienplan erarbeitet und verwirklicht wer den konnte, so daß die Betreffende mit einer „Verzögerung“ von nur wenigen Monaten wieder ihre Arbeit in der Schule aufnehmen konnte, wenn sie es wünschte. In der PH Erfurt/Mühlhausen gab es nicht nur Wohnheime für Studentinnen mit Kindern oder für Studentenehepaare, sondern auch eine Kinderkrippe und einen Kindergarten

Die Arbeit mit Studenten und Kräften des wissenschaftlichen Nachwuchses bereitete mir die meiste Freude Ich sorgte auch dafür, daß ich immer selbst Seminare für Studenten leitete, damit ich Rückkoppelungen zu meinen Vorlesungen hatte. Für Konsultationen, Literaturhinweise oder Starthilfen für Veröffentlichungen von jungen Leuten, die an Diplom- oder Promotionsarbeiten saßen, war ich jederzeit erreichbar. In Lehrveranstaltungen und bei der wissenschaftlichen und methodischen Betreuung von Nachwuchskräften ermutigte ich dazu, Fragen aufzuwerfen (es gibt keine dummen Fragen, vor allem gute Fragestellungen treiben die menschliche Erkenntnis voran!) und selbst ungewöhnliche Meinungen zu vertreten oder Schlußfolgerungen zu ziehen, wenn man dafür wenigstens einen Beweis anführen konnte.

In Vorlesungen praktizierte ich, was ich 1975 in Moskau kennengelernt hatte: Hörer senden dem Lektor auf Zetteln Fragen, die sie aufgrund seiner Ausführungen haben, nach vorn, damit er darauf antworte. Noch heute liegen in manchem Manuskript meiner Vorlesungen solche Fragezettel. Einmal hatte ich meine Vorlesung am letzten Tag vor Weihnachten im Erfurter Hörsaal V zu halten. Als ich hinkam, war der Raum verdunkelt, auf den Schreibtischen standen angezündete Weihnachtskerzen. Nach der Ankündigung „Er kommt“ begannen die Studentinnen und Studenten Weihnachtslieder zu singen. Ich bedankte mich damit, daß ich ihnen mehr oder weniger gelungen die Arie des Tamino „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus Mozarts „Zauberflöte“ zu Gehör brachte - unter stürmischem Beifall.

Mitte 1978 wurde ich (aufgrund meiner bis dahin erbrachten Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Wirkungsgeschichte des Marxismus im letzten Drittel des 19 Jahrhunderts) von der Marx-Engels-Abteilung des IML beim ZK der SED eingeladen, an der Bearbeitung von Bänden der seit 1975 im Berliner Dietz Verlag erscheinenden und auf über 100 Bände berechneten historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mitzuwirken. Daraus entwickelte sich für mich eine fruchtbringende Tätigkeit. Aber auch durch unsere Arbeit in Mühlhausen trugen wir dazu bei, daß unsere PH selbst international den Ruf erlangte, zu den Zentren der MEGA-Forschung und -Edition zu gehören Damit leisteten wir einen Beitrag zur Entwicklung der Grundlagenforschung auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet.9

Am 1. 9. 1982 wurde ich vom Minister für Hoch- und Fachschulwesen der DDR zum Ordentlichen Professor für Dialektischen und Historischen Materialismus berufen.

 

Während der dreiundzwanzig Jahre meiner Tätigkeit an der PH Erfurt/Mühlhausen (August 1967 bis Ende 1990) habe ich dazu beigetragen, Hunderte Diplomlehrer auszubilden sowie zahlreiche Diplomanden und Doktoranden wissenschaftlich und methodisch anzuleiten. Manchmal ist mir sogar gesagt worden, daß ich mir um andere Menschen, insbesondere Diplomanden und Doktoranden, mehr Sorgen gemacht hätte als um meine eigenen zwei Töchter und meinen Sohn.

Ich kann bezeugen, daß die Mehrheit der Studentinnen und Studenten das Studium der Grundlagen des Marxismus-Leninismus als normal zum Studium gehörig ansah.

In der Sowjetunion, und zwar in Moskau, Leningrad, Rjasan und Vilnius, weilte ich von Januar 1966 bis zum 29. Juni 1990 insgesamt etwa dreißigmal, fast immer dienstlich. Ich konnte daher ihre Entwicklung in diesem Zeitraum beobachtend begleiten. Ich habe viele Freunde kennengelernt, denen z. T. Jahre zuvor von Deutschen großes Leid zugefügt worden war. Und trotzdem waren sie nicht nachtragend. Sie mußten für ein vergleichsweise geringes Gehalt mehr Arbeit leisten als wir, lebten unter wesentlich einfacheren Bedingungen (z. B. erinnere ich mich gut an die ziemlich kleine Wohnung von Prof. Oisermann in der „Zona K“ der Universität auf den Leninbergen - ganz zu schweigen von den Wohnungen meiner Kollegen in Rjasan). Sie waren ehrlich und freigiebig sowie groß in ihrer Freude und in ihrer Kritik. Die UdSSR war mir mehr und mehr zweite Heimat geworden.

Ab 1986 konnte ich auch einen gewissen Eindruck vom innenpolitischen Kurs der „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Durchsichtigkeit, Öffentlichkeit) des Generalsekretärs der KPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, gewinnen. Dieser Kurs und vor allem die Abrüstungsschritte fanden bei unserer Bevölkerung (der wir jahrzehntelang erklärt hatten, von der Sowjetunion zu lernen, heißt siegen zu lernen) große Zustimmung. Mir wurde jedoch immer klarer, daß die plötzliche, innerhalb der KPdSU und mit den staatlichen Organen nicht ausreichend beratene und vorbereitete Abschaffung jahrzehntelang gewachsener gesellschaftlicher und politischer Strukturen sowie Wirtschaftsbeziehungen zu einem Chaos führen mußte, das sich negativ auf die Lebenslage der Bevölkerung auswirken würde. Unter Gorbatschows Führung entledigte sich die Zentrale dieses großen und bis dahin Weltgeschichte schreibenden sozialistischen Landes der Mühe, Jahr für Jahr, entsprechend den Erfordernissen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, gekonnt zentral zu planen und die entscheidenden gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Prozesse - bei wachsender Verantwortung der niedrigeren Leitungsebenen - unter Berücksichtigung der zu überwindenden Entfernungen und geographischen Bedingungen zu leiten. Denn wie sollte da plötzlich die Belegschaft eines Werkes oder eines Landwirtschaftsbetriebes „autonom“ sachkundig über Sortiment und Menge der Produktion, über Einkauf, Finanzen und Absatz, über Arbeitskräfte und Akkumulation entscheiden? In welchem industriell entwickelten Land mit Sitzen z. T. transnationaler Monopole regelt denn seit Jahren noch allein der Markt ohne jede Planmäßigkeit und Bewußtheit das Wirtschaftsgeschehen einschließlich der Finanzströme?

Ganz im Gegensatz zu seiner öffentlich erklärten „Demokratisierung“ mußte ich erfahren, wie Gorbatschow willkürlich (nicht in kollektiver Entscheidung oder durch Wahlen) einen Rektor ablöste und durch eine ihm genehme Person ersetzte. Ich erlebte auch die Übertragung einer von ihm geleiteten Beratung über den Stand und die Probleme der „Perestroika“ mit ca. 200 Vertretern aus allen Bereichen und Republiken des Landes. Den Vorsitzenden des Ministerrates, Ryshkow, benötigte Gorbatschow dabei eigentlich nur als Statisten, bei dem er sich ab und zu vergewisserte, ob er eine Kennziffer noch richtig im Gedächtnis hatte. Nachdem mehrere Redner - anfangs Enthusiasten der „Perestroika“ in ihren Verantwortungsbereichen - nun kritisch darüber informierten, welche wachsenden Schwierigkeiten durch das Fehlen konkreter Orientierungen für die Produktion entstanden seien, würgte er die Kritik ab. Seine ehrlichen Anhänger mußten eine „Standpauke“ über sich ergehen lassen, wie man so lamentieren könne. Die Zentrale habe doch schließlich die Theorie und die Methode der „Perestroika“ ausgearbeitet, veröffentlicht und dafür gesorgt, daß Gesetze, z. B. über das Pachtwesen, erlassen worden seien. Er verstehe nicht, warum angesichts dieser zentralen Vorleistungen nun keine massenhaften Fortschritte erreicht würden.

Einmal entging ich nur knapp einem massiven Zugriff der Moskauer Miliz. Der ursprünglichen Aufforderung Gorbatschows entsprechend, die Jugend und übrige Bevölkerung möge mehr öffentlich, auch gegen verknöcherte „Apparatschiks“ (Mitarbeiter in Partei- und staatlichen Leitungen, „Apparaten“), die Durchsetzung der Demokratie fordern, hatten sich in der Nähe des Puschkindenkmals im nördlichen Teil der Gorki-Straße zahlreiche Leute versammelt. Damals sah ich zum ersten Mal Kameragruppen westdeutscher Fernsehanstalten. Nun kritisierten einige Redner aber auch Maßnahmen, die unter Gorbatschow eingeleitet worden waren. Dagegen griff dann dessen Ordnungsmacht rigoros ein.

Ich sehe noch, als wäre es heute, die ungläubigen Gesichter der meisten Mitglieder der Grundeinheit der Gesellschaft für DSF des Hochschulbereiches Mühlhausen, als ich etwa 1988 darauf hinwies, daß der innenpolitische Kurs unter Gorbatschow die Gefahr in sich berge, die Grundlagen der sowjetischen Gesellschaft zu zerstören.

Man lese dazu nur die hämischen Erinnerungen der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher, worin sie mitteilt, ab 1983 zielstrebig an der Unterminierung der UdSSR gearbeitet zu haben.10 Ihre Freude über die nachfolgende Entwicklung ist für eine Konservative verständlich; jedem ehrlichen und gutgläubigen Anhänger des gesellschaftlichen Fortschritts vermittelt sie aber vielleicht eine Ahnung davon, wie langfristig, global und zielstrebig politisch verantwortliche Kräfte die imperialen Interessen des Finanzkapitals im 20. Jahrhundert verfolgt und betrieben haben, und daß die alte Erkenntnis wieder bekräftigt wurde: Auf eine halbherzige oder dilettantische Revolution folgt eine komplette und konsequente Konterrevolution!

Als die politische Stimmung in unserer Bevölkerung schlechter wurde, machte ich 1987/1988 in Beratungen bei der SED-Bezirksleitung Erfurt (in Anwesenheit von Mitarbeitern der Abteilung Propaganda des ZK meiner Partei) darauf aufmerksam, daß die Differenz zwischen den Wertungen in zentralen Dokumenten, z. B. in Reden des Generalsekretärs des ZK, einerseits und dem Erleben der Werktätigen andererseits zu groß sei, daß ihre Probleme und Bedürfnisse darin zu wenig zum Ausdruck kamen.

Im Juli 1989 war ich zum ersten Mal in den Niederlanden. Im Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam prüften meine Kollegen und ich die dort aufbewahrten originalen Handschriften von Marx und Engels für weitere Bände der MEGA, an denen unsere Gruppe inzwischen arbeitete. Aus der täglichen Berichterstattung der elektronischen oder gedruckten Massenbeeinflussungsmittel gewann ich dort den Eindruck, daß der DDR von West und Ost eine Art internationale Zange an die Kehle gesetzt wurde. Die westliche Seite repräsentierten der Papst, der amerikanische Präsident Bush (der damals Gdansk und Budapest „besuchte“) und die BRD (deren Außenminister Genscher in Prag die Beschleunigung der „Demokratisierung“ und „Reformierung“ der politischen Ordnung empfahl) und die östliche Seite Gorbatschow, Schewardnadse sowie vor allem polnische und ungarische Politiker. Aber als ich 1990 die deutsche Fassung der Memoiren von Andrei Gromyko11, dem langjährigen Außenminister und schließlich Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR (bis er Gorbatschow Platz machte) zu sehen bekam, war ich dennoch fassungslos. In dem Buch, worin ausführlich über die BRD und ihre Repräsentanten berichtet wird, ist nur an wenigen Stellen nebenbei von der DDR die Rede! Ich begriff also erst nach Beseitigung der DDR, daß unser kleines Land von der sowjetischen Führung nur als westlichster Vorposten oder Brückenkopf behandelt worden war, der schließlich für Geld aufgegeben wurde. Wir hatten unter diesen Umständen, selbst wenn wir (vor allem durch das Verspielen der Volksverbundenheit unserer Partei) keine innenpolitische Fehler gemacht hätten, nach 1990/1991 als sozialistisches Land nicht weiterexistieren können.

Übrigens waren hochrangige Politiker und Wirtschaftsvertreter aus der BRD und aus anderen Ländern noch auf der Leipziger Herbstmesse 1989 des Lobes voll über die Leistungskraft der Kombinate der DDR und die Qualität der Exporte.

Im Oktober 1989 erörterte ich in einem Seminar mit Studentinnen und Studenten des 1. Studienjahres der Fachkombination Chemie/Biologie das Problem der Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger. Ich schlug vor, uns in die Lage zu versetzen, die Regierungsverantwortung tragen müssen. Unter den bekannten Tatsachen wurde auch die Notwendigkeit genannt, Bürger, die in das kapitalistische Ausland reisten, mit Devisen ausstatten zu müssen. Ich fragte, ob wir angesichts der enormen volkswirtschaftlichen Anstrengungen, die zur Beschaffung zusätzlicher Devisen nötig gewesen wären, nicht doch vorerst die älteren Generationen, die ja bisher jahrzehntelang die Werte erarbeitet hatten, bevorzugt behandeln sollten. Aber alle anwesenden Achtzehn- bis Zwanzigjährigen lehnten dies mit der Begründung ab: Es interessiert uns wenig, was Großeltern und Eltern bisher für uns geleistet haben; wir sind jetzt jung und wollen sofort reisen! Diese Haltung verschlug mir tatsächlich die Sprache. Das also war das Ergebnis unserer Erziehungsarbeit! So dachten junge Menschen, denen bisher in der Absicht, es möge ihnen besser gehen als ihren Vorfahren, ohne Gegenleistung (also bei massenhafter Verletzung statt Durchsetzung des Prinzips, wonach jeder erst nach seinen Fähigkeiten arbeitet und danach entsprechend seiner Leistung entlohnt wird) „Zucker in den Hintern geblasen“ worden war, wie man bei uns zu Hause sagte.

Als sich im November 1989 die politische Spannung immer mehr auflud, insbesondere nach dem Bericht vor der Volkskammer über Korruption und Privilegien in Kreisen der Führung der SED und der DDR, wirkte sich das verständlicherweise auch auf den Lehrbetrieb an der PH Erfurt/Mühlhausen aus. Wenige Minuten nach Beginn einer meiner damaligen Vorlesungen gab es viele mündliche und schriftliche Wortmeldungen der Studenten, zu deren ausreichender Beantwortung ich Generalsekretär des ZK der SED, Staatsratsvorsitzender, Minister, 1. Bezirkssekretär und 1. Kreissekre tär der SED, Bürgermeister, Leiter der Abteilung Handel und Versorgung oder Wohnungswesen usw. in einer Person hätte sein müssen. Ich stand aber vor der Wandtafel des Mühlhäuser Biologie-Hörsaals allein den mir anvertrauten Studenten des 1. Studienjahres gegenüber und machte ihnen deshalb folgenden Vorschlag: Es ist sinnlos, auf diese Weise das Lehrprogramm erfüllen zu wollen. Ich werde jetzt den Raum verlassen, damit in meiner Abwesenheit darüber diskutiert und entschieden werden kann, ob ich weiter lesen soll oder nicht. Ich werde Ihre Entscheidung respektieren. Sie können mich holen, wenn Sie zu einem Urteil gelangt sind. - Ich ging. Nach etwa 20 Minuten baten mich zwei Studenten, zu kommen. Ein gewählter Sprecher verkündete mir, die Mehrzahl der Anwesenden sei dafür, daß ich weiter für sie Vorlesungen halte.

Wenige Wochen nach dem Beitritt der DDR zur BRD, kurz vor Weihnachten 1990, wurde allen Mitarbeitern der Bereiche Pädagogik/Psychologie, Polytechnik sowie Sozialwissenschaften - wo inzwischen schon acht hilfsbereite Kollegen aus den alten Bundesländern arbeiteten! - eröffnet, daß ihnen zum 31.12.1990 gekündigt werde. Wir hatten die Möglichkeit, ab 1. Januar 1991 in die „Warteschleife“ zu gehen. Man bekäme Gehalt bis zum Ende des Studienjahres, solle sich jedoch umgehend beim Arbeitsamt um neue Arbeit bemühen. Es gelte Hausverbot für das Gelände der PH. Da es jedoch in den Weihnachtsferien nicht möglich sein werde, etwa 100 Lehrkräfte aus den alten Bundesländern zu beschaffen, könne man sich auch bereit erklären, die begonnene Ausbildung bis zum Ende des laufenden Studienjahres mit abzusichern. Ich entschied mich für die letztgenannte Variante auch deshalb, weil ich die Räumlichkeiten, Bibliothek usw. der PH in dieser Zeit noch für die MEGA-Forschung nutzen wollte. Aber mit dieser Entscheidung hatte ich, wie mir dann bei Abgabe der Arbeitspapiere erklärt wurde, meine Kündigung beantragt.

So war ich ab Oktober 1991, zum ersten Mal in meinem Leben - und zwar in der BRD - mit der hinter vorgehaltener Hand gemachten Ankündigung arbeitslos, daß ich nie wieder in einer deutschen Schule oder Hochschule unterrichten dürfe. Ich wurde, wie Tausende andere Angehörige der Intelligenz der DDR, mit meinen 50 Jahren sozusagen lebendig zu den Toten geworfen. Seitdem bin ich - trotz Anpassungsfortbildung zum Bürogehilfen („Firmen- und Verwaltungsassistent“) - Arbeitslosenhilfeempfänger. Auch deshalb war ich froh, auf Einladung der Volksrepublik China ab September 1997 ein Jahr lang in Beijing arbeiten zu können.

Ich habe nach meiner Kindheit vor allem versucht, für solche Menschen dazusein, die Unterstützung brauchten. Den Möglichkeiten entsprechend mehr zu geben als zu nehmen, war die Richtschnur meines Handelns. Ich grüße auf diesem Wege alle, mit denen ich Strecken dieses Weges zusammen gehen konnte und wünsche ihnen und ihren Kindern den Umständen entsprechend viel Gutes!

So habe ich die DDR erlebt. Sie war meine Heimat mit ihren Städten und Dörfern und den Bäumen im Wald und den Vögeln und den Fischen im Fluß, wie es in einem unserer schönen Kinderlieder heißt. Die DDR - das war aber auch ich als Mitgestalter unseres Lebens. Ich war ihr Staatsbürger und selbst ein Teil des Staates. Ich war mitverantwortlich für die Mehrung und Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen und die Bildung des werktätigen Volkes. Ich hatte wenigstens das Glück, jahrelang in einer sozialistischen Gesellschaft zu leben. Wie viele Gleichgesinnte, die dafür gekämpft haben oder kämpfen, konnten und können das nicht von sich behaupten! Im Vergleich zu diesen reichhaltigen Jahren sind Visionen, etwa die von Goethes Faust vom „freien Volk auf freiem Grunde“, blaß.

Die DDR war nicht der schlechteste Beitrag, den die Werktätigen, geführt von Kommunisten und Sozialisten, in der fortschrittlichen Geschichte des deutschen Volkes geleistet haben! Nein, wir müssen nicht im Büßerhemd herumlaufen; denn wir haben gewagt, mit und für breite Massen werktätiger Menschen die Erde glücklicher zu bauen - und zwar ohne private Konzerne, Banken und Großgrundbesitzer. Wir haben jahrzehntelang praktisch bewiesen, daß dieser neue, sozialistische Gesellschaftszustand unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich ist. Sollen wir nun in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften, wie Goethe seinen Prometheus fragen läßt? Niemals!

Vermitteln wir den Nachrückenden möglichst wahr, was wir wollten, getan, erlebt und falsch gemacht haben. Denn das sind wir ihnen schuldig. Und: Die Geschichte der Menschheit ist noch nicht an ihrem Ende angelangt!

Prof. Dr. Eike Robert Kopf

 



1 Z B „Auf dem Pfade der Wagehälse. Erzählung für die Jugend“ von dem sowjetischen Autor O Korjakow, erschienen 1951 in Rudolstadt mit der Widmung „Eike Kopf, Kl. 5 für gute Leistungen im Schlj 1951/52 Bollstedt, den 6 7 1952 Böhning, Schulleiter“; „Freundschaft, Drushba Amitié Schriftsteller schreiben an deutsche Kinder“, erschienen 1953 im Kinderbuchverlag Berlin mit der Widmung „Eike Kopf, Für gute Arbeit beim Sammeln von Knochen und Schrott Bollstedt, den 19 Dez 1953, Böhning, Schulleiter“ oder „Deutschland - du hebe Heimat“, erschienen 1955 im Kinderbuchverlag Berlin mit der Widmung „Zur Erinnerung an die Schulentlassungsfeier 1955, Hartmann“.

2 U a „Sally Bleistift in Amerika“ von Alex Wedding, „Flamme des Zorns“ von E Wygodskaja über den Aufstand Anfang des 18 Jahrhunderts auf Java gegen die holländische Kolonialmacht, „Goethe in Dachau“ von Konstantin Simonow, „Die Mammutjäger" von Eduard Storch und „Tamar“ von Leo Katz über das Leben einer Sklavin, „Die Fahne des Pfeiferhänsleins“ von AlexWedding über Bauernerhebungen 1476, „Das große Abenteuer des Kaspar Schmeck“ von Alex Wedding über den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1776, „Heißes Dorf auf Madagaskar“ von Arkady Fiedler, „Weltall -Erde – Mensch“, das Teilnehmer an der Jugendweihe als Geschenk erhielten, „Afrika - Traum und Wirklichkeit“ sowie „Südamerika“ von J Hanzelka und M Zigmund, „Der Bronzeschatz“ von Eduard Storch über das Stammesleben in der Bronzezeit, „Onkel Toms Hütte“ von Harnet Beecher-Stowe, 4 Bände „Der junge Naturforscher“, „Das Eismeer ruft“ von Alex Wedding über die Rettung der Mannschaft des sowjetischen Eisbrechers „Tscheljuskin“ 1934 und „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski.

3 „Geschichte der KPdSU“, „Reden und Aufsätze“ von Wilhelm Pieck, „Reichstagsbrandprozeß“. Dokumente, Briefe und Aufzeichnungen von Georgi Dimitroff, Protokoll des III. Parteitages der SED, Marx’' „Kapital“, „Ich erlebte Ungarn“ von Georg Stibi und „Geißel der Menschheit“ über den deutschen Faschismus von Lord Russell of Liverpool, Junckers Wörterbuch Russisch/Deutsch - Deutsch/Russisch, Langenscheidts Taschenwörterbuch der russischen und deutschen Sprache, „SS im Einsatz“ und „Der dialektische Materialismus“ von R. O. Gropp, „Politische Ökonomie. Lehrbuch“. Übersetzung aus dem Russischen, „Ausgewählte Schriften in 2 Bänden“ von Karl Marx/Friedrich Engels und „Ausgewählte Werke in 2 Bänden“ von W. I. Lenin.

4 Der letzte Absatz lautet „Der Sieg des Neuen auf dem Dorfe kam nicht über Nacht, sondern es war ein schwerer Kampf, der noch immer nicht abgeschlossen ist, der sich noch weiter entwickelt Die treibende Kraft der Vorwärtsentwicklung auf dem Lande sind die Gegensätze zwischen Überholtem und Vorwärtsdrängendem, zwischen überholten Arbeitsmethoden und der fortschreitenden Technik, zwischen Altem und Neuem.“  Die Beurteilung lautet „Einfache herzhafte Einleitung - Der große Vorzug der Arbeit ist, daß K sich zu beschränken weiß, und zwar - mit Blick auf das Ganze - auf seinen Erfahrungskreis. So wird die Darstellung lebendig, richtig proportioniert und parteilich; sie ist aus einem Guß [ ... ] Sehr gut Mühlhausen, d 17 5 59 Möller“

5 Wir hatten außer an den Staatsratsvorsitzenden z B auch an den Minister für Volksbildung, den Zentralrat der FDJ, das Komitee für Körperkultur und Sport in Berlin, das Magazin des Deutschen Turn- und Sportbundes in Leipzig, den Spitzensportler Hans Grodotzki, den Deutschen Fernsehfunk und Radio DDR geschrieben.

6 Es handelte sich dabei um das Anfang Juni 1950 in der DDR eingeführte obligatorische Studium von philosophischen, ökonomischen, politischen und historischen Problemen der Welt und vor allem Menschheitsentwicklung Es war eine Art „studium generale“ zu gesellschaftlichen, insbesondere politischen, Grundfragen

 

7 In ihr heißt es „Die Philosophische Fakultät der Friedrich-Schiller-Umversität Jena verleiht [    ] Herrn Eike Kopf aus Bollstedt den Grad eines Doktors der Philosophie – Dr. phil. -, nachdem er in ordnungsmäßigem Promotionsverfahren durch die Dissertation ‚Die Wirkungsgeschichte von Karl Marx’ «Das Kapital« in Deutschland bis 1872’', ihre öffentliche Verteidigung und die mündliche Prüfung seine wissenschaftliche Befähigung erwiesen und dabei das Gesamturteil 'Sehr gut (magna cum laude)’ erhalten hat.“

8 Über dieses PI erschien übrigens 1971 im Mitteldeutschen Verlag Halle der Roman von Heinz Kruschel „Wind im Gesicht“.

9 Dies war Fachleuten von Universitäten und Akademien der DDR ein wichtiges wissenschaftliches Argument dafür, dem Ministerrat (d. h. der Regierung) der DDR 1989 zu empfehlen, daß der Histonsch-Philologischen Fakultät der PH Erfurt/Mühlhausen das Recht verliehen wird, selbständig Habilitationsverfahren durchfuhren zu dürfen. Die Verleihung erfolgte 1990.

10 „Selbst das Sowjetsystem konnte, wie die vielen Tausend Dissidenten zeigten, das Individuum niemals völlig zerstören [als habe sich das irgendeine Führung eines sozialistischen Landes jemals zum Ziel gesetzt - E K ]. Das aber hieß, daß die richtige Person genau die Herrschaftsform in Frage stellen konnte, deren sie sich bedient hatte, um an die Macht zu kommen Deshalb war ich der Überzeugung, daß wir uns aus der nachrückenden Generation sowjetischer Spitzenpolitiker den vielversprechendsten heraussuchen und ihn uns warmhalten sollten / Manchen scheint es, als sei ich von meiner ursprünglichen Einstellung zur Sowjetunion abgekommen, weil ich mich von Michail Gorbatschow blenden ließ. Aber ich habe ihn entdeckt, weil ich nach einem wie ihm gesucht hatte / Das wenige, was wir über Gorbatschow wußten, erschien uns ermutigend. Er war zweifellos das gebildetste Politbüromitglied, und er galt als aufgeschlossen. Unter Nikita Chruschtschow, Leonid Breschnew und Andropow war er aufgestiegen, wenn sich das auch ebensogut als Anpassungsfähigkeit statt als Tüchtigkeit deuten ließ. Immerhin hatte ich aber auch von dem kanadischen Ministerpräsidenten Pierre Trudeau Gutes über ihn gehört. So horchte ich auf, wann immer sein Name fiel. [ ...] Ich wollte [z. Z. des Wirkens von Konstantin Tschernenko, Generalsekretär der KPdSU - E K ] erst einmal verschiedene Meinungen hören, und so schickten wir Einladungen an mehrere hohe Funktionäre, darunter Gorbatschow. [...] Die Gorbatschows trafen am 16. Dezember 1984, einem Sonntag, zum Mittagessen ein. Das Tischgespräch entwickelte sich rasch zu einer lebhaften Diskussion [...] Ich musste mir eingestehen, daß er mir gefiel [...] Ich spürte [im März 1987 in der UdSSR - E K ], daß sich große Veränderungen anbahnten, hatte aber nie zu hoffen gewagt, daß sie so rasch eintreten würden.“ Bis 1990 habe sie Gorbatschow bei seinen „Reformen“ unterstützt. „Die ersten Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs des Kommunismus in Osteuropa wurden im Sommer 1989 erkennbar. In Polen gewann die Solidarnosc die Wahlen. In Ungarn machte die Liberalisierung so große Fortschritte, daß das Land im September seine Grenze zu Österreich öffnete, worauf eine Massenflucht Ostdeutscher in den Westen einsetzte. / Dieser Aderlaß führte in der DDR zusammen mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig letzten Endes zum Sturz Erich Honeckers und dem Fall der Berliner Mauer. Noch bevor das Jahr zu Ende ging, wurde der regimekritische Dramatiker Vaclav Havel zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt. / All das konnte geschehen, weil der Westen stark und konsequent geblieben war - aber auch, weil Gorbatschow und die Sowjetunion von der Breschnew-Doktrin abgerückt waren, derzufolge sich kein Staat des sowjetischen Machtbereichs vom Kommunismus lossagen durfte. / Im Rückblick erscheint mir die weltpolitische Entwicklung der späten 80er Jahre als positiv. Der Kommunismus wurde besiegt ...“ Das Beste. Readers’ Digest. Stuttgart, Nr. 8/1995, S. 62-66.

11 Siehe Andrei Gromyko: Erinnerungen. ECON Verlag, Dusseldorf Wien New York (1989)


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