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Christel Fiebiger

Das „Wunder der Selbstbehauptung"

Über Nachwirkungen der Agrar- und Bodenpolitik der DDR

In der Landwirtschaft hat die DDR mehr als nur Spuren hinterlassen. Aus dem Erbe der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften entstand Zukunftsträchtiges. Dafür haben ostdeutsche Bauern gesorgt, indem sie ihre Erfahrungen in der großbetrieblichen Produktion nicht unüberlegt über Bord geworfen haben. Entgegen der Erwartung westdeutscher Politiker kam es weder zur weitgehenden Liquidierung der Genossenschaften noch zur massenhaften Einrichtung von Familienbetrieben. Vielmehr entstand eine vielfältige Agrarstruktur, die sich auch im fünfzehnten Nachwendejahr gravierend von der westdeutschen unterscheidet. Das betrifft Betriebsgröße, Rechtsformen, Eigentumsverhältnisse und Arbeitsverfassung.

Erstens ist der durchschnittliche ostdeutsche Landwirtschaftsbetrieb 6,2-mal größer als der westdeutsche. Während im Osten 48 Prozent der Agrarfläche von Betrieben mit 1.000 und mehr Hektar bewirtschaftet werden, sind es im Westen ganze 0,3 Prozent. Umgekehrt ist das Bild bei Betrieben unter 50 Hektar. Ihr Flächenanteil beträgt im Osten keine 4 Prozent, im Westen aber 41. Ähnlich unterschiedlich ist der betriebliche Konzentrationsgrad der Tierbestände. Z. B. halten mehr als 100 Kühe in Bayern nur 0,2 Prozent der Betriebe, in Sachsen-Anhalt dagegen 60 Prozent.

Zweitens dominieren in den alten Bundesländern die Einzelunternehmen. Das sind in der Regel Familienbetriebe. Sie bewirtschaften 90 Prozent der Fläche. Dagegen gibt es in den neuen Ländern eine „Vorherrschaft" der Gemeinschaftsunternehmen. Ihr Flächenanteil beträgt bei Juristischen Personen, das sind vor allem eingetragene Genossenschaften und GmbH, 52 Prozent und bei Personengesellschaften 23 Prozent.

Drittens befinden sich in Ostdeutschland nur 14 Prozent des Bodens im Eigentum der landwirtschaftlichen Betriebe, 85 Prozent sind Pachtland. In Westdeutschland liegt der Eigentumsanteil mit 45 Prozent 3,2-mal höher.

Viertens wird die Arbeitsverfassung im Osten durch Lohnarbeit geprägt. 76 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte sind Lohnempfänger. Im Westen dagegen nur 31 Prozent. Den größten Teil der Arbeit leisten dort Familienarbeitskräfte.[1]

Ostdeutschland hat also eine moderne, in der alten EU einmalige Agrarstruktur. Ihr Produktivitätsvorteil wird von den Landwirten immer besser als Wettbewerbsvorteil genutzt. In den Betrieben der neuen Länder ist der Arbeitsaufwand ebenso wie der Unternehmensaufwand je Flächeneinheit erheblich niedriger als im alten Bundesgebiet. Auch die arbeitskraftbezogenen Gewinne fallen trotz geringerer Flächenerträge deutlich höher aus - und das bereits seit Jahren.

In diesem Zusammenhang wird gelegentlich vom „Wunder der Selbstbehauptung" der Ost-Landwirtschaft gesprochen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass gerade diese Entwicklung Balsam auf der geschundenen „Ossi-Seele" ist und mit hilft, das Selbstbewusstsein der Menschen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg zu stärken.

Auf der anderen Seite bereitet es mir Unbehagen, dass einige linke Zeitgenossen meinen, diese Entwicklung als eine nachträgliche Bestätigung der untergegangenen DDR und ihrer Landwirtschaftspolitik interpretieren zu müssen. Das ist mir zu einfach und einseitig. Besser wäre, sie würden sich der Mühe einer differenzierten und kritischen Geschichtsaufarbeitung unterziehen. Eine nostalgische Verklärung des Vergangenen hilft niemandem. Immerhin hat die kapitalistische Gesellschaft wirtschaftliche und soziale Energien freigesetzt, dem der sozialistische Versuch nichts annähernd Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatte. Es muss also auch gesagt werden, dass nicht alles aus der DDR-Landwirtschaft Ererbte für die Jetztzeit positiv ist. Nicht weniges, bis hin zu Mentalitätsfragen, war und ist auch hinderlich.

Besonders abwegig ist die Behauptung, mit den aus den LPG hervor gegangenen Großagrarunternehmen würde ein Stück Sozialismus im Kapitalismus fortbestehen. Hier wird in die Entwicklung etwas „hineingeheimnist", was nicht hinein gehört. Auch die Agrarstruktur der USA und Kanadas ist großbetrieblich. Und da gab es keinen Sozialismus.

Erklären lässt sich das „Wunder der Selbstbehauptung" damit, dass die DDR etwas vorwegnahm, was auch den Bauern in den alten Bundesländern und in der Europäischen Union nicht erspart bleiben wird, nämlich die Entwicklung zu größeren Betrieben und die fortschreitende Konzentration der Produktion. Das ist ein allgemein gültiges Gesetz der gesellschaftlichen Entwicklung. Unterschiedlich waren nach der Teilung Deutschlands nur die Wege und erreichten Resultate.

In der DDR setzte man auf die Politik der Vergenossenschaftlichung, Arbeitsteilung, Konzentration und Spezialisierung. Gab es 1950 noch 888 245 landwirtschaftliche Betriebe mit einer Durchschnittsgröße von 7,3 Hektar[2], waren es 1989 nur noch 5 431, darunter 1 150 LPG Pflanzenproduktion, die 90 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche der DDR bewirtschafteten. Ihre vorherrschende Betriebsgröße lag zwischen 4 000 und 5 000 Hektar.[3] Nach der Wende begann die Anzahl der Betriebe wieder zu wachsen. Auch weil Gigantismus und andere Überspitzungen der DDR weitgehend korrigiert wurden. 2003 wurden 30 700 Betriebe gezählt, darunter allein 24 200 Einzelunternehmen.[4]

Richtig ist sicher, dass bei konsequenter Anwendung des offiziell beschworenen Prinzips der Freiwilligkeit die genossenschaftliche Umgestaltung der Landwirtschaft weder in so kurzer Zeit von nur sieben Jahren, von 1953 bis 1960, noch so umfassend vollzogen worden wäre. Manche Bauern gingen aus Überzeugung, manche aus Not und manche gar nicht in die LPG. Viel zu viele entzogen sich durch Republikflucht diesem Schritt. Es war kein Ruhmesblatt für den Arbeiter-und-Bauern-Staat, dass ihm hunderttausende Bauern, oftmals sehr leistungsfähige, den Rücken kehrten. Anderseits gab es für einen vernünftigen Menschen wenig Grund, sich der LPG entgegenzustellen, denn groß war damals die Plackerei in der Landwirtschaft. Das habe ich am eigenen Leib, im elterlichen Fünf-Hektar-Betrieb erlebt. Und viele, die nur mit Zwang in die Genossenschaft kamen, machten später ihren Frieden mit der LPG und wurden zu besonders verantwortungsvollen Genossenschaftsbauern.

Mehr als Parteiparolen überzeugte die genossenschaftliche Praxis. Die gemeinsame Arbeit brachte wirtschaftliche und besonders soziale Vorteile. Die wollte kaum einer mehr missen.

Meine Eltern waren Siedler. Nachdem mein Vater seine Firma im Baugeschäft total verloren hatte, gab es für ihn nicht viel zu wählen. Die Entscheidung musste getroffen werden: zwischen Bleiben oder Gehen. Meine Eltern blieben und erwarben Eigentum aus der Bodenreform, d. h. aus der Enteignung des hundert Hektar großen Gutes zu Hause. Diese fünf Hektar sicherten ihnen einen Neuanfang. Aber das war nicht der Einstieg in goldene Zeiten, es war auch kein Wirtschaftswunder, es war schwerste Arbeit, von der meine elfköpfige Familie nur schwer leben konnte. Noch heute erinnere ich mich an eine Losung aus den fünfziger Jahren: „Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes eigen sein." Gründlich waren wir im Schaffen - aber wir hatten damals noch keine Ahnung davon, wie der Weg auf fünf Hektar weiter gehen sollte, und erst recht nicht, wie eine moderne sozialistische Landwirtschaft aussehen sollte.

Die Entwicklung verlief schnell und mir war damals nicht ganz klar, warum ich und meine Geschwister statt die Kühe zu Hause nun in der LPG versorgen mussten.

Wir machten jede Etappe eifrig mit, und über die Jahre war es auch richtig, denn jeder in der Familie hatte jetzt eigene Chancen. Die fünf Hektar spielten keine große Rolle mehr.

Das Positive in der DDR war die uneingeschränkte Entwicklung des geistigen Eigentums ihrer Bürger. Das war wichtig, denn ein Fünf-Hektar-Betrieb ernährt keine Familie und die moderne Landflucht konnte nur vielseitig gebildeten Menschen eine Chance geben. Durch die Genossenschaft ergaben sich hier noch größere Möglichkeiten.

In der BRD vollzog sich der Strukturwandel nach dem Konkurrenzprinzip. „Wachsen oder Weichen" war, ist und bleibt die Devise. Auch wenn Tempo und Ausmaß dieses Wandels keine DDR-Dimensionen erreichten, bleibt festzustellen, dass zwischen 1949 und 2003 die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Westdeutschland von mehr als 1,6 Millionen auf 361 000 zurückging und ihre Durchschnittsgröße von 8 auf 32 Hektar anstieg. Diese Betriebsgrößen sind gewiss nicht das Ende der berühmten „Fahnenstange". Meine Prognose: Die westdeutsche Agrarstruktur wird sich künftig weit mehr der ostdeutschen annähern als umgekehrt. Den Bauern im Westen steht also noch bevor, was ihre Kollegen im Osten bereits hinter sich haben[5].

Konzentration, Spezialisierung und immer mehr Dienstleistungsbetriebe werden das Bild einer neuen Landwirtschaft prägen, die nur noch wenig mit der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft gemeinsam haben wird. Allerdings wage ich keine Voraussage, welche Rechtsformen in der fernen Zukunft bestimmend sein werden. Abzeichnen tut sich jedoch, dass der Familienbetrieb in einem längeren Prozess seine heutige Dominanz verlieren wird. Bereits jetzt ist unübersehbar, dass auch in den alten Bundesländern kooperative Betriebe, namentlich die als Gesellschaften bürgerlichen Rechts (GbR) organisierten Personengesellschaften, auf dem Vormarsch sind.

2003 bewirtschafteten sie zusammen mit den wenigen juristischen Personen bereits über 1 Million Hektar. Das sind 9 Prozent der Agrarfläche-West.[6]

Fakt ist auch, dass die Agrargenossenschaft noch immer ein rein ostdeutsches Phänomen ist. Im Westen fanden sich bislang keine Nachahmer. Also besteht auch hier keinerlei Grund für linke Euphorie. Zumal selbst im Osten die Anzahl und der Anteil der Genossenschaften langsam aber stetig zurückgeht. Trotzdem sind die 1 100 Agrargenossenschaften, die im Durchschnitt 1412 Hektar unterm Pflug haben und rund 28 Prozent der ostdeutschen Agrarfläche bewirtschaften, eine noch immer unübersehbare Kraft. Ob das so bleibt, hängt davon ab, wie es gelingt, die Attraktivität von Genossenschaften in einer Gesellschaft zu erhöhen, in der der persönliche Vorteil über allen anderen Werten steht. So sind z. B. immer weniger Genossen zu akzeptieren bereit, dass sie im Falle ihres Ausscheidens (bzw. ihre Erben) keinerlei Anspruch auf den Zuwachs des genossenschaftlichen Vermögens haben, sondern nur auf die persönlichen Genossenschaftsanteile. Auf der anderen Seite wird befürchtet, dass die Aufgabe des Prinzips der Unteilbarkeit der Fonds das Ende der Genossenschaften bedeuten könnte. Ein pragmatischer Mittelweg wäre sicher das Beste.

Als 1990 die Frage stand, was wird aus den sozialistischen LPG im Kapitalismus, stand ich an der Spitze einer solchen in Groß Warnow, einem Dorf in der Prignitz. Die damals von mir als Vorsitzende und den Mitgliedern getroffene Entscheidung, unsere LPG auf der Grundlage des LAG[7] in eine eingetragene Genossenschaft (e. G.) umzuwandeln, war zwar eine freie Entscheidung, dennoch wurde sie von den materialisierten Gegebenheiten der jahrzehntelangen DDR-Entwicklung determiniert.

Unser Maschinenbestand war auf den Großbetrieb zugeschnitten und besaß einen nur geringen Wiederverkaufswert. Die weitere Bewirtschaftung großer Felder war daher ökonomisch vorteilhaft. Auch hatte unsere LPG eine große Sauenzuchtanlage mit 1 200 Plätzen und einen 400er Kuhstall. Aus beiden konnte man schwerlich Einzelställe machen. Hätten wir uns anders entschieden, stünden diese Ställe heute als Ruinen in der Landschaft oder würden vielleicht von kapitalkräftigen Holländern betrieben. Mancherorts ist das eine oder andere geschehen.

Die Zerlegung der LPG in viele Familienbetriebe hätte zu einer gigantischen Entwertung unserer Maschinen und Ställe geführt. Vom Vermögensverlust wären alle getroffen wurden. Das wollten wir nicht. Tatsächlich war es damals so, dass die LPG nur wenige Wiedereinrichter verkraften konnten.

Eine nicht minder wichtige Rolle spielte der Umstand, dass die Mitglieder der LPG durch jahrzehntelange kollektive Arbeit geprägt waren. Sie übten längst nicht mehr alle Arbeiten im Landwirtschaftsbetrieb aus - vom Säen, Ernten, Füttern bis hin zum Melken. Der Genossenschaftsbauer war hoch spezialisiert. Nur noch wenige Mitglieder, insbesondere ältere, die noch selbst als Einzelbauern gewirtschaftet hatten, sowie Leitungskräfte mit Hoch- und Fachschulabschluss waren überhaupt in der Lage, einen komplexen Landwirtschaftsbetrieb zu bewältigen. Aber selbst diese wollten die Genossenschaft mit der einigermaßen geregelten Arbeitszeit, mit Freizeit und Urlaubsanspruch nicht gegen die Plackerei im bäuerlichen Familienbetrieb, wo der Bauer sieben Tage in der Woche gefordert ist, eintauschen. Auch scheuten sie das Risiko, persönlich hohe Kredite aufzunehmen.

Fast jeder der Groß Warnower war damals über die Grenze nach Niedersachsen gefahren und hat sich dort Höfe angeschaut. Dabei hat er schnell mitbekommen, dass viele dieser Höfe nur durch Selbstausbeutung, Konsumtionsverzicht und hohe Schulden über Wasser gehalten werden. Das war nicht erstrebenswert.

Unser Vorteil war und ist tatsächlich der Großbetrieb mit seinem in der Regel größeren Kostensenkungspotential. Während mit steigender Betriebsgröße die Produktionskosten zumeist rückläufig sind, zeigen die Transaktionskosten[8] einen ansteigenden Verlauf. Angesichts dieser gegensätzlichen Kostenentwicklungen galt es, das betriebswirtschaftliche Optimum zu finden. Dazu mussten Produktion und Organisation angepasst werden. Ohne diese innerbetriebliche Anpassung hätten auch die Großbetriebe nicht überlebt.

Zu den Spuren der DDR gehört aber auch, dass die materiell-technische Basis der LPG verschlissen war. Bereits Jahre vor dem Zusammenbruch des Arbeiter-und-Bauern-Staates konnte die einfache Reproduktion nicht mehr durch die Industrie bzw. aus Importen gewährleistet werden. Die Ost-Agrarbetriebe, auch meine Genossenschaft, gingen in die Marktwirtschaft mit einem großen Nachholbedarf. Alte Traktoren, Maschinen und Anlagen mussten durch neue und leistungsfähigere ersetzt werden. Begrenzender Faktor war plötzlich das zu geringe Eigenkapital und das sehr teure Fremdkapital. Früher war es umgekehrt. Gut wirtschaftenden LPG mangelte es nicht an Geld, sondern an Kaufmöglichkeiten. Die Bereitstellung von Produktionsmitteln verschlechterte sich Jahr für Jahr. Mit ökonomischer Normalität hatte das nichts zu tun - auch wenn es heute viel härter zugeht.

Die schrittweise Modernisierung der Technik und der nunmehr gegebene Zugang zu einem fast unbegrenzten Markt an qualitativ hochwertigen Dünge-, Pflanzenschutz- und Futtermitteln haben eine erhebliche Steigerung der Tierleistungen und Pflanzenerträge ermöglicht. Der zum Ende der achtziger Jahre bestehende große Leistungsrückstand gegenüber der westdeutschen Landwirtschaft wurde weitgehend abgebaut, bei einigen Produkten hat der Osten den Westen überflügelt. Hieran zeigt sich, welche Potenzen in der DDR-Landwirtschaft gesteckt haben, was bei adäquaten Bedingungen möglich gewesen wäre, welche Chance vertan wurde.

Am bittersten war für mich als Genossenschaftsvorsitzende die Erkenntnis, dass meine Agrargenossenschaft ohne einen massiven Arbeitskräfteabbau nicht überleben würde. Und wir hatten, wie die gesamte DDR-Landwirtschaft, reichlich Arbeitskräfte - in der Produktion, in der Verwaltung, im LPG-eigenen Sozialbereich und auch, weil in der LPG das getan werden musste, was die Industrie und Bauwirtschaft längst nicht mehr vermochten. Ohne die genossenschaftseigenen Schlosser, Elektriker, Maurer wäre vieles nicht gelaufen, einiges sogar zusammengebrochen.

Urplötzlich, mit dem Einzug der Marktwirtschaft, änderte sich das, wurden die Arbeitskräfte, langjährige Kolleginnen und Kollegen, ohne mein Zutun zum bloßen Kostenfaktor degradiert. Nur wenigen, meist stadtnahen Agrarbetrieben gelang als Ausweg, neue, oft landwirtschaftsfremde Geschäftsfelder zu erschließen. Dafür fehlte es unserer Genossenschaft an Kapital und Voraussetzungen. Letztere waren in der dünn besiedelten und entlegenen Prignitz denkbar schlecht. Mir blieb nichts anderes übrig, als alle Möglichkeiten des Altersübergangs und Vorruhestands auszuschöpfen. Ohne diese Möglichkeiten wäre offen die soziale Katastrophe ausgebrochen. So wurde einiges verdeckt und abgemildert. Trotzdem bleibt der in der deutschen Agrargeschichte einmalige Vorgang, dass in der ostdeutschen Landwirtschaft in kürzester Zeit von zehn Landwirten acht ihren Arbeitplatz, der für viele wichtigster Lebensinhalt war, verloren. Noch heute ist die Arbeitslosigkeit in den ländlichen Regionen wie in meiner Heimat besonders hoch. Vor allem Frauen sind betroffen.

Angesichts dieser Situation fällt es mir schwer, die von der Statistik ausgewiesene Leistungsfähigkeit der großbetrieblichen ostdeutschen Agrarstruktur zu bejubeln. Im Jahre 2003 lag der Arbeitskräftebesatz je Flächeneinheit im Osten bei weniger als der Hälfte des Wertes für Westdeutschland. Hierin drückt sich ökonomische Überlegenheit aus. Allerdings werden auch weniger Arbeitskräfte infolge der geringeren Bedeutung der Viehhaltung benötigt. Im Vergleich zu 1989/90 gab es einen großen Aderlass bei den Tierbeständen. Hierdurch wurde die ungeliebte Ost-Konkurrenz auf dem übersättigten EU-Markt bei Fleisch und Milch beseitigt. Auch deshalb fehlt es heute im Osten an Wertschöpfung und Beschäftigung.

Übrigens weiß ich durch meine Arbeit im Europäischen Parlament, dass viele meiner Abgeordnetenkollegen den Erhalt des Familienbetriebes geradezu beschworen. Bei meinen Reisen nach Portugal und Griechenland wurde ich immer wieder mit dem Argument konfrontiert, dass diese Produktionsweise mehr Arbeitskräfte als die Großproduktion bindet und ohne Familienbetriebe es zur sozialen Katastrophe in den ländlichen Regionen kommen wurde. Das ist zunächst richtig. Die Sicherung von Arbeitsplatzen ist eine Kernfrage, noch dazu, wenn man linke Politik verficht. Und trotzdem wird dieser Ansatz langfristig scheitern.

Zumindest ist mir nicht einleuchtend, dass in allen anderen Bereichen der Wirtschaft gnadenlos rationalisiert wird, um teure Arbeitskräfte freizusetzen und dass das mit größter Selbstverständlichkeit als Preis des Fortschritts verkauft wird, aber in der Landwirtschaft Strukturkonservierung betrieben werden soll. Für mich ist das nichts anderes als ein auf Ohnmacht und Hilflosigkeit basierendes Wunschdenken und damit Selbstbetrug.

Fakt ist doch, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt um die Landwirtschaft keinen Bogen macht. Das kann und sollte die Politik selbst aus „edlen" Motiven nicht verhindern. Sie sollte vielmehr akzeptieren, dass der eigentliche Reichtum der Gesellschaft der Gewinn von Zeit und nicht - wie allgemein geglaubt wird - der Profit ist. Die Lösung des Beschäftigungsproblems kann deshalb nur sein, die geringer werdende Arbeit auf breitere Schultern zu verteilen. Über die Verkürzung der Arbeitszeit können mehr Menschen in Arbeit gebracht werden und zugleich gibt es ungeheuer viel Arbeit, die heute nicht geleistet wird, weil sie keinen Profit bringt, weil es für ihre Resultate keinen privaten Markt gibt. Solche Arbeit wird aber für das Wohlbefinden der Menschen immer wichtiger, nämlich Arbeit zur Erhöhung der sozialen, kulturellen und ökologischen Lebensqualität der Gesellschaft.

Einen letzten Bereich, den ich unter der Fragestellung „Spuren in die Zukunft" beleuchten mochte, ist die Auseinandersetzung um den Boden als eine der Schlusselfragen für die Zukunft der ostdeutschen Landwirtschaft.

Das hier von der DDR Ererbte hat die Nachwendeentwicklung gefördert und zugleich gehemmt. Das betrifft vor allem zwei Komplexe: das Verhältnis von Bodennutzung und Bodeneigentum sowie alles, was mit der Bodenreform zusammenhängt.

Bevor ich darauf eingehe, will ich am Beispiel meiner LPG aufzeigen, welche Formen von Bodeneigentum es in der DDR gab, zumal - so hoffe ich - auch Leserinnen und Leser zu diesen Buch greifen, die aus den alten Ländern stammen und solche, die erst nach der Wiedervereinigung groß geworden sind.

Wir wirtschafteten in Groß Warnow erstens mit altem bäuerlichem Eigentum. Das Privateigentum an Grund und Boden war ja in der DDR juristisch garantiert. Ein großer Teil der ehemals bäuerlichen Eigentümer bzw. ihre Erben waren jedoch längst nicht mehr in der Genossenschaft. Mit ihnen hatte die LPG teils direkte Pachtverträge, überwiegend sicherte jedoch der Rat des Kreises diesen Boden, indem er Nutzungsverträge mit den Erben schloss und die Flächen der LPG zur kostenlosen Nutzung übergab. Zweitens nutzten wir Neubauerneigentum aus der Bodenreform. Da dieses nur diejenigen erben konnten, die in der LPG oder anderswo in der Landwirtschaft tätig waren und dieses Eigentum auch nicht verkauft und verpachtet werden durfte, wurde es immer weniger. Drittens bewirtschafteten wir „Eigentum des Volkes". Das bestand neben altem staatlichen und kommunalen Eigentum hauptsächlich aus in der Bodenreform enteignetem und nicht an Privatpersonen verteiltem Boden bzw. aus dem, der an den staatlichen Bodenfonds zurückgefallen war, weil die Erben keine Tätigkeit in der Landwirtschaft ausübten.

In der DDR spielte das Bodeneigentum eine völlig untergeordnete Rolle. Es wurde durch das umfassende und uneingeschränkte Nutzungsrecht der LPG ausgehöhlt. Die LPG konnte mit dem Boden machen was sie wollte, ohne den Eigentümer zu fragen. So wurden auf dem eingebrachten Boden genossenschaftseigene Gebäude errichtet, Eigenheime für Mitglieder und sogar Nichtmitglieder gebaut, auch war seine Nutzungsübertragung an andere LPG und VEG durchaus üblich und noch vieles andere mehr.

Ich erinnere mich gut, dass sich viele Bauern, obwohl sie als Eigentümer im Grundbuch standen, wie enteignet fühlten. Insbesondere nach dem auch die in den 50er und 60er Jahren laut LPG-Statut gepflegte Praxis, einen Teil des Einkommens auf den Faktor Boden zu verteilen (Bodenanteile), in Wegfall kam. Die Einkommensverteilung erfolgte schließlich nur noch nach der geleisteten Arbeit. Im Parteilehrjahr und in LPG-Vollversammlungen wurde das durch die Funktionäre aus der Stadt damit begründet, dass der Boden ohne Arbeit tot sei und keinen Ertrag bringe. Dafür hatte ein fest in seiner Scholle verwurzelter Bauer kaum Verständnis. Die Bauern guckten finster. Auch weil der Boden für jeden richtigen Landwirt kein totes, sondern ein sehr lebendiges Gebilde ist.

Beim LPG-Eintritt wurde den Bauern laut Statut zugesichert, dass ihr Eigentum erhalten blieb. So wurde auch das mit dem Boden eingebrachte Inventar in Form von Tieren, Geräten und Maschinen bei der Übergabe bewertet und als Forderung an den Fonds der LPG ausgewiesen. Umso unverständlicher war es, dass durch eine Änderung des Zivilgesetzbuches die Pflichtinventarbeitrage in unteilbares genossenschaftliches Eigentum umgewandelt wurden und lediglich die darüber hinaus erbrachten zusätzlichen Inventarbeitrage ausgezahlt werden konnten. Das erfüllte bereits damals den Tatbestand der entschädigungslosen Enteignung und machte den LPG bei ihrer Umwandlung in Betriebe bürgerlichen Rechts schwer zu schaffen.

Mit der im Juni 1990 von der Volkskammer wiederhergestellten freien Verfügbarkeit über das Bodeneigentum war auch verbunden, dass diese Inventarbeiträge wieder personifiziert wurden. Hätte man sie zu DDR-Zeiten auszahlen dürfen, wäre die finanzielle Belastung der LPG-Nachfolgeeinrichtungen in den schweren Zeiten der Anpassung geringer gewesen. Hätte man in der DDR ordentlich Bodenanteile gezahlt (nur wenige LPG haben dieses Prinzip durchgehalten), wären die Konflikte zwischen Landeinbringern und Landlosen wegen der Relation der Aufteilung des LPG-Vermögens auf die Faktoren Boden und Arbeit andere gewesen. An diesen Konflikten ist manche Freundschaft und manche LPG nach der Wende zerbrochen.

Zum Bericht über die in die Zukunft reichenden Spuren der DDR-Bodenpolitik gehört auch die Feststellung, dass die ostdeutsche Landwirtschaft einerseits mit einer Bodennutzung in großen Einheiten und anderseits mit sehr zersplittertem Bodeneigentum in die marktwirtschaftliche Anpassung ging. Der Städter, der mit dem Auto oder Zug durch die ostdeutschen Agrarlandschaften mit ihren weiten Feldern fährt, kann sich kaum vorstellen, dass das Bodeneigentum im privaten Bereich weitaus zersplitterter ist als in Westdeutschland, wo das Landschaftsbild von viel kleineren Äckern und Wiesen geprägt wird. Tatsächlich wurde über Jahrzehnte die Bodeneigentumsstruktur der 50er Jahre konserviert. Im Unterschied zur BRD gab es die strukturellen Wirkungen von Bodenkauf- und -verkauf, Pacht und Flurbereinigung/Flächentausch faktisch nicht bzw. nur sehr eingeschränkt. Das hat seine Ursache in einer sozialistischen Bodenpolitik, für die nur der Ertragswert des Bodens zählte, nicht aber sein Vermögenswert. Diese Sachlage wird die Bauern, die vielen anderen Bodeneigentümer, aber auch Verwaltungen und Juristen noch lange Zeit, wahrscheinlich sogar noch Generationen beschäftigen.

Das allergrößte Problem ist aber mit der Bodenreform verbunden. Obwohl ihre Nichtrückgängigmachung im Einigungsvertrag und Grundgesetz festgeschrieben wurde, dauern die Restaurationsbestrebungen von Alteigentümern und ihren Erben und Erbeserben unvermindert an. Auch wenn ich davon ausgehe, dass sich im Bundestag dafür keine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit finden wird, sind die ostdeutschen Agrarbetriebe allein durch den gesetzlich geregelten Umgang mit den heute im Bundeseigentum befindlichen Bodenreformfonds bedroht. Derzeit haben die Betriebe langfristige Pachtverträge mit der für die Privatisierung dieses Bodens zuständigen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH und können in einem sehr begrenzten Umfang an einem Programm für den subventionierten Flächenerwerb teilnehmen. Künftig sollen jedoch weder neue Pachtverträge abgeschlossen noch bestehende verlängert werden. Das vom Gesetzgeber vorgegebene Ziel lautet, jeden Hektar zu veräußern. Und verkauft wird an jene Bewerber mit den höchsten Geboten. Alle parlamentarischen Versuche der PDS, die Verpachtung als eine dauerhafte Option zu erhalten, scheiterten an den Mehrheiten.

Der Kampf um das knappe und durch Arbeit nicht erschaffbare Gut Boden wird die Agrarstruktur im Osten weiter verändern. Nur ökonomisch starke Unternehmen werden in der Lage sein, ihren Bodenfonds zusammen zu halten.

Hätte man in der DDR von Anfang an das Bodenreformeigentum dem Alteigentum gleichgestellt, hätte es also keinen Rückfall in den staatlichen Bodenfonds gegeben, würde also heutzutage kein so riesiger Bodenfonds in den Händen des Bundes existieren. Das Eigentum aus der Bodenreform wäre in den Händen vieler, d. h. der Erben derjenigen, die mit der Bodenreform Land erhielten. Damit wäre die Bodenreform tatsächlich unumkehrbar. So aber hat die DDR selbst die Bodenreform ausgehöhlt und unfreiwillig dazu beigetragen, dass für die Zukunft mehr Unsicherheit als Sicherheit besteht. Was tatsächlich passiert, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob und wie im Osten um die ostspezifischen Interessen gekämpft wird.  


[1]  Berechnet nach: Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2004 der Bundesregierung, S. 109/110/111.

[2] Autorenkollektiv, Früchte des Bündnisses, Dietz Verlag Berlin 1985, S. 342

[3] Autorenkollektiv, Die Entwicklung der Landwirtschaft in der DDR, Hochschule für Landwirtschaft
und Nahrungsgüterwirtschaft Bernburg 1990, S. 14 und 16.

[4] Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2004 der Bundesregierung, S. 112.

[5] Aber auch die Landwirtschaft in Ostdeutschland wird weitere Veränderungen durchmachen, allein schon um sich der bevorstehenden Reform der EU-Agrarpolitik und der mit ihr verbundenen weiteren Liberalisierung der Märkte anzupassen. Aber das ist nicht das Thema des Beitrages.

[6] Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2004 der Bundesregierung, S. 112.

[7] Landwirtschaftsanpassungsgesetz vom 24. Juni 1990.

[8] Marktbenutzungskosten oder für Marktanpassung neuer Produktionsformen. Verhandlungs- und Entscheidungskosten, auch die Kosten bei Insolvenz des Vertragspartners.


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