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Harald Eidam

 Zum 12. Wendejubiläum 

Eine kurzgefaßte Rückschau zum Jahrhundertwechsel und zu 12 Jahren altersgerecht überstandener Einheit soll es werden. Umstritten bleibt oft die Selbstbewertung - hatte die Kondition nachgelassen oder war die eigene Zielstellung jeweils zu hoch? Beflügelt aber haben mich das Jubiläum, mein nunmehr achtzigjähriges Dasein, der nunmehr fünfzehnjährige Rentnerstatus und ganz besonders die sechsundfünfzigjährige Zweisamkeit mit meiner Lebensgefährtin. Dazu meine Bindung an die einst gefundene politische Heimat.

Wenn das nichts ist? Doch, das ist etwas!

Am schönsten vielleicht das Glücksgefühl darüber, daß mir das Schicksal die Möglichkeit gab, diese Rückblickssituation zu erleben.

Welche Freude beim Erinnern an die zukunftsträchtige Zeit voller Liebe und großer persönlicher wie gesellschaftlicher Ziele, damals 1946/47, nach Faschismus und Krieg, bis hin zur Wende 1989!

Nach dem Anschluß des kleinen armen an den großen reichen Bruder folgte das Erleben vieler Vor- und Nachteile der Wohlstandsgesellschaft, des modernen Kapitalismus.

Volle Läden erfüllen seither alle Kaufwünsche. Neue und alte große Autos sind greifbar. Die Welt ist für Reiselustige geöffnet. Das Leben ist „lebenswert" geworden. An ein paar Nebensächlichkeiten wie Arbeitslosigkeit, Ellenbogenfreiheit, willkürliche Preisgestaltung, Spekulantenunwesen, kostspielige irrsinnige Wegwerfwerbung und Verpackung, zahllose Zeitschriften im bunten Medienwald zur Hirnverseuchung und Ablenkung von Grundfragen, zunehmende Kriminalität, Verkehrs- und Drogenopfer und vieles andere war man genötigt, sich zu gewöhnen.

Dazu gehörte auch das Unverständnis darüber, daß uns 1945 der Kapitalismus in Gestalt des Faschismus nach heißem Krieg über 70 Prozent Trümmer hinterlassen hatte, aber 1992 die Marktwirtschaft nach 40 Jahren Kaltem Krieg und friedlicher Wende trotz hoffnungsfroher Erwartungen eine l00prozentige Stillegung nicht nur der heimischen Textilindustrie, sondern auch von Betrieben der Glasindustrie, des Maschinenbaus u. a. brachte. Geblieben sind trostlose Ruinen, der willkürlichen und natürlichen Zerstörung ausgesetzt - letzte Künder einstiger bescheiden stolzer Tuchmacher- und anderer örtlich traditionsreicher Industriegenerationen. Letzte Erinnerungen an sie werden im Glanz der Prunkbauten, Warenüberangebote und bunt flimmernder Werbung bald verblassen.

Gehe ich heute durch mein Heimatstädtchen Spremberg und schaue mich um, kommen mir unwillkürlich Erinnerungen an die Vergangenheit. Zunächst sind da die Nachkriegsjahre ab 1946, in denen optimistischer Sturm und Drang dominierte und die Hoffnung auf eine sichere Zukunft wuchs. Ich war heimgekehrt aus der Nacht des Dritten Reiches, und die im Morgenrot einer ersehnten Zukunft liegenden Trümmer erzeugten Opferbereitschaft, Bescheidenheit und die Kraft zum notwendigen Aufbauwillen, auch den Traum von Frieden und Völkerfreundschaft.

Und dann drängen sich die Ereignisse zu Beginn der 90er Jahre auf, mit der Hoffnung auf „blühende Landschaften“... Zweimal „Wende“ in 50 Jahren. Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht nachempfinden.

Seit 1946 dabei gewesen, angefangen als Fachschulabsolvent der Vorkriegszeit, dann am Webstuhl - Weben für eine neue Zeit.

Es war uns gelungen, aus den Trümmern von einst ca. 30 kleinen Betrieben zwei größere produktionsfähig zu machen und auch zwei erhalten gebliebene Betriebe wieder in Gang zu bringen. 1951 wurde aus vier mittleren und vier Kleinbetrieben der „VEB Spremberger Textilwerke“ mit 1 200 Werktätigen gebildet und ich mit seiner Leitung und weiteren Entwicklung beauftragt. Das Übertragen dieser Verantwortung war eines der unzähligen Beispiele praktischer sozialistischer Demokratie. Arbeiter, Bauern, Angestellte aller Bereiche übernehmen Leiteraufgaben auf allen Ebenen, gehen in Parlamente und staatliche Organe und regieren im Bündnis mit Intellektuellen, allen Parteien des Demokratischen Blocks und parteilosen Mitgliedern der Massenorganisationen im großen Volksbündnis der Nationalen Front. Der Betrieb produzierte erfolgreich Oberbekleidungstuche für Textilhandel und Konfektionsbetriebe mit einem Anteil für den Export.

1992 wurde er geschlossen. Einige Gebäude sind bereits „entsorgt“, andere wurden zu Ruinen.

Gehe ich in südliche Richtung und erreiche Trattendorf, sehe ich mich 1954 mit einem neuen Auftrag beim „Bau der Jugend, Kraftwerk Artur Becker“ (Kommunistischer Jugendfunktionär, bis 1933 Reichstagsabgeordneter, Interbrigadist in Spanien, 1938 von Franco-Faschisten ermordet). Es war ein Republik-Schwerpunkt zur Sicherung der Energieversorgung unseres Landes. Ich war verantwortlich für die Wohnlager tausender auswärtiger Bauschaffender. Die Energiearbeiter leisteten im entstandenen Kraftwerk bis zur Wendezeit anerkannte Arbeit. Nun, nach der Sprengung stolzer Kühltürme, Schornsteine und aller Produktionsanlagen vergißt vielleicht selbst ein alter Kraftwerker, daß auf dem jetzigen Freigelände einst sein Kraftwerk stand.

Ähnlich ergeht es mir, wenn ich meine Stadtgrenze nach Westen überschreite und den Ortsteil Schwarze Pumpe erreiche. 1955 wurde hier mit dem Aufbau des geplanten Gaskombinates begonnen. In neuer Funktion für die Wirtschaftsbereiche des Kreises zuständig, war ich zeitweilig mit einem Einsatzkollektiv für Kontroll- und Hilfsaufgaben auf der Großbaustelle beauftragt. Gleichlaufend mit dem Kombinatsaufbau entstand im Ort eine moderne Bereitschaftssiedlung und in 17 km Entfernung die Neustadt von Hoyerswerda, unmittelbar an gleichnamiger alter Kleinstadt. Im Wendezeitraum wurden die Betriebsanlagen überwiegend beseitigt und im Bereich ein neues Kraftwerk gebaut.

In meiner genannten Kreisfunktion verwuchs ich unwillkürlich mit allen Kohle-Energiebetrieben des Territoriums, den Brikettfabriken in Welzow und Heidemühl, der Zentralwerkstatt und dem bedeutenden „ VEB Braunkohlebohrungen und Schachtbau“ Welzow, ebenso mit den Glaswerken in Welzow, Heidemühl, Tschernitz und dem neuen ersten Fernsehkolbenwerk der DDR in Friedrichshain, wo wir mit Bauarbeitern und künftigen Kolbenmachern auf hohem Gerüst Richtfest feierten. Gleiches gilt für die wichtigen Betriebe „Spreela-Werke“ mit der Preßstoffproduktion, die „Spreemag“ Maschinenbau und Eisengießerei, das „Lonzawerk“ als Zulieferer für den „VEB Elektrokohle Berlin“, „Technische Bürsten“ und andere Kleinproduzenten, das Baugewerbe mit einem Kreisbaubetrieb, den großen „VEB Kraftverkehr“ und das weitmaschige Handelsnetz mit Großhandelsbetrieben, den staatlichen und genossenschaftlichen Einzelhandel einschließlich der Gastronomie und - unverzichtbar - das Netz vieler privater Einzelhändler und Gaststätten.

In all diesen Betrieben hatte ich unvergessene Kontakte zu unzähligen werktätigen Menschen und ihrer überwiegend sehr engagierten Arbeit, ihrem Stolz auf Erfolge und ihren Sorgen und Problemen.

Mit der sinnlosen Vernichtung dieser breiten Basis eines normalen Wirtschaftslebens - auch mit seinen nicht zu leugnenden großen Schwierigkeiten und (überwindbaren) Mängeln - haben eine große Zahl von Bürgern ihre Arbeitsplätze und eine Vielzahl von Jugendlichen ihre beruflichen Perspektiven verloren. Die materiellen, politisch-moralischen, auch demographischen (niedrige Geburtenzahlen, Abwanderung Arbeitssuchender), sittlichen (Jugendkriminalität, Drogendelikte, Gewaltbereitschaft, Selbstmordrate) und kulturellen Spätfolgen dieser Art von Beitrittspolitik sind heute noch kaum absehbar ...

In diesem Bericht über persönliche Erlebnisse möchte ich betonen: Mir sind meine privat-persönlichen Ärgernisse in der Wendezeit einschließlich der Strafrente nicht wichtig, desgleichen nicht die auf uns gekommenen Verbesserungen, die möglich gewordenen Weltreisen, großen Autos, das generalüberholte Wohnhaus und vieles mehr. Das alles wird übertönt durch den landesweiten, für viele Mitbürger so schmerzhaften Nachwende-Gesamtprozeß. Durch das brutal aufgezwungene Erlebnis der Beseitigung schwer erarbeiteter Werte. Und keineswegs nur materieller:

Unser Land war auch ein Hort des Friedens und echter Völkerfreundschaft. Es gab viele sichtbare Beispiele opferbereiter sozialistischer Solidarität, bewiesen in Vietnam, Kuba, Nicaragua, Mosambik und vielerorts in der Dritten Welt.

Ich bedaure den Verlust unseres hoffnungsvollen Ansatzes zu echter Volksherrschaft, zu sozialistischer Demokratie, die mit mehr Nachdruck und Einsatz hätte entwickelt werden können und müssen.

Heute sind diese Ansätze in einer sogenannten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ erstickt, in einer Wunschdemokratie des großen Kapitals, die, welche Partei auch immer regiert, in keinem wesentlichen Betracht die herrschenden Macht- und Rechtsverhältnisse, die allgemeine Dominanz der ökonomischen und politischen Interessen des Kapitals, ernsthaft in Frage stellt.

In dieser „Wunschdemokratie“ erleben wir, wie national und international demokratische Volksbewegungen, so Kundgebungen und Demonstrationen unzufriedener Volksmassen, von der jeweiligen „demokratischen“ Staatsmacht eingeschränkt und niedergehalten werden. Es scheint, daß die in Gesetzen festgelegten Grenzen der „Wunschdemokratie“ von staatlichen Beamtenapparaten, tausenden Polizisten und auch bewaffneten Armee-Einheiten bewacht werden. Oder handelt es sich um Anzeichen von Terror der reichen Machthaber gegen Arme, frei von Macht, Recht und Besitz, die in vielen Ländern mit ihren Kindern hungern, in Slums leben und auf Bildung, soziale, medizinische und kulturelle Betreuung verzichten müssen? Für normales menschliches Denken ist es unfaßbar, daß die Rüstung zunehmend Milliarden verschlingt und daß diese Riesensummen nicht zur Überwindung des Elends in den Armutsvierteln der Erde eingesetzt werden!

Die Hurra-Schreie auf Straßen und Plätzen, die Dankgebete an heiligen Stätten, Freudenrufe wie „Wir sind das Volk“ sind verklungen. Urteile gegen DDR-Bürger als Straftäter, weil auch Funktionsträger, sind zum Teil abgesessen oder anders abgegolten. Die Leistungen der „Treuhand“ und anderer weiser Helfer sind gut honoriert, die Akteure zum Teil wieder abgezogen oder haben gut Fuß gefaßt bzw. gute Pensionen. Ich als neugeborener BRD-Bürger wohne saniert, habe mich in den neuen Alltag eingelebt und verfolge das turbulente vielfältige Geschehen in den verschiedensten Bereichen der bunten Gesellschaft. Außer der genannten permanenten Ungerechtigkeit bedrückt mich besonders die von unserer Regierung in Vasallentreue mitgemachte USA-NATO-Politik, jetzt mit dem Krieg in Afghanistan (und der Kriegsdrohung gegen den Irak und eventuell weitere „Schurkenstaaten“) bei deutscher militärischer Beteiligung. Das alles hat wohl seinen gewollten und geplanten machtpolitischen, ökonomischen und militärischen Zusammenhang. Angesichts meines eigenen Kriegserlebens und der Lehren aus der Geschichte steigt in mir Angst auf ...

Nein, ich habe nicht stillgehalten und resigniert. In meiner persönlichen Rentensache ersuchte ich beim UNO-Menschenrechtszentrum in Genf um Hilfe. 1996 nahm ich an der Bonner Großkundgebung von 350 000 Bürgern teil, die unter der Losung „Kohl muß weg“ eine neue Politik durch eine neue Regierung forderte. Auf der Basis des Grundgesetzes setzte ich mich öffentlich mit Ungereimtheiten und zweifelhaften Standpunkten in Pressebeiträgen der Gauckbehörde, der Kriegsgräberfürsorge, in Publikationen des DGB u. a. auseinander. Ich war in Aktion bei Wahlkämpfen und solchen Initiativen wie der Organisierung des Tribunals gegen den NATO-Krieg in Jugoslawien und der aktuellen Bemühungen für „Mehr Demokratie“ durch Volksbegehren auf Länderebene. Es darf nicht sein, daß sich der Widerspruch zwischen Arm und Reich ins Grenzenlose steigert.

Mir kommt da immer wieder die unvergeßliche Pariser Kommune in den Sinn, wo Arbeiter erstmalig wagten, das Regierungsprivileg der „Oberen“, der Besitzenden, anzutasten, um unter beispiellosen Schwierigkeiten ihre Arbeit bescheiden, gewissenhaft und wirksam für geringste Einkünfte zu verrichten. Dieses Vorbild begleitete mich wie auch jenes der Schlesischen Weber (meine Berufsvorfahren) 40 Jahre lang durch die DDR-Entwicklung und regt jetzt angesichts des aktuellen Gewerkschaftsdisputs über die Frage der „Mitbestimmung“ und sogenannter „Bündnisse für Arbeit“ in den Betrieben erneut zum Denken an. Ein Erfahrungsaustausch zwischen DGB und Praktikern aus 40 Jahren FDGB zu diesem Thema könnte dazu übrigens sehr hilfreich sein. Er steht auch nach 12 Jahren Einheit noch aus!

Gern erinnere ich mich daran, daß der Hobbykleingärtner - wie immer zu zweit - auch auf Reisen gesellschaftlich aktiv war. Zum Beispiel als Helfer an den PDS-Ständen des Pressefestes der „Humanité“ in Paris und der „Avant“ in Barcelona und Lissabon. Ich war unterstützender Teilnehmer an den PDS-Treffen am Werbellinsee und gemeinsam mit tschechischen Freunden und Genossen an Politcamps, unter anderem im Kreis Jicin.

Nebenher realisierte ich eine persönliche Zielstellung, schrieb meinen Lebenslauf auf und veröffentlichte ihn in einem Buch.1 Ich begann mit dieser Arbeit 1995, also 50 Jahre nach der Befreiung von der faschistischen Barbarei.

Dazu ein Auszug aus der Zuschrift von Marlies Allendorf:

„... Ich habe Dein Buch mit großem Interesse, oft mit innerer Bewegung gelesen - die Erinnerungen an die frühe Kindheit und die Mutter ebenso wie Deine Schlußfolgerungen für Gegenwart und Zukunft. Du hast ein gutes Buch gemacht. Es ist dazu angetan, Menschen unserer Generation und unserer Gesinnung noch einmal in Gedanken nacherleben zu lassen, wie es war in jener heroischen Periode, woher wir unsere Begeisterung, unsere Kraft genommen haben, nämlich aus diesem Ideal von einer Welt ohne Krieg, einer Welt, in der der Mensch aufhört, ein geknechtetes Wesen zu sein. Wir mußten in dieser Aufbruchzeit sein, wie wir gewesen sind, und würde eine Zeitmaschine uns in die damaligen Verhältnisse zurück katapultieren - wir könnten nicht anders handeln.

Ich bejahe auch das Pathos des ersten Buchteils.

Es war eine große Zeit, der die Geschichte vielleicht - vielleicht! - einmal besser gerecht werden wird. Und dazu werden dann aufgeschriebene Lebensgeschichten - wie Deine - beitragen ...“

Wir müssen die alte Lehre begreifen, daß - national wie international - ohne eine neue Gesellschaftsordnung alle Teilversuche zur Änderung vieler ernster Zeitprobleme letztlich nur Flickschusterei bleiben werden. Eine solche neue Ordnung wird nicht vom Himmel fallen, sie muß zielstrebig und opferbereit auf breiter Basis langfristig vorbereitet werden. Dazu will ich, solange ich es noch vermag, meinen bescheidenen Beitrag leisten.


1 Harald Eidam: Suchend im Jahrhundert erwacht. GNN Schkeuditz 2000


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