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Auf Achse für die Solidarität

Erlebnisse in den „Solistudios“ des DDR-Rundfunks

  Der Traum vom Radio

Ungelogen: Seit meinem zehnten Lebensjahr wollte ich Rundfunkreporter werden. Allerdings blieb meine Mutter zeitlebens der Meinung, daß die liebe Verwandtschaft mir „diesen Floh ins Ohr“ gesetzt hätte, weil sie sich davon versprach, das kindliche Plappermaul auch endlich einmal abschalten zu können.

Immerhin war aber in meiner Familie das Ein- und Ausschalten von Radioapparaten so selbstverständlich wie heute das Zappen mit der Fernbedienung durch Dutzende von Fernsehkanälen. In der Mitte der fünfziger Jahre, dazu in Hennigsdorf bei Berlin, konnte das jedoch nicht jeder von sich behaupten. Und wie meistens besonders die Dinge des Lebens die größte Anziehungskraft entfalten, die am weitesten entfernt oder am wenigsten erschwinglich erscheinen, so zog dieses faszinierende Funk-Medium auch mich in seinen Bann. Ja, noch heute läßt mich der Gedanke immer wieder staunen: „Die ganze Luft ist ja voller Radio!“

Im Vergleich aber zum aktuellen Gedränge, Geschiebe und dem mitunter heillosen Geschubse im Äther mag dieser Ausruf vielleicht übertrieben klingen. Schließlich gab es seinerzeit der Sender noch nicht allzu viele. Mein „Radiomenu“ beispielsweise bestand aus dem Deutschlandsender, aus Radio DDR und dem Berliner Rundfunk. Hinzu kamen (abgeschirmt mit Kopf- und Sofakissen) RIAS Berlin, Sender Freies Berlin, der amerikanische Soldatensender AFN sowie gelegentlich auf schwankenden Mittelwellen der DDR-gestützte Freiheitssender 904 der westdeutschen KPD. Aber allein diese Stationsnamen sagen wohl nicht nur dem Insider, welche Antennenstürme solch eine „himmlische“ Konstellation auszulösen vermocht hatte. Es wurde gefunkt, was das Zeug hielt, hin und zurück, kreuz und quer, auf daß die Drähte glühten und die Funken stiebten. Die Gründe dafür seien einmal zurückgestellt, sie sind auch hinreichend bekannt. Die „stürmische Anteilnahme“ des Publikums ebenso.

In dieses Getümmel mich hineinstürzen zu können und einen hörbaren Teil von mir einzubringen, sollte gleichermaßen Ziel und Motivationsgrundlage während meiner gesamten Schulzeit bleiben. Und als an deren Ende, kurz vor den letzten Abiturprüfungen, ein kleiner Brief mich aufforderte, an einem Frühsommertag des Jahres 1965 beim Deutschlandsender im Funkhaus Nalepastraße von Berlin-Oberschöneweide vorzusprechen, „zwecks Aufnahme eines Volontariats“, da war es an mir, ungläubig aus der Wäsche zu gucken. Wieviel Unkenrufe hatten mich begleitet: „Willst wohl was Besseres werden?“ Die zweifelnde Ungewißheit war nach recht eigenartigen Aufnahmeprüfungsgesprächen an der Karl-Marx-Universität Leipzig nicht unbedingt gewichen, und selbst die eigene Familie mit Tanten und Onkeln, denen mehr als die Volksschulabschlusse der Vorkriegszeit nicht vergönnt waren, sah inzwischen statt spöttisch einigermaßen skeptisch auf das „Küken“, das zum vermeintlichen Höhenflug ansetzen wollte. Andererseits wurden die meisten meiner Verwandten aber auch von einem ungemeinen Stolz getragen, der in der traditionsreichen Hennigsdorfer Arbeiterbewegung wurzelte. Und aus ihr waren sie erwachsen. Nicht wenig hatten sie dabei mitgemacht. Vom bewaffneten Widerstand gegen den Kapp-Putsch über den Hundert-Tage-Streik der Stahlwerker bis zu Faschismus und Krieg. Auch der Siebzehnte Juni war nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Doch solange die Sippe auch zurückdachte, auf eine höhere Schule war weder einer aus der mütterlichen noch jemand aus der väterlichen Linie verschlagen worden. „Und jetzt ausgerechnet dieser Schlaks“, womit mein Onkel Alfred, dem die Gestapo sämtliche Zähne ausgeschlagen hatte, mich meinte. „Wülste etwa 'n zweeter Oertel werden?“

 

Wenn in jenen Zeiten jemand von außen auf den Rundfunk schaute oder - und vor allem - hörte, ohne dessen Inneres zu kennen, dann waren für ihn gewiß die Sportreporter die Könige der Ätherwellen. Auf anscheinend unversiegbare Wortschätze und sicherlich auch riesige Lungenflügel gestutzt, übertrugen sie, scheinbar fast ohne Luft zu holen, atemberaubende „Hörbilder“ aus fernen Wettkampfarenen, die den Eindruck vermittelten, man wäre unmittelbar dabei und sähe förmlich, wie sich z. B. der Linksaußen durch die vielbeinige Abwehr dribbelte, um dem Mittelstürmer das Leder auf den Kopf zu zirkeln, der es dann mit eisenhartem Schädel unter die Querlatte hämmerte.

Auch heute noch ziehe ich vor diesen Reportern tief meinen Hut. Nur mit einem, weiland an einer langen „Strippe“ hängenden, Mikrofon in der Hand, doch mit heißem Herzen auf der Zunge, erreichten sie fast jedes Wohnzimmer und ließen dort mit treffenden Worten und tollkühnen Methaphern unmittelbar lebendig werden, was andernorts augenblicklich geschah. Im DDR-Hörfunk wurde diese Gilde von Werner Eberhardt, Wolfgang Hempel und eben Heinz Florian Oertel angeführt. Nannte man aber Eberhardt, Hempel, Homrighausen, Knobloch, Kohse u. a. in der Abfolge der Jahre nicht einmal unzutreffend die Könige, dann mußte man Oertel neidlos den Thron eines Kaisers der Hörfunksportreportage zugestehen - zumindest was seinen Popularitätsgrad betraf. Und ich gestehe freimütig: Ihm nachzueifern, war gewiß der kleinste Antrieb nicht, der mich meinen Berufsweg gehen ließ. Außerdem war da natürlich auch der Traum, irgendwann - den Sportreportern gleich - die weite, aber hierzulande fast unerreichbare Welt unter die Füße nehmen zu können.

  Die Landung im Radio

Es ist keine neue Einsicht, doch jeder hat sie wohl mindestens einmal für sich selbst gewinnen müssen: Bevor man etwas unter die Füße nehmen kann, muß man zuerst auf ihnen zu stehen kommen, möglichst auf den eigenen. Und der Boden, den man unter ihnen haben bzw. behalten und nicht verlieren möchte, ist dafür von erheblicher Bedeutung. Mein Boden war ganz gut bestellt. Und bereits in den ersten Tagen des auf zwei Jahre angesetzten Volontariats wurde er auch gleich noch - um im Bild zu bleiben - kräftig gedüngt. Immerhin ließ es sich der damalige Chef über Hör- und Fernsehfunk, Prof. Gerhart Eisler, der allein schon wegen seiner abenteuerlichen „Heimkehrflucht“ nach dem Zweiten Weltkrieg auf einem polnischen Frachter aus amerikanischem Exil ungeteilten Respekt genoß, nicht nehmen, seinen etwa zwei Dutzend Nachwuchsjournalisten im Radio einerseits die hehren Werte ihres künftigen Berufsstandes zu beschreiben und andererseits die lichten Höhen ihrer Zukunft auszumalen. Und niemals sollten sie vergessen, daß all das auf einer schweren Vergangenheit fuße, „in der ihr alle noch nicht einmal das Blinzeln in den Augen eurer Väter wart“.

Es waren Worte auf den Weg von bleibender Wirkung. Noch jetzt klingen mir bei dem Gedanken daran die Ohren, was natürlich auch der Eislerschen Sprechweise zugeschrieben werden muß, dieser charakteristischen Mischung aus weanerischem Stimm- und rollendem „Rrr“-Klang sowie dem temperamentvollen Einsatz des gesamten Stimmvolumens. Doch seine Begrüßungsrede hinterließ auch die zwiespältige Ahnung, mit dem Abheben zum Höhenflug noch einigermaßen warten zu müssen. Der Boden war zäh und die Bodenhaftung beträchtlich. Beides spürte ich im dritten Stock des Blocks A, der bis 1990 trotz mancherlei „Initiativ- und Schwarzbauten“ das Hauptgebäude des DDR-Rundfunks blieb. In dieser Etage also war beinahe so gut wie alles (außer den Aufnahme- und Sendestudios sowie der Musikabteilung) auf einem Flur versammelt, was für den Deutschlandsender wichtig und seine Sendungen unabdingbar war: die Intendanz, die Chefredaktion, die Programm- und Fachredaktionen, das Kader-(Personal-)büro sowie die Sendeleitung, die den Programm- und Produktionsablauf steuerte und über die pünktliche Ausstrahlung der von den Redaktionen gelieferten Sendungen zu wachen hatte. Anfangs konnte sogar noch ein Pressearchiv im 3. Stock untergebracht werden, das aber bald aus allen Nähten platzte und umquartiert werden mußte.

Auf dieser Etage gab es im Prinzip zwei wesentliche Orientierungsmarken, die ahnen ließen, daß ein Rundfunksender auch nur ein normaler Betrieb war. Sie hießen „vorne“ und „hinten“, was hier aber Intendanz bzw. Chefredaktion („vorne“) und die Sendeleitung („hinten“) meinte. Diese diametrale Positionierung war so recht nach dem Geschmack der Mitarbeiter, die ab und an ihre „ironisch-satirischen Affen“ füttern konnten, da sich auch die wichtigen aktuell-politischen Redaktionen für die Früh-, Mittags- und Abendsendungen, die man übrigens bei fast allen deutschen Radiostationen in trauter Einvernehmlichkeit „Zeitfunk“ nannte, mehr „hinten“ als „vorne“ angesiedelt hatten. Infolgedessen kreuzten zwischen diesen Bojen täglich die Verantwortungsträger von „vorne“, das geographisch gesehen im „warmen Süden“ lag, nach „hinten“ in den „rauhen Norden“ des Gebäudes und zurück. Dabei konnte jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter leicht an der Art der betonten oder belasteten Schritte, der Spannkraft der betreffenden Körper und der Haltung der jeweiligen Köpfe erahnen, woher der Wind gerade wehte. Denn die Schaltzentralen des Senders verbanden keine Schleichwege, sondern ein schier endlos erscheinender und auch verschwenderisch breiter Gang. Nicht nur ein junger Volontär oder Redaktionsassistent begann auf dieser Strecke sein Gedächtnis nach möglichen Sündenfällen umzupflügen und schließlich an Canossa zu denken, wenn ihm die Sekretärin mit dem gewissen Nachdruck ausgerichtet hatte: „Sie sollen nach ‚vorne’ kommen!“

Am Anfang war die Seele noch porentief rein, da löste diese Aufforderung vor allem gespannte Neugier in mir aus. Immerhin erwarteten mich zum Start dieser Art von Praktikum, dem sich zwei Jahre später ein Journalistik-Studium in Leipzig anschließen sollte, gleich drei markante Führungsgestalten des Deutschlandsenders, deren Namen mir schon vertraut waren, ehe ich ihnen in Gänze gegenübersaß.

Da war zum einen der damalige Chefredakteur Georg Grasnick, der gerade erst seit kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß leben durfte, nachdem man ihn in Westdeutschland unter fadenscheinigen Vorwürfen wegen seiner journalistischen und damit auch politischen Tätigkeit für den Sender ins Gefängnis gesperrt hatte. Die Proteste, die sich dagegen erhoben hatten, waren nicht nur auf die DDR-Medien begrenzt geblieben und hatten wohl auch deshalb recht schnell Wirkung gezeitigt.

Vor Grasnicks Schreibtisch, an einer wuchtigen Konferenztafel aus massiver Eiche, saß Kurt Goldstein, damals stellvertretender Chefredakteur, vormals Kämpfer der Internationalen Brigaden in Spanien und überlebender Auschwitz-Häftling, ein kommunistischer Jude, wie er sich selbst beschrieb, ein jüdischer Deutscher und ein deutscher Kommunist - also die leibhaftige Personifizierung des damals gehuldigten Leitbildes vom deutschen Patrioten und proletarischen Internationalisten, eine lebende Legende und eine Seele von Mensch für seinesgleichen. Vornehmlich einem Anliegen fühlte er sich in der Nalepastraße und darüber hinaus verpflichtet: Mit der ganzen Wucht und Eindringlichkeit seiner Stimme immer wieder - ob auf Straßen, Plätzen oder eben im Radio - seine aus gnadenlosem Erleben geborenen Mahnungen und Warnungen als felsenfeste Forderungen unters Volk zu bringen und als gelebte Überzeugungen auf seine Mitarbeiterschaft zu übertragen: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ Für mich, der sich gerade anschickte, sein zwanzigstes Lebensjahr zu vollenden, war er das, was einem die Augen größer und das Herz weiter werden ließ - und noch 2000, in seinem 86. Lebensjahr, trifft man ihn als deutschen Repräsentanten der internationalen Vereinigung der antifaschistischen Widerstandskampfer (FIR) immer dort, wo mit großem Ernst, betonter Eindringlichkeit und unverzagtem Optimismus gegen braune Geisterbeschwörungen Front gemacht wird.

Beide Leiter blickten mich geradezu heiter an und lockerten dadurch meine bestimmt sichtbare Anspannung und Erregung. Doch sie erinnerten mich in Ton und Gestus auch lebhaft an die kollektive Begrüßung, die meinen einstigen Klassenkameraden und mir in der erweiterten Puschkin-Oberschule Hennigsdorf, einer der beiden „Abiturientenschmieden“ im Altkreis Oranienburg, am Beginn des neunten Schuljahres zuteil geworden war. Fräulein Neumann hatte nämlich auch dieses heiter-ironische Lächeln in den Augen, als sie ihre erste Stunde bei uns mit den Worten begann: „Welcher Jahrgang seid ihr? 46/47 - aha. Nachkriegsproduktion!“

Bei der Lehrerin bin ich mir nicht mehr sicher. Beim Chef und seinem Stellvertreter im Deutschlandsender habe ich es aber später immer wieder zu spüren bekommen. Sie haben sich einfach gefreut, endlich jemanden in ihrem Arbeitsbereich zu haben, der weder durch Hunger, Fliegeralarm und Artilleriebeschuß für sein ganzes Leben gezeichnet noch aus den geistigen Ruinen überwundener Zeiten aufzuerstehen verpflichtet war. Es war eine ganze Menge Hoffnung mit im Spiel, daß die „Nachkriegsproduktion“ wertvolle „Friedensware“ werde.

Grasnick und Goldstein überantworteten mich meiner ersten Ausbildungsstation, der Zeitfunkredaktion, die durch Martin Radmann geleitet wurde. Sein Name hatte unter Radiohörern bereits Mitte der sechziger Jahre einen durchaus prominenten Ruf. Und seine Kommentare gehörten sicherlich zu den Markenzeichen des Deutschlandsenders und fanden dementsprechend Resonanz in Ost aber auch Gehör in West. Er war es dann auch, der mich über den langen „Laufsteg der Leiter“ von „vorne“ in die Redaktion nach „halbhinten“ begleitete, wo mich wenige Tage später Ernst Knirsch als Mentor unter seine Fittiche nehmen sollte.

Ernst Knirsch atmete ebenfalls den Hauch einer Legende, allerdings nur betriebsintern, denn Knirsch war aus Bayern nach Berlin-Ost gewechselt. Er nahm also eine Laufrichtung, die aufhorchen ließ, da sie ja gewöhnlich entgegengesetzt eingeschlagen wurde. Und außerdem verstand er es, seinem Namen mindestens ebensoviel Ehr’ wie Unehr’ zu machen. Sein kritisches Knirschen bei zweifelhaften Vorgaben und Rücknahmen, bei leichtfertigen Einschätzungen und Unterschätzungen, bei undurchsichtigen Umsetzungen und Absetzungen sowie bei frenetischem Hochjubeln und blindem Niederschmettern, war schon eine Größe, auf die man sich unbedingt verlassen konnte. Manchmal knirschte es bereits im Knirschschen Gebälk, wenn nur leise angedeutet wurde, was ihm möglicherweise wieder zugemutet werden sollte. Dabei war er ein sehr einfallsreicher, erfahrener und stets um Originalität bemühter Kommentator. Sein Gebälk knirschte zwar permanent, aber es rieselte dort nichts. Im Gegenteil. An seinem Sachverstand, seiner zwingenden Logik und seinen sprachlichen Fähigkeiten habe ich mir manchen Splitter eingerissen, was natürlich mitnichten zu meinem Schaden war. Immerhin habe ich auf diese Weise relativ schnell gelernt, daß eine Nachricht kein Wandzeitungsartikel und ein Kommentar kein Schulaufsatz ist. Doch ehe Knirsch einen Beitrag von mir mit dem Prädikat „sendefähig“ und seinen Initialen schmückte, sollte knapp ein Monat vergehen.

Dieses „Auftaktswerk“ kam aber zunächst in Gestalt eines Korrespondentenberichtes aus dem Niedersächsischen. Er besagte, daß der Bruder eines ehemaligen namhaften Landtagsabgeordneten seine Stimme gegen dessen willkürliche Inhaftierung erhoben hatte. Das Papier schilderte Richard Baumgartes vergebliches Bemühen, offene Ohren für die Unrechtmäßigkeit der Verhaftung und die Haltlosigkeit der Vorwürfe zu finden. Justizverwaltungen und politische Instanzen stellten sich staub und stur, handelte es ich hier doch um einen gravierenden Fall politischer Strafverfolgung, den es nach dem Papier gar nicht hätte geben dürfen. An mir war es nun, dafür zu sorgen, daß dieser Unrechtsakt nicht unter den Teppich gekehrt werde konnte, sondern auch für zwei Minuten und dreißig Sekunden zwischen Kieler Förde und Bodensee namhaft gemacht wurde. In dieser kurzen Zeitspanne mich als Lautsprecher von Richard Baumgarte zugunsten seines Bruders Ludwig betätigt zu haben, der wegen seines Engagements in der Deutschen Friedensunion eingesperrt worden war, blieb nicht folgenlos - was gleichermaßen typisch wie charakteristisch war.

  Die Zärtlichkeit des Radios

Che Guevara beschrieb einst die internationale Solidarität als „die Zärtlichkeit der Völker“. Doch wer löste bei ihnen diese Zärtlichkeit aus? Für den Teil Deutschlands, in dem ich mir meinen Berufswunsch erfüllen konnte, bin ich mir sicher, denn ich habe daran an fast allen möglichen und auch unmöglichen Stellen im und für den Rundfunk mitgewirkt. Auf seinen weitreichenden Frequenzen, mit lang, mittel, kurz oder gar ultrakurz pulsierenden Radiowellen brachte der Deutschlandsender viele Augen zum Leuchten, Herzen zum Klingen und Gesichter zum Strahlen, selbst wenn sich im gleichen Atemzug Gedanken schärfen und Fäuste ballen sollten. Gerade ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre waren dabei die Knöchel über der Handwurzel oft hart geworden. Der Fall Baumgarte illustrierte lediglich als ein Beispiel die Schärfe und die verhängnisvolle Wirkung einer Auseinandersetzung, deren Quelle einen Namen trug: „KPD-Verbot“.

Das Bundesverfassungsgericht hatte mit diesem 1956 ergangenen Urteil aber nicht nur die sich bekennenden Kommunisten zu Freiwild erklärt, sondern auch eine juristische Handhabe dafür geschaffen, Leute, denen allein der Hauch eines Geruchs von kommunistischen Umtrieben anhaftete, strafrechtlich zu verfolgen und mit ziemlich drakonischen Freiheitsstrafen zu belangen. Eine der verwerflichsten als „kommunistisch“ eingestuften Untaten war seinerzeit der offene und öffentliche Widerstand gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, die atomare Aufrüstung der Bundeswehr sowie die westdeutsche Anbindung an die Pariser Vertrage für die EVG - die Europäische Verteidigungsgemeinschaft - bzw. die Einbeziehung in die NATO als Speerspitze gegen den Osten. Doch trotz Strafandrohung ließen sich diejenigen, denen der Frieden ein hohes Gut aber kein Geschenk war, nicht einschüchtern. Und je größer ihre Zahl, desto erbitterter wurden sie gejagt, geschnappt und hinter Gitter gebracht. Gleichermaßen ertönte ein Schlachtruf des Kalten Krieges immer lauter. Er nahm die „westdeutsche Klassenjustiz“ ins Visier, deren „Klauen“ die „Unrechtsopfer“ zu „entreißen“ wären. Sicherlich spielte bei der Einführung dieses schweren propagandistischen Geschützes auch der Gedanke eine maßgebliche Rolle, daß schuldbeladene Juristen des Dritten Reiches mit tiefbraunen Westen und blutbefleckten Roben die vorgeblich neue westdeutsche Justiz geprägt und getragen hatten. Ausgewiesene Antifaschisten, engagierte Kriegsgegner und Friedensaktivisten mußten hingegen in nicht geringer Zahl hinter schwedischen Gardinen und auf harten Pritschen mit ihren Segnungen Bekanntschaft machen.

Bei dem eifrig befolgten Sendeauftrag und vor allem der von „vorn“ bis „hinten“ empfundenen Seelenverwandtschaft war es nur logisch, daß im erweiterten Führungszirkel des Deutschlandsenders nach Möglichkeiten gesucht wurde, akustische Brücken zu den politischen Häftlingen in westdeutschen Gefängnissen zu bauen. In der Rückschau zeichnet sich dabei ziemlich deutlich ab: Ob sie sich nun Christen oder Marxisten in diesem Lande nannten, wenn sie mit ihren Aktionen neben dem Geist auch das Gefühl und das Gemüt bewegen wollten, dann nutzten sie dazu nichts lieber als die Vorweihnachtszeit. Überdies waren die brütenden Köpfe im Block A des Funkhauses an der Peripherie von Oberschöneweide sogar noch Kommunisten, also nach heutigem Verständnis zu allem fähig und raffiniert. Doch wenn mich nicht alles täuscht, hatten viele von ihnen nicht nur Grips sondern auch Herz. Gerade dieses durfte wohl den Goldsteinen und Radmännern (samt Frauen) eingegeben haben, den „Brückenschlag“ auf musikalischen Schwingen zu vollziehen, und die übermittelten solidarischen Gedanken durch die Erfüllung von Musikwünschen zu bereichern, die diesem Ansinnen entsprachen. Und so erlebten im Advent des Jahres 1958 die vorweihnachtlichen Rundfunksolidaritätskonzerte ihre Premiere. Mit den ersten Takten des Klavierkonzerts Nr. 1, b-Moll, von Peter Tschaikowski, diesem massiven Orchestereinsatz, der sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog, hatte die Aufnahmeleiterin Ursula Bruns zudem eine Vorspannmelodie empfohlen, die dreißig Jahre lang für eine unverwechselbare Identität sorgte, auch wenn später ein Hersteller von Schuhwichse und noch heute ein Allgäuer Joghurt-Produzent die Suggestivkraft dieses Stückes für die eigene Werbung einsetzten. Das lag in unserem Fall vermutlich auch an der geglückten Synthese von Musik und Wort. Der in der DDR durch aufsehenerregende Fernsehdokumentationen mit seinem Kompagnon Walter Heynowski berühmt gewordene Gerhard Scheumann war es, der als einer der Taufpaten diesem Radiokind den Namen gab. Ein Motto wie ein Credo, das Programm wurde: „Dem Frieden die Freiheit“. 

Das Klingeln des Radios

Wie zum Handwerk das Klappern, gehört das Klingeln zum Geschäft. So trug zum Beispiel die Dresdner Bank jahrelang das „grüne Band der Sympathie“ vor sich her, während die Deutschlandsender-Aktion „Dem Frieden die Freiheit“ die Erdkugel symbolisch mit einem „roten Band der Solidarität“ umfaßte. Das Symbol sollte allerdings recht bald die Wirklichkeit erfassen. Je härter die Fronten der Ost-West-Konfrontation, desto größer auch die Anzahl derer, die zwischen ihnen zerrieben zu werden drohten. Als ich nach meinem Wehrdienst 1969 an den Sender zurückkehrte - die Kollegen flachsten: „Nun hast’e ja auch dem Frieden gedient, aber ohne Freiheit“ -, da schickten sich die Amerikaner im Fernen Osten gerade an, Vietnam „in die Steinzeit“ zurückzubomben. In Afrika ließen die alten Kolonialherren nichts unversucht, wieder die Zügel in die Hand zu bekommen. Die Lunte glimmte an allen Ecken und Enden, und die Not der dritten Welt, der Hunger, das Elend schrieen zum Himmel. Angesichts dessen war dem Häuflein der „aufrechten Solidaritäter“ schon längst klargeworden, daß moralische Unterstützung in Form von herzerwärmenden Musikstücken, die Gefängnismauern zu durchdringen vermochten - so wichtig sie auch sei - nicht ausreichte, sondern durch handfeste materielle Hilfe, also durch Geldspenden, ergänzt werden müsse. Also wurde immer, wenn's November ward, geklingelt. Mit dem Vorspann, mit einer kaum zu überhörenden Kontonummer „88 8 88 beim Berliner Stadtkontor“ und mit einer radiotypischen Erfindung, den „rollenden Solidaritätsstudios“. Allerdings waren für die Öffentlichkeit zunächst nicht so sehr die Studios wahrnehmbar als vielmehr die „rollenden Reporter“. Gelegentlich fielen auch „rasende“ auf, allerdings erst, nachdem der PKW-Fuhrpark größer geworden war.

Anfang Dezember 1969 rollten wir mit der Eisenbahn. Peter Schick, ein Hans Dampf in allen Gassen, der fast gleichzeitig in der Lage war, durch die Bühnenshow „Menschen, Tiere, ferne Länder“ zu führen und auf Schleichwegen den Schauspieler Hans-Jörg Felmy zum Entwurf eines Grundlagenvertrages zwischen der DDR und der BRD zu interviewen - wie in diesem Jahre geschehen - er hatte den Kurs festgelegt: Es ging nach Saßnitz auf Rügen, ein Ziel wie aus dem Bilderbuch. Schiffe, Fischer, weites Meer - was will man mehr, wenn man Zusammenrücken, Füreinanderdasein und Hilfsbereitschaft darstellen wollte und zur Nachahmung anregen sollte? Doch mein Mentor, dem es u. a. aufgetragen war, mir als seinem „Famulus“ die Mittel und Möglichkeiten der Hörfunkreportage zu erschließen, hatte wohl auch aus der Hälfte aller Möglichkeiten das Doppelte gemacht. Aber hier übertrumpfte er sich selbst, was später typisch für jede Besatzung der „rollenden Solidaritätsstudios“ werden sollte.

Zunächst hatten die Reportereinsätze in der Vorweihnachtszeit die Aufgabe, in die abendlichen Solidaritäts-Musikwunsch-Konzerte etwas journalistische Farbe zu bringen - durch Live-Berichte und -Interviews zum Thema Solidarität, aber auch durch aufgezeichnete Reportagen über Aktivitäten an verschiedenen Orten. Als geeignete Würze galten auch spontane Spendenaktionen, Telefonanrufe und Solidaritätsadressen wahrend der Sendung. Dabei waren die inhaltlichen Elemente - wiewohl sie bereits vorab in Berlin konzipiert waren - weitgehend den Intentionen des Reporterteams überlassen, das deshalb auch schon ein paar Tage vor dem Konzert an den Reportageort reiste. So war es auch bei uns beiden, als wir auf der Usedom-Route von Berlin-Lichtenberg aus auf die Insel Rügen fuhren.

Unterwegs hatten wir uns über die Modalitäten geeinigt. Wir wußten, daß und wann die Übertragungstechnik aus Rostock anrückte, wir waren optimistisch, im Betriebsfunkstudio des Fischkombinats eine Extra-Telefonleitung für die Zeit des Solidaritätskonzertes zu erhalten, und wir hatten uns vorgenommen, mit den Fischern und Seeleuten nicht nur Garn zu spinnen. So war es an mir, in der dortigen Fischfabrik auch mal unter die Konservendeckel zu schauen. Die entzückenden Ausrufe „bei Makrelen könnt’ man greelen“ oder „wenn das rauskommt, was da reinkommt, komm’ Sie rein und nie wieder 'raus“ hatte ich allerdings doch lieber den Komikern überlassen, schließlich konnte ja nicht jeder machen, was er mußte - wie es Eberhard Cohrs formulierte. Unterdessen machte aber mein Tourenleiter ein Ding, das mancher eventuell gar krumm nennen würde. Da es aber so richtig gerade auch nicht war, meine ich einfach mal: Es war ein schöner Coup.

Wie in der DDR-Landwirtschaft war auch in der Binnen- und der Küstenfischerei den betroffenen Leuten das Genossenschaftswesen aufgeladen worden. Und sie installierten es da wie dort mit Bauernschläue bzw. mit dem Fischer sin Ul und dem Stuermann sin Nachtigall. So gab es an der Waterkant auf einmal auch Fischereigenossenschaften von unterschiedlichem Typ. Auffällig wurden besonders die Typen I und III. Letztere repräsentierten sozusagen die „armen Schweine“, die das wenige, das sie hatten, allsamt in den Gemeinschaftstopf geworfen hatten, um auf mehr zu hoffen. Öffentlich aber wurde ihnen als den „Repräsentanten des Fortschritts“ gehuldigt, wenngleich nicht wenige dabei grinsen mußten. Die Typen von Typ I dagegen trugen - der Macht gehorchend, nicht dem eigenen Triebe - den Teil der Habe zum Beackern bei, der sich ohnehin individuell immer schon beschwerlicher hatte bewirtschaften lassen. Das gute Stück aber, meinethalben das liebe Vieh, das blieb in eigener Regie. So war also trotz der berüchtigten „Vervollgenossenschaftlichung“ mitnichten Gleichheit eingezogen in die Dörfer. Und auch nicht in die Fischersiedlungen. Saßnitz hatte beispielsweise gleich zwei Genossenschaftsfischereien. Eine des Typs I und eine vom Typ III. Angestachelt von der eigenen Schlitzohrigkeit und ermuntert durch die Größe der Aufgabe, dem Solidaritätsfond belebende monitäre Spritzen verabreichen zu können, lenkte Peter Schick also seine Schritte zunächst in das Büro des Vorsitzenden der FPG, Typ I. Er beschrieb die Solidaritätsaktion in schillerndsten Farben und lautersten Motiven, um dann beiläufig zu erwähnen, wie sehr sich wohl die Saßnitzer das Maul zerreißen würden, wenn sie erführen, die FPG, Typ III, habe fünftausend Mark der DDR auf das Solidaritätskonto eingezahlt, Typ I hingegen noch nicht mal einen Heringsschwanz.

So schnell habe man ihm noch nie einen Scheck über M 5.000 übergeben, versicherte er mir hinterher. Und dieses wertvolle Stück hatte er noch am gleichen Tag dem Vorsitzenden derer vom dritten Typ unter die Nase gehalten. Natürlich wollte dieser sich keine Blöße geben. „Was die können, können wir schon lange“, soll er ohne großen Agitationsaufwand gebrummt haben, als er ebenfalls einen Scheck in dieser Höhe ausschrieb. Aber danach mußten wir uns doch ein bißchen kneifen. Zehntausend Märker auf einen Schlag waren selbst bei der schärfsten Solidaritätsverordnung nicht jeden Tag einzustreichen. Das beflügelte natürlich meinen Mentor, den Außenstellenreporter im rollenden Solidaritätsstudio des Deutschlandsenders. Er wußte, daß - wie stets während der Aktion - freitags zwischen 19.30 Uhr und 22.00 Uhr die Solidaritätskonzerte ausgestrahlt wurden. Er hatte in dieser Zeit drei bis vier Einblendungen zu bestreiten, für die als Beigaben die Aufzeichnungen von Begegnungen mit den Hoch- und Küstenfischern sowie vom Rundgang in der Konservenfabrik vorbereitet waren, auch Partner für Live-Gespräche sollten kommen, und ich hatte mich um die Telefonanrufe während des Konzertes sowie die dabei eingehenden Musikwünsche zu kümmern. Trotzdem fehlte dem Peter noch ein Clou in der Sendung, ein Ding, das Radioleute wie Hörerinnen und Hörer mit der Zunge schnalzen ließ. Immerhin waren wir ja in Saßnitz, und das war nicht nur Fischbrühe.

Wie schon erwähnt, hatte es doch das Interview mit dem späteren „Tatort-Kommissar“ Hans-Jörg Felmy gegeben. Dessen Tat(Aufnahme-)ort lag selbstredend nicht zwischen Elbe und Oder. Um diesen und andere Landesteile westlich davon zu erreichen, brauchten aber selbst DDR-Radioreporter jenen blauen Paß, der für viele die Welt und das Westgeld bedeutete. Aber auch in Saßnitz konnte solch ein Paß eitel Sonnenschein verbreiten. Immerhin legten hier die Eisenbahnfähren der Königslinie ab und an, überquerten zwischen beiden Manövern in gut zwei Stunden die Ostsee nach Trelleborg in Schweden bzw. retour. Dementsprechend war der Saßnitzer Fährhafen normalerweise für unsereiner ziemlich unnahbar. Aber Felmy war noch gar nicht richtig abgedreht und der Reporter aufgedreht sowie mit Dokumenten ausgerüstet. Das war jedoch noch langst kein Freibrief. Trotzdem - und tiefer hat er mich nie in seine Karten gucken lassen - narrte er die Grenzposten im Abfertigungsbereich, bei der Zollkontrolle, an der Gangway zur Fähre „Saßnitz“ der Deutschen Reichsbahn und klopfte an die Kajüte des Kapitäns, als noch genügend Zeit bis zum Ablegen war. Was dabei zwischen den Männern besprochen wurde, war der Höhepunkt des Solidaritätswunschkonzertes in diesem Jahr, der für alle folgenden Jahrgänge Schule machen sollte. Gegen 21.30 Uhr - um Minuten will ich mich nach 30 Jahren nicht mehr streiten - meldete sich über Rügen-Radio auf unserer Übertragungsleitung der Kapitän der „Saßnitz“ live für alle Hörerinnen und Hörer des Solidaritätskonzerts. Man befinde sich mitten auf der Ostsee, habe Trelleborg längst verlassen, sei so etwa eine gute Stunde vor Saßnitz und habe während der Hin- und der Rückreise spontan an Bord für die Aktion „Dem Frieden die Freiheit“ gesammelt und auch Erfolg gehabt. Der Betrag werde gleich nach der Landung auf das Solidaritätskonto 88 8 88 überwiesen. Seefahrerische Details, Reaktionen der Passagiere und Besatzungsmitglieder, Wetter, Wind und Wellen - selbstverständlich - wurden auch noch abgefragt, aber allein, daß ein solcher Fang ans Radioland gezogen werden konnte, machte die Einzelheiten eigentlich unerheblich.

  Der Ehrgeiz des Radios

Allerorten gehört zu werden und Gehör zu finden, davon träumte vom ersten bis zum letzten Angestellten im DDR-Funk jeder, der irgendwie mit dem Programm verbunden war, das täglich unter die Leute gebracht werden sollte. Ganz besonders herausgefordert fühlten sich aber alljährlich diejenigen, die während der Solidaritätsaktion „Dem Frieden die Freiheit“ sowohl über eine breite Resonanz und ein vielfältiges Echo auf die Spendenaufrufe zu berichten hatten als auch mit Musikwunschlisten und Solikassetten klingende Münze „für die internationale Solidarität“ heimbringen wollten. Da „brannte“ nicht nur „die Luft voller Radio“, sondern es wurde auch ansehnlich Wind gemacht. Wind, der gewissermaßen die Ätherwellen hochschlagen und als unüberhörbare Brandung von Saßnitz bis Suhl durch die Lautsprecher rauschen lassen sollte: „Das rollende Solidaritatsstudio umflutet abermals eine Woge der Sympathie und Anteilnahme der Bevölkerung, während sein rotes Band der Solidarität heute im grünen Herzen unserer Republik weht.“

So oder ähnlich klang es immer wieder, wenn das Moderatorenpaar aus dem heimischen Berliner Studio, zwischen der Erfüllung einzelner, schriftlich eingegangener Musikwünsche und der Nennung der Absender eine akustische Verbindung zu den Außenstellenreportern aufnahm, um von ihnen lebendige Impressionen aus dem Land sowie die Bestätigung zu erhalten, es werde nicht nur kräftig gesendet, sondern auch ebenso empfangen. Ein für die Macher nicht unwesentlicher Maßstab war das Telefon, sein Schweigen oder Läuten. Minutiös wurde jedes Gespräch notiert. Im Funkhaus an der Nalepastraße hatten die Techniker dafür Extraleitungen geschaltet und sogar die Möglichkeit geschaffen, wenn es sich durch den jeweiligen Anrufer anbot, sofort ein interessantes Telefoninterview zu führen und in das laufende Programm einzuspielen. Jedes Telefonat hob das Selbstwertgefühl und steigerte die Freude über den vermeintlichen Erfolg einer guten Sache.

In Saßnitz hatten wir 1969 bereits probiert, mit einem zusätzlichen Telefon Hörerinnen und Hörer aus dem Nahbereich anzusprechen und zum Mitmachen zu bewegen. Als es im selben Jahr Peter Schick und mich auch an das andere Ende der DDR, eben nach Suhl, Bezirkshauptstadt der „autonomen Gebirgsrepublik“ verschlug, machten wir es wieder so. Dort stand uns überdies für den Abend des großen Wunschkonzerts das gesamte Regionalfunkhaus von Radio DDR zur Verfügung. Trotzdem hatte es nur einen Telefonanschluß, auch wenn er an diesem Tag den fleißigen „Thüringer Solidaritätern“ offenstehen sollte. Diese Telefonnummer hatten Annekathrin Leißner und Martin Radmann, die beiden dienstältesten Soli-Moderatoren, gleich zu Beginn der Sendung um 19.30 Uhr mit den Berliner Anschlüssen gemeinsam genannt. Und nach ca. 20 Minuten ging erstmals an den in der erwartungsfrohen Gesellschaft einer Hausgemeinschaft sitzenden Reporter im Funkhaus Suhl der Ruf sowie die ihn einigermaßen überraschende Frage: „Was passiert am Telefon, Peter?“ Geistesgegenwärtig nahm der Angesprochene, da er mich in diesem Moment die wenigen Stufen vom Sekretariat zur Sprechstelle kommen sah, sein Mikrofon, und hielt es mir mit der Bemerkung unter die Nase: „Das kann Ihnen mein Kollege bestimmt besser erzählen. Er kommt soeben aus der Telefonzentrale. Torsten Preußing, was ist da los?“ Ich bekam einen schönen Schreck und stotterte wohl etwas von ganz schönem Auftakt und bereits zwölf registrierten Annrufen. Na, da war vielleicht ein Freudentaumel in Berlin. Ganze zwölf Telefonate, und das bei dieser Aktion. Schämt ihr euch denn gar nicht?

Martin Radmann war einer der Väter dieser Solidaritätsaktion und ihr damit noch inniger verbunden als all die anderen, die in mehr oder weniger dienstlichem, aber wohl doch mehr in innerem eigenen Auftrag an ihr teilhatten. Obwohl er ein ruhiger, auch stiller Mensch war, zurückhaltend bis manchmal sogar schüchtern obendrein, konnte er sich nun kaum bremsen. Über die sogenannte Kommandoleitung, die für Außenstehende nicht hörbare Verbindung zwischen Außenstelle und Heimatstudio, erging auch prompt der Befehl: „Peter, das können wir nicht so stehen lassen. Das mußt du geraderücken.“ Und Peter bog die Sache bei der nächsten Gelegenheit auf seine Weise wieder hin. Die Telefone würden nach wie vor permanent klingeln, man käme kaum mit der Registratur nach. Überall lägen Musikwunschlisten verstreut, von denen mein Kollege sich vorhin nur eine einzige hätte greifen können. Denn in Wirklichkeit wären mit Konzertbeginn wesentlich mehr Anrufe und damit Anliegen eingegangen als zuvor mitgeteilt. „Es waren nicht zwölf. Es waren Dutzende!“

Die Ehre ward wieder hergestellt, der Ehrgeiz gestillt, nur der blutige Anfänger sollte noch lange stöhnen: Zwölf sind doch viel in zwanzig Minuten und bei nur einem Apparat. Das waren doch bloß etwa eineinhalb Minuten pro Gespräch, bei dem man immerhin den Namen, die Höhe der Spende, den Wohnort, womöglich das Arbeitskollektiv und den Musikwunsch notieren mußte. Und wenn nur einer aus der Brigade „50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ aus dem „VEB Heimelektrik und Haushaltsgerätewerk Suhl“ sich die Arie „Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen“ aus der Operette „Zar und Zimmermann“ von Albert Lortzing wünschte, hatte man als Telefonist den Schlips auf dem Rücken. Aber wer wußte das schon, wenn er um den Erfolg einer Radiosendung fieberte. Blieb eines Kollegen Trost: „Bist eben ein ehrlicher Hund.“

   

Quelle Bildarchiv d Märk Allgem.

Auf Solidaritätsbasaren der Journalisten wurde so manches Mitbringsel aus fernen Ländern für einen guten Zweck verkauft

 

Die Kraft des Radios  

Ehrlich gerungen wurde um jede Mark für das Solikonto. Die Fäden dafür liefen bei Werner Keipus zusammen, dem „Persönlichen Referenten des Intendanten“. Aber während der laufenden Aktion und weit darüber hinaus war er zwar persönlich, aber vor allem war er der General, der seine Truppenteile um sich scharte. Der Stabschef, der jeden Nerv des Unternehmens zu kitzeln vermochte, der gleichermaßen Posteingang wie Kontostand überwachte, die Geldspenden und Musikwünsche aus den rollenden Studios sortierte, die unentbehrlichen Helfer an Telefonen und Schreibmaschinen für die Abendkonzerte akquirierte und ihnen dabei „einbläute“, grüner Strich am Brief- oder Listenrand bedeute unbedingte Rücksprache. Selbst die Zeit nach der Sendung hatte er noch bedacht und Verpflegung sowie lockere Einstimmung auf den Feierabend organisiert. Unbestritten: Herz und Seele der Rundfunksolidaritätsaktion „Dem Frieden Freiheit“ trugen seinen Namen. Und wenn jährlich bilanziert werden konnte, daß in den vier bis sechs Vorweihnachtswochen gut zwei Millionen Mark auf das Solidaritätskonto 88 8 88 eingezahlt worden waren, dann lag das nicht zuletzt auch an seiner Hartnäckigkeit, seinen Motivationskünsten aber vor allem an seinem nimmermüden Beispiel. Weil Keipus im Lausitzer Braunkohlenrevier, in Grube Else bei Calau, aufgewachsen ist, erfuhren die Neulinge immer wieder von den Älteren, daß unterdessen zwar das Licht von Grube Else erloschen sei, doch die Grubenlampe in Werner weiterleuchte - und auch das Feuer, an dem wir Jüngeren uns für die Solidarität erwärmten.

Die Zeit tat ein übriges. Sie lieferte immer wieder neuen Brennstoff, der für die Welt zumeist auch gefährlicher Zündstoff war. Das gnadenlose amerikanische Bombardement des Nordens von Vietnam Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre hatte ich schon erwähnt. Hinzu kam der nahezu aussichtslose Kampfeinsatz von USA-Bodentruppen gegen die Rebellen in Südvietnam. Portugal und Spanien entledigten sich ihrer jahrzehntelangen faschistischen Herrscher Salazar und Franco. Damit aber hingen z. B. die ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika in der Luft. Die geballten Fronten des Kalten Krieges stürzten sich so auf Angola und ließen das Land bis heute nicht zur Ruhe kommen, obwohl eine Front ja weggebrochen ist.

In Lateinamerika war Kuba sozusagen ein Leuchtfeuer und ein Dauerbrenner zugleich. Mit Chile und - später - Nikaragua verband sich auch im Berliner Funkhaus an der Nalepastraße die Hoffnung auf Verstärkung. Allein die Hoffnung war nur von kurzer Dauer. Der Sozialist Allende, ein frei gewählter Präsident, wurde vom eigenen, drei Jahre danach putschenden Militär ermordet. Unzählige Chilenen mußten vor dem in der Folgezeit mit harter Hand errichteten Regime des Augusto Pinochet fliehen und irgendwo auf dieser Erde Asyl suchen. Unzählige Anhänger der Unidad Popular hatten noch nicht einmal das mehr schaffen können.

Als die Sandinisten in Nicaragua die Oberhand gewannen, widerfuhr ihnen das gleiche Schicksal, dem sich die Kubaner in der Karibik seit vierzig Jahren mit aller Macht entgegenstemmen: Wirtschaftsboykott, Handelsembargo, Isolation - das schärfste Schwert der größten Wirtschafts- und Militärmacht in der Welt.

Diese Aufzählung kann nicht vollzählig sein, sie will auch nur illustrieren, wohin sich die Gedanken in jener Zeit richteten, wenn der Solidaritätsvorspann fanfarengleich ertönte oder wenn traditionsgemäß als erstes Musikstück in jedem Wunschkonzert das „Solidaritätslied“, gesungen von Ernst Busch, erklang. Dabei blieben der ständige Unruheherd Nahost und der verzweifelte Kampf der Palästinenser sowie die Antiapartheid-Bewegung in Südafrika noch unerwähnt. Für sie alle Hilfsbereitschaft und Anteilnahme zu wecken, erschien relativ einfach, urteilt man nach der damaligen Resonanz in Mark der DDR. Etwas schwieriger erwies es sich schon, den praktischen Nutzen jeder Mark auch deutlich zu machen. Was kann man sich in der Welt schon für 'ne Ostmark kaufen? So nahmen in der publizistischen Widerspiegelung gerade diejenigen Solidaritätsprojekte einen zentralen Platz ein, die die Sache und nicht die Summe dokumentierten. Da wurde die Aktion „Ein Schiff für Vietnam“ gestartet, mit der besonders den Kindern in den Schulen und Kindergärten der Verwandlungsprozeß ihrer Geldspenden in eine Schiffsladung voller lebenswichtiger Güter gezeigt werden sollte und natürlich auch, wie sie dann zu denen gebracht wurde, die ihrer bedurften. „Bleistifte für Kuba“, eine „W-50-Werkstatt für Angola“ oder ein „Krankenhaus für Nicaragua“, Untertitel: „DDR-Jugend baut das ‚Hospital Carlos Marx’“ - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Doch besonderes Gewicht erhielten die Aufnahme von Flüchtlingen, Verfolgten und Hoffnungsträgern aus den betroffenen Regionen in der DDR. Von den Solidaritätsgeldern floß nicht wenig in ihre Aus- und Weiterbildung an Fach- und Hochschulen bzw. in den verschiedensten Betrieben.

Mitte der siebziger Jahre hatte ich einen Tip bekommen, mal etwas nördlich von Neuruppin in den Wald zu gehen. Dort, wo die Kunster entspringt, über die Eva Strittmatter einst ein gefühlvolles Gedicht geschrieben hatte. Hier war zunächst wohl mehr aus Naturschutzgründen als aus touristischen ein Gehege mit heimischen Tieren und botanischen Sehenswürdigkeiten angelegt worden, was zwar mein Herz aber noch nicht meine Neugier befriedigte. An dieses Gehege schloß sich nämlich in zauberhafter landschaftlicher Lage die Betriebsberufschule Kunsterspring des Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebes Neuruppin an. Eingebettet in den ausgedehnten typisch nordbrandenburgischen Mischwald, war das mehrteilige Gebäude Schule und Herberge zugleich. Namentlich für dreißig Lehrlinge aus Vietnam, die hier den Beruf „Forstfacharbeiter“ erlernten. Die Schulleiterin Dagmar Mix, die mir Einzelheiten erzählte, erweckte den Eindruck, als hätte sie die Jungen adoptiert. Ihre menschliche Zuwendung und ihr geradezu herzliches Herangehen waren für sie aber auch eine wesentliche Bedingung dafür, das Ausbildungsziel zu erreichen. Denn sachlich standen die Ausbilder vor völlig neuen Aufgaben. Diese künftigen Forstfacharbeiter mußten darauf vorbereitet werden, bevor sie überhaupt an die Hege und Pflege des Wald- und Holzbestandes, an seine Mehrung und Verwertung denken konnten, ein kahlgebombtes Land wieder aufzuforsten. Dabei waren die Wälder nicht nur ein Raub der Flammen geworden, sondern auch ein Opfer der chemischen Keulenschläge der US-Air-Force, die durch gezielten Einsatz von Herbiciden ganze Regionen entlaubte, während die verkohlten Baumstämme wie schwarze Dornen oder lange rostige Nägel in der Erde steckenblieben. Von der Verseuchung des Bodens ganz abgesehen. 

Der Sog des Radios

Der Deutschlandsender hatte unterdessen einen neuen Namen bekommen: „Stimme der DDR“. Die einen sagten, das sei nur die logische Konsequenz aus der Honeckerschen Abgrenzungspolitik, der ohnehin mit Deutschland nichts am Hut gehabt hätte. Die anderen meinten, das sei als Entgegenkommen für den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt erdacht worden. Bei seinen beiden vorausgegangenen Treffen mit DDR-Ministerpräsident Willy Stoph soll er dessen Klagen über „Einmischung in innere Angelegenheiten“ mit dem Hinweis auf die Existenz und die Aufgabenstellung eines „Deutschlandsenders“ in der DDR gekontert haben. Aber egal wie, am 15. November 1971, 0.00 Uhr war die „Stimme“, wie sie sofort im allgemeinen Sprachgebrauch hieß, im Äther und der Deutschlandsender verstummt. Selbstredend galt fortan auch ein anderes Sendekonzept, doch der Schwerpunkt „Solidaritätsaktion ‚Dem Frieden die Freiheit’“ blieb erhalten. Allerdings sollte sie bald den gewohnten Gang verlassen und neue Dimensionen erreichen.

Wie meistens fing auch diese Entwicklung mit leisen Signalen an. So wurden die Besatzungen der „rollenden Solidaritätsstudios von Stimme der DDR“ zunehmend mit der Frage konfrontiert, warum denn die monatlich zusätzlich zu den fälligen Gewerkschaftsbeiträgen bezahlte Solidaritätsmarke des FDGB nicht auch zu einem Musikwunsch berechtigte. Andersherum diente der Hinweis auf diese Spende zur Erklärung dafür, daß man jene Spende nun so kurz vor Weihnachten nicht auch noch würde aufbringen können. Das bürokratische Berichtsunwesen sorgte für den Rest und teilte die Solidarität nach der Nützlichkeit für den „Solidaritäter“. So hatte beispielsweise die Solimarke im FDGB-Mitgliedsbuch ein viel größeres Gewicht als die „88 8 88-Spende“, weil sie für den „sozialistischen Wettbewerb“ im Betrieb abrechenbar war. Sie brachte Punkte, und genügend Punkte brachten Prämien, Bares.

Die einzelnen Gewerkschaftsleitungen bis hinein zum hellhörigen Bundesvorstand glaubten aufschreckende Signale zu vernehmen, wonach die Solidarität der Kollegen zu einer Routinehandlung ohne Herz und Verstand mutiert wäre. Überhaupt mußten „politisch, ideologisch und moralisch“ neue Impulse ausgehen, um die eigenen Bilanzen aufhellen und ein stetiges Wachstum des Solidaritätsaufkommens gewährleisten zu können. Es entsprach dieser Logik, daß beide Seiten sich zusammentaten, wiewohl das Komplizierteste bei der Geburt dieser nunmehr „Gemeinschaftsaktion von FDGB und Rundfunk der DDR“ geheißenen Kampagne nach wie vor die Markendebatte und ihr Abrechnungsmodus waren. Wenn schon, denn schon, sollte die durch einfache Addition auf einen Betrag in zweistelliger Millionenhöhe gewachsene Gesamtspendensumme auch propagandistisch zu Buche schlagen. Glücklicherweise ließ diese Diskussion und das damit zeitweilig einhergehende Gerangel nur in den Führungs- und Buchhaltungsetagen die Köpfe rauchen. Für die engagierten Kollegen auf den „Solitouren“ im Ü-Wagen sowie ihre Partner in den einzelnen Kreisvorständen des DDR-Gewerkschaftsbundes waren dies nur „periphäre Randfragen“. Kaum von Belang. Vielmehr sahen sie, welch neue Möglichkeiten und welch interessante Ansatzpunkte sich ihnen eröffneten, um ein allseits anerkanntes Vorhaben und einen guten Zweck mit den Mitteln des Radios sozusagen im „richtigen Leben“ umzusetzen.

Die Kollegen im FDGB heiligten Zweck und Mittel auf ihre Weise, als sie beide für ihre Ziele einspannten, sobald die „Rollenden Solistudios“ anspannten. Die Premiere fand 1975 statt und begründete bald ein festes Ritual. Danach wurden jährlich neu sogenannte Tourenpläne fixiert. Sie benannten die geographischen Ziele, die während der Solidaritätsaktion angesteuert werden sollten. Zumeist waren das ganze Land- oder Stadtkreise, die auch eine entsprechende Gewerkschaftsvertretung und repräsentative gewerkschaftliche Betriebsorganisationen hatten. Von schillernden Ausnahmen im thüringischen Raum einmal abgesehen, auf die langjährige Reporter und künstlerische Mitarbeiter wegen der gewachsenen Bindungen und der dort gesammelten guten Erfahrungen keinesfalls verzichten wollten, wies der Bundesvorstand dem Sender die möglichen Anlaufkreise zu. Nicht ganz uneigennützig, wie sich später herausstellte, und mit dem schlitzohrigen Hintergedanken, die Rundfunkleute das Geschäft der Funktionäre verrichten zu lassen. Man nahm nämlich einfach einen Rechenschieber zu Hilfe und errechnete pro Kreis, wieviel Prozent des jeweiligen Mitgliedsbeitrages für die Solidarität ausgegeben wurden, und fertig war der Tourenplan: Die Kreise mit den niedrigsten Werten erhielten den Zuschlag, um im Sog des prominenten Mediums „neue Höhen“ zu erklimmen. Von wegen „moralischer Spritze“, „Aktivierung des Gedankens“ und „Steigerung des Soliaufkommens“. Übrigens war das ein Modus, der überdies auch die letzten Spötter mobilisierte: „Wenn wir zieh’n an einem Tau, erreichen wir das Weltniveau!“

Diese Auswahlmethode brachte mir aber eines der wichtigsten Grunderlebnisse meiner 28jährigen journalistischen Tätigkeit in der Nalepastraße. Ich wurde der „Kreisverantwortliche“ für den Altkreis Gransee, für dieses weitläufige Ländchen im Nordosten des ehemaligen Bezirkes Potsdam, etwa die Region zwischen dem Stechlinsee und den westlichen Ausläufern der Schorfheide umfassend; oder meinethalben zwischen den Zehdenicker Tonstichen ab Burgwall südostwärts, querab westlich nach Löwenberg und schließlich bei der Grünberger Schnapsbrennerei im „Kreuz des Südens“ endend. Ein wirklich großer Flächenkreis, aber gerade mal 47einhalbtausend Einwohner hatten sich dort angesiedelt. Drei Kleinstädte, die, weil sie groß rauskommen wollten, in Dauerkonkurrenz zueinander standen, zumal die kleinste von ihnen der Sitz der Kreisverwaltung mit allen dementsprechenden Privilegien war. Aber als es hieß: „Der Rundfunk kommt“, da standen diese Eifersüchteleien nicht mal mehr im Raum, geschweige denn auf dem Papier. Höchstens leisen Andeutungen war vielleicht einmal zu entnehmen, daß die Schiffselektroniker in Fürstenberg die Leiterplattenproduzenten von Zehdenick gerne auch mal öffentlich „Halbleiter“ nennen würden. Oder die Zehdenicker Ziegelbrenner die Granseer Getreidewirtschaftler „Doppelkörner“ wegen der einen oder anderen wunderbaren Planerfüllungsstatistik. Aber „der Rundfunk“, das war die Welt „draußen“, die keinen schlechten Eindruck bekommen sollte. Und „der Rundfunk“, das war für den Kreis zunächst mal ich. Jedenfalls für die Ansprechpartner im FDGB-Kreisvorstand, namentlich für Heinz Ehrlich, der für mich das „Sesam offne dich“ zu realisieren hatte. Heinz war ein Mann, der auf den ersten Blick gar nicht so wirkte, als verfüge er über ein unermeßlich Bund von Schlüsseln, dem auf eine wirkungsvolle Solidaritätssendung erpichten Radioreporter die notwendigen Türen aufzuschließen. In Wirklichkeit fehlten ihm aber nur die vielen Worte, die seinem Visavis vom auditiven Kanal, der auch noch als „Stimme der DDR“ gekommen war, nur so aus dem Mund sprudelten. Vor allem bei der ersten Begegnung am Donnerstag, dem 20. November 1975 um 8.00 Uhr, wie mein alter Taschenkalender ausweist, und in dem ich unter diesem Datum meine Hoffnung formuliert hatte: „Vielleicht ist schon das Programm erhältlich.“

  Die Kreise im Radio

Auch Radiosender läuten alle Glocken, wenn sie neue Kreise zu ziehen gedenken und dabei neue Kreise erschließen und erreichen wollen. Die junge „Stimme der DDR“ klingelte diesbezüglich mit einer Pressekonferenz am 4. November 1975 im Zentralhaus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft im Zentrum der alten DDR-Hauptstadt, dem heutigen Palais am Kastanienwäldchen. Hier wurde der Öffentlichkeit der Beginn des neuen Radiosolidaritäts-Zeitalters, der Start der Gemeinschaftsaktion von FDGB und Rundfunk der DDR, mitgeteilt. Kein Geringerer als der unterdessen zum Intendanten des Senders „Stimme der DDR“ berufene Kurt Goldstein hatte den für die neuen Solidaritäts-Kreise als zuständige Redakteure nominierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dringlichst ans Herz gelegt, auf keinen Fall die Lokaljournalisten zu vergessen oder gar auszulassen. Wer, wenn nicht sie, hätte die Hand näher am Pulsschlag des Kreises. In meinem Fall zeigte sich schnell der Wert dieses Ratschlages, denn der Granseer Chef der damaligen „Märkischen Volksstimme“, Manfred Halling, war mindestens ebenso Feuer und Flamme für das Gemeinschaftsvorhaben wie ich. Außerdem verfügte er über die Gabe, nicht nur wegen seiner Dienststellung den Eifer der gesamten Kreisredaktion zu entzünden. Ergo war es zwischen uns - übrigens unter lebhafter, weichenstellender Anteilnahme von Werner Keipus - eine abgemachte Sache, daß in der Lokalausgabe Gransee der „Märkischen Volksstimme“ an dem Tag, an dem die Pressekonferenz in Berlin stattfand, bereits der sie betreffende Bericht für die MV-Leser im Blatt stand. 23 bis 25 Zeilen hatte er mir damals dafür gegönnt, als Solidaritätsbeitrag versteht sich. Wer einmal hautnah erlebt hat, wie sehr ein Journalistenleben vom Kampf um die zeitliche Aktualität der Titel, Themen und Thesen zermürbt wird, ahnt sicher, welch freudiges Empfinden an einem fast verlassenen Ort der Gedanke ausgelöst haben mag, mit einem in gewisser Weise doch auch weltbewegendem Thema für einen kurzen Moment der Zeit und den anderen Zeitungen voraus gewesen zu sein.

Bis zum Ende der siebziger Jahre stand Gransee jährlich in meinem Solitouren-Plan. Und jedes Jahr kamen auch mehr engagierte und „solihungrige Kollegen“ mit. Von der Aufnahmeleiterin bis zum Ü-Wagen-Piloten und der Reporternachwuchskraft. Und immer kreuzten Manfred Halling oder sein Sozius Gerhard Jährig bei uns auf, verkündeten ihren Lesern auf den Lokalseiten, „das Radio ‚Stimme der DDR’“ sei wieder da, was uns mehrfach räuspern ließ, denn zwischen den „Stimme“-Leuten und denen von „Radio DDR“ herrschten - wenn kein anderer dabei war - ähnliche Rivalitäten wie zwischen den Fürstenberger Schiffselektronikern und den Zehdenicker Halbleitern. Doch darauf konnte in der knappen Woche einer Kreistour keine Rücksicht genommen werden. Denn mit der Berichterstattung über die Resonanz der Solidaritätsaktion, der Würdigung origineller Aktivitäten von groß und klein, dem Souvenirverkauf am eigenen mobilem Solibasar sowie der Sammlung von Spenden und Musikwünschen am „rollenden Studio“ war es allein nicht mehr getan. Ein für uns völlig neues Element sollte fortan in den Kreisen sowohl als Bereicherung und lokaler Höhepunkt der Aktion als auch zur journalistischen Aufwertung der Mittagssendungen im Solidaritätsmonat alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen: die Solidaritätsveranstaltung des jeweiligen FDGB-Kreisverbandes unter dem gemeinsamen Leitmotiv „Dem Frieden die Freiheit“. Gedacht war an ein Solidaritätskonzert, das möglichst vielen Akteuren „aus dem Territorium“ eine Bühne und eine öffentliche Präsentationsmöglichkeit bot. Und darauf bezog sich meine vage Hoffnung vor dem ersten persönlichen Aufeinandertreffen in Gransee: „Vielleicht ist schon das Programm erhältlich.“

Es war natürlich nicht. Und das war natürlich auch verständlich. Erst wollten die Kollegen nämlich wissen, was eigentlich Programm wäre und was die diesbezügliche Erwartung. Im Kreis Gransee hatten sich ja auch einige Künstler angesiedelt. Ich nenne nur - als berühmtesten - Erwin Strittmatter, aber selbst der würde sich wohl gehütet haben, im Kreiskulturhaus konzertante Einlagen anzubieten. Um so mehr witterte der schweigsame Heinz Ehrlich Morgenluft für die vielen kleinen Volkskunstgruppen, die bislang zwischen Neuglobsow und Bredereiche bzw. Marienthal und Löwenberg lediglich kleinere lokale Kreise oder gar nur sich selbst erfreuten. Das wäre doch was. Ein Auftritt vor Rundfunkmikrofonen und vollem Saal - immerhin 500 Personen.

Der Kreisvorstandsmitarbeiter war gewiß ein Mann des Wortes nicht, aber er war ein Mann der Tat, ein stiller, zudem sehr verläßlicher Organisator. Und so „standen“ seine Programme nicht nur, wenn er sie niedergeschrieben hatte, sondern sie drohten auch regelmäßig jeden Rahmen zu sprengen.

  Der Auftritt im Radio

Im Jahre 1978 hatte ich mal die Anzahl derer gezählt, die während des Kreissolidaritätskonzerts als Volkskünstler auf der Bühne standen. Auf 135 bin ich gekommen. Und nur wenige von ihnen waren über 17 Jahre alt - dann aber beträchtlich, wie die Mitglieder des Frauen- und Männerchores Löwenberg. Es gab keine Schule im Kreis, die mit ihrem Chor oder Singeklub nicht wenigstens einmal dabeisein wollte. Singegruppen aus den Kinderheimen von Mildenberg und Löwenberg berührten mit ihren Darbietungen - aber sicher wohl auch mit ihrem persönlichen Schicksal - manches Herz. Die Kindertanzgruppe des Kreiskulturhauses Gransee sorgte 1977 bei ihrem Auftritt mit Gitarren, Flöten und Gesang für allgemeine Heiterkeit. Und 1976 beeindruckte ein großes Klaviertalent, der damals 12 Jahre alte Matthias Mrosek, mit einer Sonate von Mozart. Es war seine Radiopremiere als Solopianist.

Eindrücke ganz anderer und vor allem vielfältigerer Art hinterließen Jahr für Jahr die zehn- bis fünfzehnjährigen Musikanten vom Pionierblasorchester Fürstenberg unter der Stabführung von Franz Ehlert, die bei keiner Kreisveranstaltung fehlen durften. Dreimal darf man raten, warum? Ein Kreis war eben auch nur ein Mensch, und dem war Blasmusik gewissermaßen Balsam für die Ohren. Aber Werner Pöthig war sie das nicht. Er war der verantwortliche Toningenieur auf einem für damalige Zeiten stattlichen Übertragungswagen. Er sollte 1975 im Zehdenicker Isolierstoffwerk (IWZ), das den Namen des Antifaschisten Bruno Baum trug, mit seiner Besatzung die allererste hiesige Kreisveranstaltung mitschneiden, also aufzeichnen. Erst sagte er nichts. Er schaute nur. Und zwar auf mich, den verantwortlichen Redakteur. Und zwar so, als sei ich derjenige, welcher. Dann fragte er mit leicht gesenkten Augenlidern ganz leise: „Soll dis gesendet werden?“

Gemeinhin sagte man ja, Radio ginge ins Ohr und Fernsehen ins Auge. Hier drohte jedoch - nach Pöthigs Auffassung - der Gegenbeweis. Die Bläser boten ein Bild für Götter. Die Steppkes mit den riesig wirkenden Hörnern, der Tuba, den Trommeln und Trompeten, sie hatten vom Eifer gerötete Gesichter, vom Blasen aufgeplusterte Wangen und große flackernde Augen, die immer wieder den Blickkontakt zum Dirigenten suchten. Und schräg haben sie gespielt, was die Lungen hergaben, aber mit Begeisterung. Kein Radiohörer hätte jedoch allein nur die zu ihm dringenden Töne tolerieren können. Doch Atmosphäre, Ablauf und Begebenheiten zu dokumentieren, war unser Anliegen. Eine Stunde im Mittagsprogramm war dafür vorgesehen worden. Und wenigstens die Mitwirkenden wollten doch einen Tonband-Beleg für ihren selbstlosen, gagenfreien Einsatz. Nach dem Motto: „Wo eine Wille ist, gibt’s auch eine Cutterschere!“, konnten wir oft mit kühnen Schnitten von den Gruppen und Solisten wenigstens Sekundenausschnitte für die Sendung retten und damit ein akustisches Stimmungsbild anbieten, das durch Reportagen, Berichte und Interviews ergänzt wurde.

Es gab wohl über 220 Land- und Stadtkreise in der DDR, und es gab an deren Ende wohl nicht einen einzigen, an dem das „Rollende Solidaritätsstudio von ‚Stimme der DDR’“ vorbeigefahren und ohne ähnliche Solidaritätsveranstaltungen geblieben wäre.

Beinahe an jeder Milchkannen-Sammelstelle auf dem Lande haben wir gehalten. Kein Betriebsfunkstudio wurde für eine Wunschdisko ausgelassen und kaum ein Marktplatz für die Soliwerbung. Daß ich heute meine „engere Heimat“ zwischen Saßnitz und Suhl einordne, liegt auch darin begründet.

 Der Nachhall des Radios

Mit Beginn der achtziger Jahre zogen auch über der Rundfunksolidaritätsaktion „Dem Frieden die Freiheit“ die ersten sichtbaren Wolken auf. Dabei waren es noch nicht einmal die mehr und mehr von gewissen Führungszirkeln außerhalb des Funkhauses kritisierten Laienspieldarstellungen in der Radio-Mittagszeit. Vielmehr bereitete der Umstand Sorge, daß die Wirtschaftsbetriebe immer seltener in der Lage waren, für die wachsenden Solidaritätsspenden auch die geforderten Güter herzustellen. Noch 1977 konnte der Potsdamer Zeitungsreporter Achim Wahrenberg hingebungsvoll in der „Märkischen Volksstimme“ darüber berichten, wie die Möbelwerker von Löwenberg Schrankwandteile als ihren handfesten Beitrag für das „rollende Solistudio“ präsentierten. Wenig später hätte er wohl noch nicht einmal die dafür benötigten Holzdübel auch nur ins Gespräch bringen dürfen, weil jeder, der eine neue Wohnung bekam, auch eine neue Schrankwand brauchte. Es gab jedes Jahr immer mehr neue Wohnungen, doch niemals ausreichend Schrankwände.

Die materielle Grundlage der Solidaritätsaktion geriet also ebenso wie die allgemeine Wirtschaftslage bedrohlich ins Schwanken. Aber die ideelle blieb davon meistens unberührt. Denn die Solidarität trug Namen. Namen, die aufhorchen ließen, die ergriffen machten und zornig. Als Beispiel seien nur Angela Davis, Nelson Mandela und Luis Corvalan genannt. Wenn es nicht eine so anrührende Erinnerung wäre, könnte man diese drei sicherlich auch als Paten einer zweiten Alphabetisierungswelle in der DDR betrachten. Was wurde für sie alles geschrieben und gemalt. Weder Post noch Porto wurden geschont, um ihre Gefängniszellen in den USA, in Südafrika und Chile förmlich mit Briefen und Karten einzudecken. Selbst heute glänzen Mandela bestimmt noch die Augen, wenn er an die vielen Kinderzeichnungen aus der „Bummi“-Aktion denkt oder an den Ärger seiner Wächter über die Berge von Protestpapieren.

Luis Corvalan hatte als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chiles mehr Glück als sein sozialistischer Pendant Salvador Allende. Dieser starb 1973 durch die Kugeln der Putschisten, jener blieb am Leben. Doch er konnte dem Pinochet-Regime nicht entkommen. Corvalan wurde verhaftet und unter schärfsten Bedingungen eingekerkert. Die Welt war entsetzt, und sie war empört. Selbstredend erhob sich auch im und mit dem DDR-Rundfunk ein massiver Chor der Solidarität, der abermals die Briefträger dieses und anderer Länder für einige Zeit in Bewegung setzte. Das Solidaritätsstudio zog ebenfalls wie gewohnt seine Bahn - mit mir natürlich durch den Kreis und hin zum Kulturhaus Gransee, wo die Kreisveranstaltung stattfand. Auch an jenem 17. Dezember 1976. Es sollte ein besonderer Veranstaltungstag werden. Zur gleichen Zeit, als hier die Bühne bebte, übertrugen nämlich auch die Hauptsender des DDR-Rundfunk eines der abendlichen Solidaritätswunschkonzerte, und es war Martin Radmann wohl als erstem vergönnt zu melden: „Luis Corvalan ist auf dem Weg in die Freiheit!“ Alten Granseer Kommunisten, die in unserer Runde saßen, bebte das Herz, als sie diese Nachricht erhielten, und sie sagten nur: „Bei Thälmann war’n wir noch zu schwach.“ Der Heimatdichter Fritz Michael schrieb der „Märkische Volksstimme“ - Lokalausgabe Gransee, Wintergedichte zu dichten, sei ihm nun einerlei, „denn wesentlich bleibt nur die eine Zeile: Genosse Luis Corvalan ist frei!“ Und die Lehrer drückten ihre musizierenden Schüler mit den Worten: „Seht ihr, auch die kleinste Postkarte kann Gefängniszellen knacken, wenn nur schön viele solche schreiben.“ Und hinzu kommt der Wert, den sie für die Inhaftierten besitzen. Eingerahmt von kahlen Wänden wähnen sie sich ungerechterweise von aller Welt verlassen, und plötzlich liegt sie ihnen körbeweise zu Füßen.

Torsten Preußing


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