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Utopien und die DDR

Wie viele des Jahrganges 1935 habe ich den Krieg und den Hunger danach kennengelernt. Als Lithographenlehrling im Erzgebirge gestaltete ich Plakate, die zur Einheit Deutschlands, zu Frieden und Fortschritt aufriefen. In diesen Jahren wurde ich mit der sozialistischen Idee bekannt. Als Student an der ABF und Technischen Universität konnte ich als Kind einer Arbeiterfamilie Physik studieren und im anschließenden Berufsleben wissenschaftliche Grade erwerben.

Zur naturwissenschaftlichen Intelligenz des Landes gehörend, war ich als stellvertretender Institutsdirektor und Sekretär für Physik der Akademie der Wissenschaften (AdW) für die Lösung technischer Probleme in der Energetik, Mikroelektronik, Umwelttechnik und Analysenmeßtechnik zuständig. Natürlich sah ich dabei auch die häßliche Seite des Gesichtes meines Landes. Vertraute Züge des gleichen Antlitzes bestärkten mich jedoch in der Annahme, daß erstere korrigierbar sein sollten. Auch schien ich mich im Konsens mit vielen Kollegen darüber zu befinden, daß die in der DDR praktizierte Gesellschaftskonzeption alternativlos war. Wie ich spätestens in den achtziger Jahren begriff, waren beide Annahmen objektiv nicht gesichert.

Völler Staunen vernahm ich von ehemaligen Bekannten, die ich noch mit fröhlichen Gesichtern zu Maidemonstrationen und vielen „Treuebekenntnissen" in Erinnerung hatte, daß sie „gezwungenermaßen" in unserem Land leben mußten. Manche früheren Mitarbeiter wechselten die Straßenseite, um mir nicht begegnen zu müssen. Übrigens treffe ich nach 10 Jahren so manchen wieder, der wiederum mit mir ein gemeinsames Stück auf der staubigen Landstraße des Lebens geht. Manchmal in alter, oft in neuer Verbundenheit. Aber nun ohne Illusion.

Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zog ich das Abenteuer einer Firmengründung dem möglichen Vorruhestand vor. Dabei zeigte sich, daß meine Erfahrungen aus alten Zeiten äußerst brauchbar sind. Solide Kenntnisse und erstaunliche Übung im operativen Umgang mit Schwierigkeiten gehörten zum Standardrepertoire von DDR-Technikern. Dazu steht das zur Wende kreierte Wort von der „Forschungswüste" DDR im Widerspruch. Bis heute entrüstet mich dieser Slogan, der bei der Evaluierung von Instituten und Universitäten eine unrühmliche Rolle spielen sollte.

In den meisten Print- und Videomedien wird das zweite deutsche Land, das als völkerrechtliches Subjekt 40 Jahre existierte, als kriminelles Gebilde behandelt. Fast alle Beiträge linker und rechter Couleur beschreiben Sachverhalte ohne wirkliche Sachkenntnis. Da Zeitzeugen seltener werden, möchte ich aus meiner Sicht einige Gründe für das Scheitern der sozialistischen Utopie auf deutschem Boden nennen.

Die Frage nach den Ursachen für den Untergang der DDR ist für mich eine zugleich sehr persönliche, habe ich doch an wichtigen Entscheidungen mitgewirkt. Meine kürzeste Formel für die Crashursache ist, daß zumindest in den achtziger Jahren mehr verzehrt als erwirtschaftet wurde. Dies mußte zur Zwangsvollstreckung der Fa. DDR trotz gutem Personals und einer an sich geringen Auslandsverschuldung von 5 Milliarden Dollar führen. Trotzdem konnten die jährlichen Zinsen für diese Kredite nur mit großer Mühe und letztlich nur durch den „Strauß'schen" Kredit bedient werden.

Aber da war auch der Anspruch, eine bessere Gesellschaft auf hohem Niveau zu gestalten. Für ein rasches Wachstum der Wirtschaftskraft wären aber auch Investitionen auf hohem Niveau notwendig gewesen, um vorhandene neue Produkte und Technologien industriell umzusetzen und auf dem internationalen Markt zu realisieren. Leider war dieses Wachstum nicht finanzierbar.

Diese Situation war besonders bitter für viele Kollegen in den Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften, die entgegen anderen Auffassungen auf beachtlichem Niveau Ergebnisse erzielten und sich internationaler Wertschätzung erfreuten. Das betrifft unter anderem die Analysenmeßtechnik, die Isotopenproduktion, die Softwareentwicklung, die chemische Katalyse und die Entwicklung von Schaltkreisen.

Die einfache Wahrheit, daß weder die einfache Reproduktion geschweige die erweiterte geschafft wurden, wurde von der Politik verkannt. Warum war das so?

Meines Erachtens liegt die wichtigste Ursache im Primat der Politik über die Ökonomie, das zu einer ständigen Verletzung des Wertgesetzes durch subjektive Einflußnahme einzelner auf Teilbereiche der Wirtschaft führte. Preis- und Verteilungswillkür führten in der Endkonsequenz dazu, daß die Währung an Bedeutung verlor. Dies wiederum bedingte eine Vielzahl bürokratischer Maßnahmen zur Regelung des Binnenmarkts. Entscheidungen erfolgten nicht mehr nach Effektivitätskriterien - Leben von der Hand in den Mund war angesagt. Als Beispiel sei das Beharren auf Preisen für Brot und Brötchen genannt, so daß schließlich subventionierte Lebensmittel als Viehfutter Verwendung fanden. Organisierte Wertvernichtung. Die politische Führung hatte weiß Gott keinen Sokrates oder Marx in ihren Reihen, dessen sie für die Gestaltung einer neuen Gesellschaft dringend bedurft hätte.

Natürlich war die Wirtschaftsentwicklung auch durch andere Faktoren als oben genannte gehandycapt. So hatte die Zugehörigkeit zum Warschauer Vertrag eine fortschreitende Isolierung von der internationalen Entwicklung zur Folge, die sich verheerend auf das Bewußtsein vieler auswirkte. Der relativ geringe Warenaustausch mit den Dollarländern bedingte ständig knappe Valutakassen. Damit wurden nicht nur Reisemöglichkeiten begrenzt. Der kalte Krieg bedingte ein Embargo, unter dem die Wirtschaft litt. High-Tech-Produkte, insbesondere Meßtechnik und elektronische Bauelemente, standen nicht zur Verfügung. Im Rahmen der Störfreimachung mußten u. a. Kapazitäten der Mikroelektronik in Frankfurt/Oder und Erfurt unter hohen Belastungen neu geschaffen werden. Spezialausrüstungen mußten zu stark überhöhten Preisen unter Embargoumgehung beschafft werden. Dies führte zu einer sich immer mehr öffnenden technologischen Schere. Der Abstand zu führenden Industrieländern wuchs. Ein negativer Rückkopplungseffekt war die Folge, da die Ansprüche im Land sich an der Qualität eigener Produkte auszurichten begannen, die wiederum geringere Erträge brachten.

Vielfach wird darauf verwiesen, daß die DDR-Wirtschaft zusätzlichen Belastungen durch 7 Milliarden Dollar Reparationsleistungen an östliche Nachbarn und die Finanzierung des Uranbergbaus unterworfen wurde. Hier hinein spielt auch die ambivalente Haltung der UdSSR zur DDR, die einerseits die Außengrenze des Warschauer Vertrages zu unterhalten und zu sichern hatte, andererseits aber stets als „westliches" Ausland suspekt schien. Dies nötigte in einigen Fällen zu unangenehmen Entscheidungen, die das Budget der DDR stark belasteten: die kurzfristige Kürzung vereinbarter Erdöllieferungen führte zu der Notwendigkeit, Erdölheizwerke durch solche auf Braunkohlenbasis zu ersetzen; zur Profilierung von Betrieben und Instituten auf die Fertigung automatisierter Linien zur Kernbrennelementefertigung, von denen am Ende nur 1 Prototyp geliefert wurde und die Entwicklungskosten offenblieben; zur verrückten Idee, aus Erdölrückständen Lebens- bzw. Futtermittel herstellen zu wollen. Die Höhe dieser Aufwendungen kann nur geschätzt werden. Sie liegen mit Sicherheit über der der Auslandskredite.

Der Niedergang der Wirtschaftseffizienz hatte natürlich auch viele ideologische Ursachen. So gab es in den achtziger Jahren eine Art schleichender Auflösung der Arbeitsdisziplin. Der falschen These von der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse entsprach auch in der Wirtschaft das System der Doppelhierarchie von Partei und staatlicher Leitung. Die Verantwortung und die Konsequenzen für die aus ihr resultierenden Mängel trugen die Betriebsdirektoren, auch wenn sie zu ineffektivem Handeln durch politische Einflußnahme gezwungen worden waren.

Es gab eine allgemeine Tendenz der Gleichmacherei, zum Ausweichen vor quantifizierbaren Leistungskriterien. So bestand häufig zwischen Leistung und Gehalt keine erkennbare Relation mehr. Das galt nicht nur in der Wissenschaft, auch in vielen Betrieben verdienten Meister nur das gleiche wie die Anzuleitenden, häufig noch weniger. Manchmal entstand der Eindruck, daß man die in den Leitungshierarchien Tätigen als eine Art „roter Bourgeoisie" heruntermachen konnte. Dies alles trug zur Auflösung der sprichwörtlich guten Arbeitsdisziplin der deutschen Arbeiterklasse bei, die auch im Osten einst verfügbar war.

Unter den Bedingungen zweier deutschsprachiger Länder war der Einfluß der BRD-Medien auf das Bewußtsein beträchtlich. Viele DDR-Bürger erschufen sich ein virtuelles Bild von einer heilen bundesdeutschen Welt: Unkündbarkeit des Arbeitsplatzes, kostenfreie Bildung und Kinderbetreuung sowie niedrige Mieten, verbunden mit hohen Gehältern in DM, dazu die Verfügbarkeit aller denkbaren Konsumgüter einschließlich Mallorca-Reisen. Diese Vorstellungen bildeten auch eine Art von Utopie, nach der der größte Teil der Demonstranten 1989 strebte und die sich 1990 mit der Währungsunion für kurze Zeit zu erfüllen schien.

Die wirtschaftlichen Folgen waren bekanntlich für Ostdeutschland katastrophal, da die Absatzmärkte der Industrie im Osten entfielen und die im Westen von Firmen aus den alten Bundesländern bedient wurden. Wissenschaftler und Fachleute mit Kompetenz wurden in renommierte Unternehmen übernommen. Die ostdeutsche Elite, die weitgehend aus kleinen Verhältnissen stammte, wurde aus dem öffentlichen Leben weitgehend eliminiert.

Ob das Scheitern der sozialistischen Utopie objektiv notwendig war, ist meines Er-achtens nicht wirklich erwiesen. Die im Bereich der Wirtschaft liegenden Ursachen hätten bei intelligenter politischer Führung wohl vermieden werden können. Dieses „Experiment" unter besseren Voraussetzungen zu wiederholen, steht aktuell nicht zur Debatte. Aber die Sehnsucht nach einer gerechten Welt, in der Brot für alle verfügbar und Freiheit, Gleichheit und Würde für den einzelnen weitgehend garantiert sind, wird immer wiederkehren.

Jürgen Leonhardt


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