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Vom Aufbau und Ende eines Betriebes

Als ich 1966 eine neue Tätigkeit als Investbauleiter in Prenzlau begann, war ich 38 Jahre jung. In der DDR herrschte noch „Sturm- und Drang"-Zeit. Trotz der Nachkriegsdefizite und den Auswirkungen des Kalten Krieges spürten die Bürger: es geht vorwärts. Ich wollte mit meiner ganzen Kraft dazu beitragen.

Der geplante Bau eines großen Industriebetriebes in Prenzlau/Uckermark wurde als ein deutliches Zeichen für die Aufwärtsentwicklung verstanden. Heute gehört diese Region zu den ärmsten der Bundesrepublik mit 25 Prozent statistisch erfaßten Arbeitslosen. Damals gab es keine.

In meinem Entlassungsgesuch an das Staatliche Amt für Berufsausbildung, Berlin, schrieb ich: „... Hervorheben möchte ich, daß mir die lebensnahe Atmosphäre eines Industriebetriebes mit ihrer Rastlosigkeit,... dem Kampf um die Planerfüllung und der lebendigen Arbeit mit den Menschen am meisten zusagt, - daß ich aber andererseits in meiner gegenwärtigen Arbeit keine Befriedigung empfinde ..."

Von all dem sollte ich später mehr als genug haben.

Nach einem Beschluß des Ministerrates von 1964 sollte in Prenzlau ein Werk für die Herstellung von Industriearmaturen errichtet werden. Da das Gebiet Prenzlau industriell nur schwach entwickelt war und zudem einen Geburtenüberschuß hatte, waren wichtige Voraussetzungen für eine Industrieansiedlung gegeben. Die Stadtväter und der Rat des Kreises erhofften sich wesentliche Fortschritte für die Entwicklung der Infrastruktur, besonders für den Wohnungsbau der im Krieg stark zerstörten Kreisstadt.

Leider war das Vorhaben mit dem Namen „Neubau eines Armaturenwerkes in Prenzlau" von der „VVB (Vereinigung Volkseigener Betriebe) Armaturen und Hydraulik", aus welchen Gründen auch immer, nicht gründlich vorbereitet worden; es gab einen Zeitverzug, der im Widerspruch zu bereits abgeschlossenen Verträgen und dem für 1969 geplanten Inbetriebnahmetermin des ersten Bauabschnitts stand. Als ich meine Tätigkeit begann, fand ich als Investitionsdokumentation nur eine „Technisch-ökonomische Zielstellung" vor, die außer der bautechnischen Grobkonzeption faktisch nicht mehr gültig war, weil über ihr Kernstück - die Aussage darüber, was künftig an Armaturensortimenten überhaupt produziert werden sollte - noch gestritten wurde. Damit fehlten die Grundlagen für die zu projektierenden Ausrüstungen, für die Technologie, die Struktur und Anzahl der Arbeitskräfte sowie die Planung der erreichenden ökonomischen Ergebnisse. Ein Investitionsplan für das Jahr 1966 existierte allerdings schon. Er sah eine umfangreiche Geländeregulierung, andere bauvorbereitende Maßnahmen, das Aufstellen einer großen Freikrananlage und den Baubeginn einer Industriebahn vor.

Meine Investbauleitung bestand neben mir aus einem noch jungen, tatkräftigen Bauingenieur, einem Verantwortlichen für Ausrüstungen, einer Sekretärin und einem Kraftfahrer. Außer der Investbauleitung arbeiteten neben dem Werkdirektor, mit dem ich noch heute in Freundschaft verbunden bin, schon ein Justitiar, ein Hauptbuchhalter, ein Verantwortlicher für die Arbeitskräftebeschaffung und Arbeiterversorgung sowie ein Planungsmitarbeiter. Unser späterer Hauptmechaniker war dabei, mit drei oder vier angeworbenen Bauarbeitern und einigen Feierabendbrigaden eine Lehrwerkstatt zu errichten. Zwei Dutzend schon eingestellte Lehrlinge halfen mit, die ersten Werkzeugmaschinen für die Berufsausbildung aufzustellen. Der künftige Haupttechnologe hatte wie ich am 2. Mai seine Arbeit aufgenommen und beschäftigte sich mit Unterlagen, die keine Gültigkeit mehr besaßen.

In den ersten Wochen wuchs in mir die Gewißheit, daß das ganze Vorhaben schnell sterben würde, wenn es uns nicht in kurzer Zeit gelänge, auf der Baustelle „äußerlich sichtbare Zeichen" zu setzen.

Das schwerstwiegende, noch lange Zeit fortwirkende Versäumnis der in der WB Verantwortlichen bestand darin, daß es für das Investvorhaben kein innovatives Produktionsprogramm gab, das in der Hauptsache aus neuentwickelten Erzeugnissen hätte bestehen und die mit modernen Technologien hätten gefertigt werden müssen. In Prenzlau wurde das Pferd am Schwanz aufgezäumt: erst wurde mit dem Bau begonnen und dann gleitend, unter ständigen Veränderungen, projektiert.

Als weiterer großer Mangel stellte sich heraus, daß es nicht gelang, aus den zahlreichen Betrieben der VVB gezielt einen Stamm qualifizierter und erfahrener Leute für höhere und mittlere Leitungsaufgaben zu gewinnen. Vermutlich fehlte es an Pioniergeist.

Immerhin hatten wir aber schon die genannten Lehrlinge. Im Folgejahr kamen weitere 100 dazu. Später so viel, daß unsere Arbeitsplätze für die spezielle Berufsausbildung in der Produktion nicht ausreichten und Lehrlinge in andere Armaturenbetriebe „verborgt" wurden.

In den nächsten Monaten kämpften wir in einem Labyrinth von Ungereimtheiten darum, den „Faden der Ariadne" in die Hände zu bekommen. Wir waren pausenlos in Beratungen und Verhandlungen mit Projektanten, Baubetrieben, Institutionen, der Reichsbahn, auf Dienstreisen in Dresden, Berlin, Leipzig, Magdeburg, bei der VVB in Halle und wieder auf der Baustelle. Oft wurden die Nächte zum Arbeitstag. Die Arbeitsmoral war trotzdem großartig. Für alle im noch kleinen Kollektiv waren Erfolge die schönsten Erlebnisse.

So gelang es uns, zunächst erst einmal den Investitionsplan 1966 - sogar mit drei viertel Millionen Mark - überzuerfüllen. Auf der Baustelle zeichneten sich die gewollten ersten Konturen des künftigen Betriebes ab.

Während das Baugeschehen weiter fortschritt, bemühte sich die VVB mehrfach, aus den vorhandenen Erzeugnissortimenten verschiedener Betriebe etwas Passendes für das künftige AWP zusammenzustellen. Außer einem Teilsortiment von Keilschiebern kam jedoch nichts Brauchbares dabei heraus. Da unsere ständigen Forderungen und Kritiken im Grunde ohne Ergebnisse blieben, machte ich den Vorschlag, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Im Einverständnis mit dem Werkdirektor und der Parteigruppe verfaßte ich einen „Offenen Brief“ an den Generaldirektor und die Parteiorganisation der VVB mit einer kritischen Darstellung unserer Lage, den der Parteigruppenorganisator unterzeichnete. Der Brief wurde in zahlreichen Exemplaren verteilt, auch an die örtlichen Parteiorgane. Das Echo erreichte, allerdings erst später, sogar das ZK der SED in seiner 13. Tagung. Für Unruhe in den Chefetagen war also gesorgt. Der Generaldirektor sagte mir in einer der folgenden Zusammenkünfte, er wüßte, wer der Verfasser des Briefes sei, weil er dessen Sprache wiedererkenne. Er zitierte auch die Geister, die man riefe und nicht mehr bändigen könne. Das berührte mich wenig. Ich war in meinem Betrieb, der noch gar keiner war, schon fest verwurzelt. Er und seine wenn auch noch nebelhafte Zukunft füllten mich aus und gaben meinem Leben - von meiner Familie abgesehen - einen tiefen Sinn, auch in dem Glauben, daß der Sozialismus nur mit einer leistungsfähigen Wirtschaft existieren kann.

In einer der Produktionshallen - sie sind 200 Meter lang - begann schon die Montage von Ausrüstungen für das einzige beständige Keilschiebersortiment, da machte der Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau seinen Stellvertreter, später Staatssekretär, dafür verantwortlich, die Ungereimtheiten in der Prenzlauer Investition aus der Welt zu schaffen und für die Grundvoraussetzungen einer hohen Effektivität zu sorgen. Als Kandidat der SED-Bezirksleitung war es für mich nicht schwer, direkt mit dem Ersten Sekretär der Bezirksleitung über die Lage im Armaturenwerk Prenzlau zu sprechen. Dessen Beratung mit dem Minister und dem Generaldirektor hat vermutlich zur erwähnten Entscheidung beigetragen.

Es vergingen aber noch weitere Jahre einer schwierigen Phase in der betrieblichen Entwicklung. Der wissenschaftlich-technische Vorlauf bei der Erzeugnisentwicklung im inzwischen gebildeten Armaturenkombinat - mit neuem Generaldirektor - war nur ungenügend entwickelt. Deshalb kamen an Stelle neuer noch immer altere Armaturen in unser Produktionsprogramm. Wir hatten in Prenzlau den Verdacht, daß man sie woanders los werden wollte.

Da unser Arbeitskräftepotential sich hauptächlich aus ehemaligen Lehrlingen zusammensetzte, die meist wenige Monate nach den Facharbeiterprüfungen zur NVA eingezogen wurden, mangelte es auch an Arbeitskräften. Aus anderen Betrieben kamen nur wenige. Den aus der Stadt und ihrer Umgebung angeworbenen Arbeitskräften, besonders für den Bereich der produktionsvorbereitenden Abteilungen, fehlte es noch an ausreichenden Erfahrungen, um mit dem recht komplizierten Kooperationsprozeß und der ihm immanenten Bürokratie zurecht zu kommen. Im Kombinat wurde es zur Mode, über die „Unfähigkeit der Prenzlauer" zu lästern und Unflat auszukippen. Zur Entlastung der neu gebildeten Kombinatsleitung, die zugleich den Stammbetrieb mit über 6.000 Belegschaftsmitgliedern leitete, konnte ich nur anfuhren, daß sie mit dem eigenen Betrieb schon genug Sorgen hatte.

Neben unseren Bemühungen, einen funktionierenden Reproduktionsprozeß in Gang zu setzen und dabei die noch immer offenen Fragen nicht untergehen zu lassen, ging das Baugeschehen weiter, auch wenn einmal die Baubilanzen gekürzt wurden oder der Baubetrieb seine Vertragstermine nicht einhalten konnte Während die meisten Sozial- und Nebeneinrichtungen bereits übergeben waren, arbeiteten die Angestellten der Verwaltung und die ingenieurtechnischen Abteilungen noch in provisorischen, in der Stadt verteilten Unterkünften. Das Verwaltungsgebäude wurde erst 1973 fertiggestellt. Zum Glück erhielten viele Kollegen bereits eine der in der Stadt entstandenen Neubauwohnungen (bis 1986 waren es bereits über 1000), so daß sie wenigstens ein gemütliches Zuhause hatten Die noch jungen Konstruktions- und Technologieabteilungen arbeiteten mit Kooperationspartnern an neuen Erzeugnissen.

1973 wurde bereits der dritte Betriebsdirektor im AWP eingesetzt. Auf dieses Thema will ich nicht eingehen. Ich war schon 1967 zum Direktor für Wissenschaft und Technik berufen worden, war für die Weiterführung des Investitionsvorhabens verantwortlich und zugleich nach wie vor Stellvertreter des Betriebsdirektors.

Bis Mitte der siebziger Jahre waren die Arbeits- und Lebensbedingungen im Betrieb vervollkommnet worden. Mustergültige Sozialeinrichtungen wie Kindertagesstätten, ein umfangreicher Berufsbildungskomplex mit Schule und Internaten, eine Kegelbahn und ein Fußballplatz, Räume für kulturelle Veranstaltungen, eine Betriebsbibliothek, Praxisräume für Betriebsarzt und Betriebszahnarzt, Frauenruheräume und andere Einrichtungen waren entstanden. Später kamen noch Saunaraume hinzu.

Es gab vielseitige kulturelle und sportliche Aktivitäten, auch Volkskunstkollektive, so ein qualifiziert geleiteter Zirkel für Malerei und Grafik. 1978 wurde eine ständige „Kleine Galerie" eröffnet, in der bis 1988 85 Ausstellungen z. T. sehr namhafter Künstler, z. B Prof. Arno Mohr aus Berlin, stattfanden, die insgesamt etwa 50.000 Besucher anzogen.

Die Betriebsangehörigen bildeten in Eigeninitiative zahlreiche Sportvereinigungen und Interessengemeinschaften. Zu gesellschaftlichen Höhepunkten fanden von Künstlern ausgestaltete Betriebsfeiern statt. Im Rahmen der 19. Arbeiterfestspiele gestalteten Künstler und Schriftsteller, unter ihnen Wolfgang Heinz, Friedo Solter, Siegfried Matthus, Helmut Baierl, Günther Deike, Helmut Sakowski, Wolfgang Pmtzka und ein Berliner Doppelquartett ein beeindruckendes Programm...

Man nannte das AWP aus guten Gründen einen „kulturfreundlichen Betrieb".

Aber kulturelle und sportliche Aktivitäten fallen nicht ins Gewicht, wenn es um die Abrechnungen wirtschaftlicher Leistungen geht.

Widersprüche und Mängel in der Wirtschaftstätigkeit der DDR wurden spürbarer. Wir - auch ich - glaubten eher an betriebliche Schwächen und solche im Kombinat, aber die Ursachen lagen tiefer.

1978/79 kam es zu einem plötzlichen Wintereinbruch. Ihm ging ein stürmischer Eisregen voraus, der im Betrieb alle Außenanlagen und besonders die mechanische Kohleförderung so vereiste, daß sich kein Forderband mehr bewegte und wir nur mit äußerster Mühe die Einstellung des Heizbetriebes, die schlimme Folgen gehabt hatte, verhindern konnten. Riesige Schneemassen bedeckten das Land und das Thermometer sank auf Rekordtiefe. In der ganzen DDR war die Energieversorgung gestört; das AWP erhielt nur soviel Elektroenergie zugeteilt, daß das Heizwerk betrieben werden konnte.

Der Betriebsdirektor war krank geschrieben und ich amtierte als Stellvertreter. Da  wir nicht produzieren konnten, entschied ich nach Absprache mit der Betriebsgewerkschaftsleitung und dem Parteisekretär, alle nicht benötigten Betriebsangehörigen bis auf Widerruf nach Hause zu schicken und eine Arbeitszeitverlagerung aus Katastrophengründen durchzuführen. Ausgefallene Arbeitstage und Planrückstande sollten schrittweise aufgeholt werden. Bei dieser Weisung stützte ich mich auf das Arbeitsgesetzbuch.

Nach diesen Ereignissen wurde bekannt, daß Hermann Axen, Mitglied des Politbüros, anläßlich einer Kreisdelegiertenkonferenz auch das AWP besuchen würde. Wenige Tage nach dieser Nachricht wurde ich zum wieder anwesenden Betriebsdirektor gerufen und im Beisein des Parteisekretärs davon informiert, daß irgendwelche Arbeiter aus der Fertigung Hermann Axen „einen Kassiber zuschieben" wollten mit einer Beschwerde darüber, daß sie die ausgefallenen Arbeitstage nacharbeiten sollten. Mir wurde mitgeteilt, daß meine Entscheidung rückgängig zu machen sei, dazu wurde ich beauftragt, das in einer Arbeiterversammlung zu verkünden. Ich lehnte das Ansinnen ab und protestierte gegen diesen Unsinn.

Später hörte ich, man habe fast überall die ausgefallene Arbeitszeit so „großzügig" verschenkt. Es war nicht das einzige Beispiel dafür, daß Kritik „von unten", besonders von Arbeitern, als etwas Bedrohliches begriffen wurde. So traf man Entscheidungen, die betriebs- und volkswirtschaftlicher Vernunft widersprachen.

Mitte 1979 wurde ich als Betriebsdirektor berufen. In einem vorher kurzfristig angesetzten persönlichen Gespräch mit dem Generaldirektor und dem Ersten Kreissekretär der SED hatte ich das Angebot zuerst abgelehnt. Hatte ich karrieristische Ambitionen gehabt, wäre ich sicher 1966 im zentralen Staatsapparat verblieben. Mich muß eine Arbeit befriedigen. Als mein Freund, der erste Betriebsdirektor des AWP, aus fadenscheinigen Gründen Anfang 1970 abgelöst wurde, hatte mir der damalige Generaldirektor schon einmal angeboten, dessen Funktion zu übernehmen. Doch das lehnte ich ab, auch aus moralischen Gründen meinem Freund gegenübe.r Dieses Mal überrumpelte man mich letzten Endes mit dem Argument „... ist das nicht dein Betrieb, hast du nicht von Anfang an mit an erster Stelle alles mitgemacht..." usw. Damit hatte man meinen Nerv getroffen. Vielleicht war ich auch ein Träumer, ein Romantiker, mein Betrieb war ein Stück von mir selbst, war meine Heimat geworden.

Für mich begann ein qualitativ neuer Lebensabschnitt, hatte ich doch jetzt die persönliche Verantwortung für den Betrieb, für ein Stück Volksvermögen, das einen Wert von ca. einer viertel Milliarde besaß Was aber das Wichtigste war, im Betrieb arbeiteten fast 1 500 Belegschaftsmitglieder und ca. 250 Lehrlinge, deren Lebensumstände einschließlich der ihrer Familien von der Entwicklung des Betriebes, von seinem Auf oder Ab betroffen wurden.

Im ständigen Kampf mit den großen und kleinen Schwierigkeiten entwickelte sich der Betrieb zu einem - so schriftlich - „zuverlässigen Partner der Volkswirtschaft". Aus solchem Prädikat war nicht ersichtlich, unter welchen Umständen es sich der Betrieb erwarb. Entscheidend war nach meiner Auffassung, daß sich im Laufe der Zeit sehr viel qualifizierte Mitarbeiter in allen Bereichen des Betriebes gut entwickelt hatten, die engagiert handelten und stark motiviert waren. Und das noch mehr moralisch als materiell - auch wenn sie manchmal „die Nase voll" hatten.

Mit neuen und weiterentwickelten Erzeugnissen wurden Rückstände gegenüber westlichen Produkten überwunden, die dann nicht mehr importiert werden mußten. Besonders solche für den Schiff und Schienenfahrzeugbau, die Chemieindustrie und die Energiewirtschaft. Viele unserer Produkte erhielten das höchste Gütezeichen der DDR und bestimmten zunehmend das Produktionsprofil des Betriebes.

Der Leistungszuwachs lag über dem durchschnittlichen des Kombinats. Ein immer größerer Anteil der Armaturen wurde in zahlreiche sozialistische und kapitalistische Länder exportiert - mußte exportiert werden, oft auch zu Lasten der Inlandversorgung. Der technische Bereich entwickelte und baute aus eigener Kraft Rationalisierungsmittel, darunter Spezialmaschinen und Prüfanlagen. Für seine Qualitätsprodukte erhielt der Betrieb den offiziellen Titel „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit", der bis zum Ende der DDR jährlich in Betriebsüberprüfungen neu verteidigt wurde.

Trotz der erfolgreichen Entwicklung waren - wie in anderen Betrieben auch - Aufwand, Hektik und Stress bei der Planerfüllung - immerhin lebten wir in einem hochtechnisierten Zeitalter - unverhältnismäßig hochl Während ich als Technischer Direktor und Investbauleiter die Schwierigkeiten und Mangel in der täglichen Arbeit noch eher auf Kinderkrankheiten des Sozialismus zurückführte, denen man mit Enthusiasmus und persönlichem Engagement begegnen könne, sah und erlebte ich als Betriebsdirektor die reale Welt des Sozialismus etwas anders und kritischer, ohne dabei im Geringsten an ein Ende des Sozialismus zu denken. Das war für mich einfach undenkbar.

So bestand eines der größten, nie gelösten Probleme in einer täglichen kontinuierlichen Planerfüllung. Die Monatspläne wurden fast nur in der letzten Monatsdekade, und das mit unvertretbarem Aufwand, erfüllt. Die Hauptursache lag in der nicht termingerechten Materialbereitstellung. Nicht nur in meinem Betrieb. Daneben gab es den großen Widerspruch, daß es fast überall - ich kann nur für die metallverarbeitende Industrie sprechen - große Überplanbestände an Material und unvollständigen Erzeugnissen gab. Es fehlten häufig nur bestimmte Materialien für die Endmontage, zur Komplettierung der Erzeugnisse. Die Kollegen meiner Hauptabteilung Materialwirtschaft hatten anfangs viel „Lehrgeld" gezahlt, sich aber dann so qualifiziert, daß sie das System „Planung-Bilanzierung-Verträge-Kontrolle" fast ausnahmslos beherrschten, wovon ich mich mehrfach persönlich überzeugte.

Selbst die Kooperation zwischen den Betrieben des eigenen Kombinates, besonders mit den Gießereibetrieben, funktionierte unzureichend. In früheren Jahren waren die Gießereien meist Bestandteil der Armaturenbetriebe. Ihre Fertigungsfolge wurde vorrangig vom Bedarf der Armaturenfertigung bestimmt und von der gemeinsamen Produktionsleitung gelenkt. Dann aber wurden sie als selbständige Betriebe eingeordnet, die wie alle anderen nach betriebswirtschaftlichen Regeln arbeiteten. Ihre Leistungen wurden summarisch als Industrielle Warenproduktion - also nach Fertigerzeugnissen schlechthin - abgerechnet, die in der DDR-Wirtschaft das Maß aller Dinge und auch zu manipulieren war. Es schien darum verständlich, daß die Gießereien ihre Fertigung vorrangig nach betrieblichen Regeln und weniger nach dem Bedarf der Armaturen betriebe organisierten. Auch der 1983 vom Ministerrat der DDR verabschiedete sogenannte „Leistungsbeschluß", der solche Kenndaten wie Nettoproduktion, Nettogewinn und Export hervorhob, änderte in der Realität nichts am Primat der Industriellen Warenproduktion.

In der Praxis sah die Kooperationssicherung dann so aus, daß sich die Verantwortung personell immer stärker auf die Betriebsdirektoren verlagerte. Es gehörte zum Stil der Leitungstätigkeit, daß die Betriebsdirektoren der Stahlguß und Gußeisen herstellenden Betriebe und die der verbrauchenden Betriebe regelmäßig monatlich beim Generaldirektor in Magdeburg erscheinen mussten. Hier wurde dann in langen „Gußabstimmungen" im Detail, Betrieb für Betrieb, über Lieferrückstande, letzte Förderungs- und Vertragstermine diskutiert. Recht oft wurden zugesagte Termine dann trotzdem nicht eingehalten. Auch zahlreiche andere Gießereien, insgesamt müssen es mehr als zwanzig für meinen Betrieb gewesen sein, verursachten häufig Störungen im Produktionsablauf. Für manche Armaturen bezog mein Betrieb entsprechend der Bilanzeinweisung Gußteile aus fünf bis sechs verschiedenen Betrieben. Der Umgangston untereinander verschärfte sich zunehmend. Wenn in der regelmäßig alle zehn Tage abzugebenden Vorschau wegen noch nicht gesicherter Materiallieferung eine Gefährdung der Planerfüllung gemeldet wurde, kam die übliche Redewendung: „Ihr wollt doch den Plan nicht erfüllen!" Dann kam meist die Frage: „Hast du denn schon selbst mit dem Betriebsdirektor von X, Y oder Z verhandelt?" Und: „Hast du dazu ein Differenzprotokoll vorliegen?" Nach einer eigenverantwortlichen Klärung besaß man zwar ein Protokoll, aber noch lange nicht das benötigte Material.

In den letzten Jahren erfolgten durch die Generaldirektoren des Kombinats zunehmend mehr „Sonderrapporte", manchmal auch Samstags oder Sonntags, die ausschließlich dem Bemühen galten, durch mehr oder weniger Druck - aber auch gegenseitige Hilfe - zumindest den Kombinatsplan zu erfüllen. Mein letzter Generaldirektor erzählte mir einmal sehr offen, daß er einen Rapport bei Günter Mittag erlebt habe, wo die Generaldirektoren wegen Problemen in der Planerfüllung in geradezu beleidigender Weise vergattert wurden.

Die Produktionskontinuität und die monatliche Planerfüllung war in vielen Monaten meiner Betriebsdirektorzeit ein Albtraum. Meine Arbeitstage wurden immer länger, von morgens 6.00 Uhr bis abends 19.00 Uhr, manchmal noch länger. Samstag war ich auch meist im Betrieb und führte Gespräche mit Schichtarbeitern. Sonntags wurden noch häufig Post, Vorlagen oder Projekte studiert.

Nicht nur fehlende Gußteile waren Ursachen von Gefährdungen in der Planerfüllung, es gab noch viele andere. (Wir bezogen Tausende von Materialpositionen, und es gehörte ein riesiger Dispositionsaufwand dazu, den Prozeß zu überschauen. Bürocomputer hatten wir erst später.)

Wir bezogen z. B. aus Dresden hochwertiges Dichtungsmaterial. Trotz der Verträge konnte der Betrieb nicht liefern. Ich mußte mich wieder einschalten und erfuhr, daß ihm aus dem Chemiewerk Nünchritz das Halbzeug fehlte. Das Werk konnte es nicht fertigen, weil es aus Bitterfeld das Rohmaterial nicht bekam. So mußte ich eine ganze Kooperationskette bewegen, um letztlich, wenn auch mit Verspätung, zu unseren Dichtungen zu kommen.

Obwohl Vertragspartner in der Regel Bringepflicht hatten, mußte der Betrieb in vielen Fallen kurzfristig Zulieferungen selbst per Lkw oder kleinere Teile per Pkw oder noch kleinere per Mitarbeiter mit Rucksack oder Aktentasche via Eisenbahn abholen. Manchmal kam es auf Tage, sogar schon auf Stunden an. So kurios es erscheinen mag: Es kam vor, daß Dichtungen aus Dresden in das Gepäcknetz eines Schnellzuges Richtung Prenzlau verfrachtet wurden, ein Zugschaffner davon informiert wurde und - gegen seine Dienstpflicht verstoßend - darüber wachte, daß sie nicht abhanden kamen. In Prenzlau wurden die Dichtungen dann in Empfang genommen.

Als Vergaserkraftstoff und Dieselöl immer stärker rationiert wurden, tauschten wir ab und an mit einer sowjetischen Panzereinheit Farbe gegen Kraftstoff, doch dieser reichte bei unserem Bedarf auch nicht lange.

Da unsere Armaturen mit Schrauben und Muttern zusammengefügt wurden, benötigten wir große Mengen dieser Normteile. Dabei kam es vor, daß wir manchmal vor der Wahl standen, Schrauben zu beziehen, die zu lang waren, oder zu warten, bis wir die richtigen bekamen. Wir zogen es dann vor, die längeren zu nehmen und Tausende davon mit entsprechendem Arbeitsaufwand zu kürzen.

Unser Justitiar war allein schon wegen der ständigen Vertragsverstöße oder Weigerungen, Vertrage abzuschließen, stark ausgelastet.

Da sich in den Montageabteilungen des Betriebes, besonders in den letzten Tagen der Monate, die Arbeit häufte, kam es oft zu Überstundenarbeit und Aushilfen durch Verwaltungsangestellte. Es war nicht immer leicht, besonders in den Sommermonaten, die Mitarbeiter dafür zu gewinnen. Obwohl es immer wieder Bereitschaft gab und auch die Einsicht vorhanden war, daß der Plan erfüllt werden mußte, gab es kein Verständnis dafür, daß sich an den Umständen der materiellen Planabsicherung kaum etwas änderte.

Manche Versuche unserer Staats-, genauer: Parteiführung, die zunehmend stärker in die Wirtschaft eingriff, um bestimmte Mängel zu beseitigen, waren geradezu lächerlich. So auch der Versuch, die Mängel in der Ersatzteilversorgung zu lösen. Die Betriebsdirektoren der metallverarbeitenden Industrie wurden ganz kurzfristig zu ihren Generaldirektoren beordert. In unserem Kombinat wurde uns, diesmal mit unüberhörbarem Sarkasmus, folgendes erklärt: Die Staatliche Plankommission hatte dem Politbüro einen Bericht über die Lage in der Ersatzteilversorgung der DDR mit einem Maßnahmeplan zur Überwindung der Engpässe vorlegen müssen. Darin sei u. a. formuliert worden, wie das „schrittweise" in den nächsten Jahren geschehen solle. Daraufhin sei die Vorlage von Erich Honecker zurückgewiesen und festgelegt worden, daß sofort Maßnahmen einzuleiten waren, die dieses Problem innerhalb eines Jahres aus der Welt schaffen wurden. Uns wurde aufgetragen, innerhalb weniger Tage nach einem vorgeschriebenen Schema Konzepte zu erarbeiten, die an das Kombinat zu übergeben waren, mit der Aussage, wie und mit welchen Mitteln wir Ersatzteilforderungen an unsere Betriebe lückenlos erfüllen wollen. Das Papier war geduldig, aber solche Wunschvorstellungen konnten in der DDR nie realisiert werden.

Ähnlich war es mit dem Einsatz der Robotertechnik. Die Betriebe der zentralgeleiteten volkseigenen Industrie bekamen in den achtziger Jahren plötzlich Planauflagen über den Einsatz von Industrierobotern. Vielleicht traute man den Ingenieuren nicht zu, daß sie selbst auf den Gedanken kommen konnten, diese Technik einzusetzen, wo die Möglichkeit gegeben war. In meinem Betrieb beschäftigten sich die Technologen schon länger damit und experimentierten bereits mit einem Industrieroboter, der allerdings unseren technischen Ansprüchen nicht genügte. Die Höhe der Auflagen an die Betriebe entbehrte jeder Grundlage allein schon deshalb, weil die Industrieroboter herstellende Industrie überhaupt nicht in der Lage war, plötzlich eine so große Stückzahl herzustellen. Wahrscheinlich um dem Politbüro die Erfüllung der staatlichen Aufgabe „Einsatz von Industrierobotern" berichten zu können, wurde von der Staatlichen Plankommission diesmal sehr schnell eine verbindliche Definition herausgegeben, was wir in der DDR alles unter dem Begriff Industrieroboter zu verstehen hatten. Darunter wurden auch Bearbeitungsautomaten, halbautomatische Anlagen und ähnliches mitgezählt. „Alles, was zappelt" so der Volksmund, wurde zum Industrieroboter deklariert. Dazu erhielten die Betriebe Auflagen für die Eigenherstellung von Industrierobotern. Auf einem Weiterbildungslehrgang 1985 an der Universität Rostock fragte ich einen Dozenten, wie es zu solchem Unsinn gekommen sei. Wir erhielten die spöttische Antwort, daß eine DDR-Staatsdelegation unter Führung von Erich Honecker in Japan geweilt und dort auch einen Automobilbetrieb besucht hatte, wo wenig Menschen, aber viel Roboter im Einsatz waren. Wieder in die DDR zurückgekehrt, wurde eine Expertenkommission damit beauftragt, zu ermitteln, wieviel Industrieroboter in der DDR eingesetzt werden könnten. Das Ergebnis aus damaliger Sicht lautete: 600 Stück. Das kam aber nicht gut an. Da habe ein einzelner Herr festgelegt: „Nein, 6.000 Stück müssen es sein!" So die Antwort des Dozenten. Sogar der 1. SED-Kreissekretär bat mich in einem vertraulichen Gespräch, ihm doch einmal zu erläutern, was es mit dem Industrierobotereinsatz auf sich hätte. Nach den Presseinformationen der Zeit haben wir dann die BRD und wahrscheinlich sogar Japan in der „Robotertechnik" überholt.

Wie unendlich lebensfremd muß es, und nicht nur in Wirtschaftsfragen, im Politbüro zugegangen sein.

Die letzte große Kampagne zur Intensivierung in der Volkswirtschaft war die Entwicklung der Mikroelektronik und der Einsatz der Computertechnik. In meinem Betrieb existierte bereits ein Rechenzentrum, das Aufgaben der Planung und Abrechnung löste und im Schichtsystem arbeitete. Unser Bedarf an Bürocomputern und moderner, computergestützter Konstruktionstechnik war weiterhin sehr groß; indessen war die Möglichkeit, den Bedarf zu befriedigen, weit geringer als die aufgeblähte Propaganda über die Bedeutung des Computereinsatzes oder generell der CAD-CAM-Technik glauben machen wollte. Die zentrale Planung beauflagte allerdings die Betriebe, entsprechend den Anweisungen Günter Mittags, pro Bürocomputer zwei Arbeitskräfte einzusparen und sie „planwirksam" zu machen.

Ein einziges Mal hatten wir das Glück, bevorzugt mit wirklich modernen Ausrüstungen versorgt zu werden. Neu entwickelte Kugelhähne, darunter Typen mit sehr hohen technischen Parametern, befanden sich im Stadium der Überleitung in die Produktion. Wir projektierten dazu ein komplexes Rationalisierungsvorhaben mit der Bezeichnung „Integrierter Fertigungsabschnitt Kugelhähne". Eine computergestützte Gesamttechnologie mit modernen Werkzeugmaschinen, Industrierobotern, automatisierter Lagerwirtschaft und Informationsverarbeitung sollte einen hohen Leistungszuwachs bei überdurchschnittlicher ökonomischer Effektivität garantieren. Da in der Vorbereitung des XI. Parteitages der SED - zu dessen vorgesehener Tagesordnung „Die ökonomische Strategie mit dem Blick auf das Jahr 2000" gehörte - das Politbüro beschlossen hatte, Demonstrationsbeispiele der Intensivierung und Leistungssteigerung zu schaffen, wurde vom Armaturenkombinat vorgeschlagen, das Prenzlauer Vorhaben dafür mit vorzusehen, was dann auch durch einen Politbürobeschluß geschah.

Am 2. Januar 1986 erfolgte termingerecht in einer neuen Produktionshalle die Teilinbetriebnahme des „Parteitagsvorhabens", knapp zwanzig Jahre nach meinem Anfang als Investbauleiter in Prenzlau.

Verglichen mit dem Aufbau des Armaturenwerkes gab es bei der Realisierung des neuen Objektes weit weniger Schwierigkeiten. Als wir zum Beispiel auf Widerstände diverser Auftragnehmer stießen, mit uns Verträge zum Auf- und Ausbau einer neuen Produktionshalle abzuschließen, wurde das in einer einzigen Sitzung beim Bezirksvertragsgericht geregelt und nach unseren Forderungen entschieden. Das Zauberwort war „Politbürobeschluß".

In dieser Zeit erhielten wir auch Hilfe durch den mysteriösen Bereich „Kommerzielle Koordinierung" von Schalck-Golodkowski. Den Begriff „Schalck" hatte ich erstmals von meinem Generaldirektor gehört, ohne ihn deuten zu können. Über diesen Bereich erhielten wir für unser Vorhaben eine schon lange benötigte „Super-Mikro-Finish-Maschine" aus der BRD für die Präzisionsbearbeitung von großen Stahlkugeln. Wir hatten uns schon seit Jahren um eine ähnliche Maschine bemüht, jedoch nie erhalten.

Nicht der Ministerrat war in den letzten Jahrzehnten der DDR entscheidend, sondern das Politbüro, besonders, wenn es um Importe aus dem nichtsozialistischen Währungsbereich (NSW) ging. Daß ich trotz meiner zunehmenden Nachdenklichkeit über die Führungsrolle des Politbüros bei der Privilegierung meines Vorhabens erleichtert war und auch über die kameradschaftliche Begleitung und Kontrolle der Realisierung durch Mitarbeiter des ZK und der Bezirksleitung der SED, dürfte verständlich sein. Ohne Reibung, Hektik und Beschaffungsschwierigkeiten, besonders bei DDR-Werkzeugmaschinen, klappte auch bei diesem Vorhaben vieles nicht, aber davon soll hier nicht die Rede sein.

Das Ansehen des AWP war in den letzten Jahren weiter gestiegen, es war vom anfänglichen „Schmuddelkind" sogar zum Vorzeigebetrieb geworden. Außer unseren Außenhandelspartnern und Besucherdelegationen aus verschiedenen Regionen besuchten uns Delegationen von Gewerkschaften und linken Parteien aus den USA, Frankreich, Schweden, der BRD und aus fast allen sozialistischen Staaten.

Von den fast 1500 beschäftigten Arbeitern und Angestellten des Betriebes hatten 265 einen Hoch- oder Fachschulabschluß, 924 waren Facharbeiter, von denen die meisten im AWP gelernt hatten. An der Betriebsberufsschule - die nach der Wende Oberstufenzentrum des Kreises wurde - hatten wir auch Klassen der „Berufsausbildung mit Abitur". Jugendliche aus Vietnam und afrikanischen Ländern wurden in deutscher Sprache unterrichtet.

Die Wachstumsraten wichtiger Leistungskennziffern lagen weit über dem DDR-Durchschnitt und waren in den letzten Jahren einige Male zweistellig.

Ich bin noch heute stolz auf das Geleistete durch die Kollegen meines Betriebes. Den Erfolgen waren große Schwierigkeiten und Entbehrungen vorausgegangen, aber ihre Überwindung hat viele der Aktiven - nicht alle waren aktiv - selbstbewußter gemacht. Nicht wenige Mitarbeiter haben auch in all den Jahren ein hohes Maß an Standvermögen und Leistungswillen, gepaart mit Kreativität, gezeigt - Eigenschaften, die ich mir nur damit erklären kann, daß sie außer dem persönlichen Ehrgeiz auch dem Glauben an die Richtigkeit eines sozialistischen Weges entsprangen.

In Anbetracht des selbst erlebten kleinen Ausschnitts eines Stückes Wirtschaftsgeschichte - hier konnte ich nur Fragmente und diese auch nur verkürzt darstellen -stellte und stelle ich mir oft die Frage: Was hätte alles besser und wirkungsvoller sein können, nicht nur im eigenen Wirkungsbereich, sondern weit darüber hinaus. Der Zusammenbruch der DDR und der anderen sozialistischen Staaten hat viele äußere und innere Gründe, und es wird viel Zeit vergehen, bis objektive Historiker, frei vom heutigen „Zeitgeist", Lehrbücher geschrieben haben werden, die der Wahrheit zumindest sehr nahe kommen.

Eine wichtige Ursache ist unbestreitbar das Maß der Wirtschaftskraft und auch der internationalen Konkurrenzfähigkeit, deren Resultate das Lebensniveau und die Kultur wesentlich bestimmen. Die Reproduktionskraft der DDR reichte dazu nicht aus - und sollte zunehmend durch ein Mehr an Ideologie ersetzt werden. Propagandistische Mittel und auch Zwänge auf die Leiter, z. B. in der Wirtschaft, nahmen ständig zu.

Die peinliche und zugleich lächerliche Kampagne, in der Presse fast täglich Briefe von Kombinaten, Betrieben, Organisationen, den Blockparteien usw. mit Lobes- und Dankeshymnen an Erich Honecker zu veröffentlichen und ihm ewige Treue zu geloben, stieß viele Menschen eher ab, als sie zu irgendwelchen gewünschten Reaktionen zu bewegen. Ich habe diese Zeitungsausschnitte gesammelt, aber dann zu den anderen Altstoffen getan. Als mich der Parteisekretär des Betriebes fragte, wie ich zu so einem Brief an Honecker stünde, sagte ich ihm, daß mit mir ein solcher Kult nicht zu machen sei. Er kam auch nicht mehr darauf zurück.

Etwa Mitte der achtziger Jahre wurde es üblich - zumindest im Bereich des Ministeriums für Schwermaschinen und Anlagenbau - im Dezember durch die Generaldirektoren der Kombinate Klausurtagungen der Kombinatsleitung, der Betriebsdirektoren und Vertreter des Außenhandelsbetriebs durchzuführen, die als „Tage der Planbereitschaft" bezeichnet wurden. Sie fanden in unserem Kombinat in der Regel an zwei Tagen statt. Die voraussichtliche Planerfüllung des zu Ende gehenden Jahres - die meist das Klima der Tagung bestimmte - und die staatlichen Aufgaben der Betriebe für das folgende Jahr waren die Hauptthemen.

In den Sollvorgaben widerspiegelten sich, von Jahr zu Jahr deutlicher, die eher vom Gießkannenprinzip und den Wunschvorstellungen Günter Mittags geprägten Zielstellungen der Staatlichen Plankommission. In den staatlichen Vorgaben waren wichtige Kennziffern oft nicht zureichend miteinander abgestimmt, es fehlten letztlich produktionsbestimmende Bilanzanteile an Materialien oder/und an Werkzeugmaschinen für die Rationalisierung, die vorgesehene Steigerung der Arbeitsproduktivität bzw. als Ersatz für verschlissene Maschinen. In meinem Betrieb z. B. wurde planmäßig in drei Schichten plus zwei Schichten am Wochenende gearbeitet. Entsprechend war der physische Verschleiß der Grundmittel sehr hoch. Vom moralischen brauchte man bei uns gar nicht erst zu reden (trotz aller Kenntnisse der marxistischen Reproduktionstheorie).

Meist gab es Dutzende offener Fragen von grundlegender Bedeutung. Über sie wurde in den Tagen der Planbereitschaft zwar Betrieb für Betrieb gesprochen und diskutiert, dabei aber kaum etwas bewegt oder korrigiert. Der Generaldirektor war aufgrund seiner unzureichenden Möglichkeiten dazu auch kaum in der Lage. Was man von uns hören wollte, war, daß wir erstens den Plan für das alte Jahr erfüllen werden und zweitens „Planbereitschaft" für das Folgejahr melden - ein etwas imaginärer Begriff, der heißen sollte: Mein Betrieb wird den Plan erfüllen.

Der Generaldirektor teilte uns auf einer dieser Klausurtagungen mit, daß der neue Minister angeordnet habe, wir hätten uns bei unserer Meldung zu erheben und stehend die Planbereitschaft zu verkünden Da unser Generaldirektor zugleich Betriebsdirektor des Stammbetriebes war, befand er sich in der mißlichen Lage, sich selbst stehend die Planbereitschaft melden zu müssen. Wir machten gute Miene zum bösen Spiel, „meldeten" aber salomonisch „Wenn die und die usw. Probleme noch geklärt werden, dann besteht für den Betrieb Planbereitschaft". Zu lauten Protesten kam es nicht, wir waren schon vieles gewohnt. Und es wollte auch niemand das Schicksal erleiden wie der Generaldirektor eines namhaften, auch international renommierten Kombinats, der in feuchtfröhlicher Runde gesagt haben soll, daß das Politbüromitglied Gunter Mittag nicht einmal fähig sei, eine mittlere Kneipe zu leiten Dieser Generaldirektor, so erfuhren wir von Eingeweihten, wurde ganz schnell seinen Posten und seine Werkswohnung los.

Im Kreise der Betriebsdirektoren einschließlich des Generaldirektors - er war bereits der fünfte seit 1966 - wurde in nichtoffiziellen Stunden sehr offen über die immer kritischer werdende Lage der DDR diskutiert. Neben Kritik am übermäßig zentralisierten System der staatlichen Planung gab es weitergehende Gedanken über Möglichkeiten und Formen einer sozialistischen Marktwirtschaft, in der nur die wichtigsten Ziele und Proportionen der volkswirtschaftlichen Entwicklung geplant werden sollten. Auch das zwar gesetzlich festgeschriebene, aber immer wieder durch administrative Regeln verletzte Leistungsprinzip und die widersprüchliche Preispolitik waren Gegenstand der Kritik.

Wenn z. B. in meinem Betrieb einzelne Arbeitskräfte wegen ständiger Verstoße gegen die Arbeitsdisziplin nach bereits erfolgten Disziplinarmaßnahmen fristlos entlassen werden sollten - sie belasteten schließlich ihr Arbeitskollektiv und die betriebliche Arbeitskräftebilanz - bedurfte das der Zustimmung des Amtes für Arbeit Diese Zustimmung erhielt der Betrieb aber nur, wenn er der zu entlassenden Person eine neue Arbeitsstelle vermittelt hatte.

Zu Kuriositäten in der Preispolitik: Als wir bei einer Kostenanalyse der nach Prenzlau verlagerten Keilschieberproduktion feststellten, daß die Einkaufspreise für das Material, besonders Gußeisen, schon fast den Industrieabgabepreis der fertigen Armatur erreichten, habe ich mich unter Umgehung des Dienstweges direkt an den zuständigen Minister gewendet, mit einer exakten Analyse der Kosten und Preisstruktur Eine freie Preisbildung gab es in der DDR nicht. Ich glaube, es verging fast ein Jahr, bis Mitarbeiter des Amtes für Preise erschienen, um sich vor Ort erst einmal umzusehen.

Als Gorbatschow mit seiner Perestroika aktuell wurde, beschaffte ich mir alle Bücher von ihm und schöpfte, wie viele, die Hoffnung, daß der Gedanke an dringend nötige Reformen auch bei unserer Parteiführung Schule machen würde. Reformen waren aus meiner Sicht vorrangig in der Wirtschafts- und Innenpolitik der DDR nötig.

In einer Kreisparteiaktivkonferenz der SED in Prenzlau, an der als Gast ein Bezirkssekretär teilnahm, berührte ich u. a. das Thema Perestroika in der Sowjetunion und betonte die Notwendigkeit, auch in der DDR daraus Schlußfolgerungen zu ziehen Ich erntete - außer beim Präsidium - Beifall bei den Konferenzteilnehmern Danach wurde sofort eine Pause eingelegt und das Präsidium zog sich zur Beratung zurück Anschließend hielt der Bezirkssekretär eine Rede, in der er betonte, auch in der Bezirksleitung habe man Schlußfolgerungen gezogen. Dann kam jedoch eine längere Begründung dafür, daß in der DDR die Dinge ganz anders lagen, daß wir der Vorposten des Sozialismus an seiner Westgrenze waren u. a. m. Später hat Kurt Hager im Namen der Altmännerriege den Verzicht auf einen „Tapetenwechsel" verkündet.

Die Implosion der DDR, ich glaube, einen besseren Ausdruck dafür gibt es noch nicht, habe ich nicht mehr als Betriebsdirektor erleben müssen. Wegen meines Gesundheitszustandes -heute bezeichnet man ihn als Managerkrankheit - hatte mir nach meinem 60. Geburtstag mein Generaldirektor vorgeschlagen, in die Frührente zu gehen, „damit ich noch etwas vom Leben habe, von meiner Familie, bzw. sie von mir". Leider hatte ich zum Jahresabschluß 1987 einen leichten Schlaganfall und Kreislaufzusammenbruch, der die Arbeitsunfähigkeit beschleunigte Ab 1 3 1988 wurde ich Invalidenrentner.

Mein Nachfolger wurde der noch junge Technische Direktor des Betriebes, der aber schon im Mai 1990 aus mir nicht bekannten Gründen vom Generaldirektor abberufen wurde und sich etwa ein Jahr später bedauerlicherweise das Leben nahm.

Das Armaturenwerk wurde nach der Wende von der Treuhandanstalt übernommen, „gesplittet" und stückweise verkauft. Geschäftsführer wurden Ingenieure aus dem AWP. Der Fertigungsbereich Kältemittelarmaturen wurde vom ehemaligen Haupttechnologen, einem hervorragenden Ingenieur, sowie einem ehemaligen Konstrukteur als Management-buy-out-Objekt übernommen und produziert jetzt ein erweitertes Armaturensortiment und Anlagenteile für die Klimatechnik.

In den neuen Firmenlogos ist noch in Großbuchstaben das „AWP" enthalten. Allen neuen Armaturenbetrieben ist gemeinsam, daß sie wegen der großen Konkurrenz und den daraus entstehenden Absatzproblemen um ihre Existenz hart kämpfen müssen.

Aus anderen Betriebsteilen entstanden neue Firmengründungen im Dienstleistungsbereich.

Die meisten ehemaligen Armaturenwerker sind „in alle Winde verweht".

Meine Gefühle?

Als ich 1998 nach einer Operation im Herzzentrum Bernau lag, wurden wir Patienten in unseren Zimmern ab und an von einem Pfarrer besucht, der menschliche Wärme und Vertrauen ausstrahlte. Ich glaube, er kam aus Westberlin. Er sorgte sich in diesem Krankenhaus - es gehört einer Kirche - um die psychische Verfassung der Patienten. Er bat mich, ihm zu erzählen, wer ich bin, als was ich in meinem Leben gearbeitet habe.

Ich erzählte ihm aus meinem Leben als Metallarbeiter, Soldat, amerikanischer Kriegsgefangener, Antifaschist, Jugendfunktionär der FDJ usw., vor allem aber von meinem Betrieb und seinem Ende.

Er hörte sehr aufmerksam zu, spürte dann meine innere Erregung und sagte leise: „Seien Sie jetzt still, ich habe in ihr Herz gesehen."

Fred Kühnert 


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