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Hubert Moser

 Ein kleines Stück Vergangenheitsbewältigung 

Eigentlich komme ich zu dem Urteil, dass es zwischen uns eine echte Freundschaft gibt, die sich über viele Jahre auf der Basis gegenseitiger Achtung und gegenseitigen Vertrauens entwickelt hat: er, Herbert B., ein praktizierender Katholik, und ich, eher ein Atheist, wenn auch recht bibelkundig. Und alles fing damit an, dass die Konsumgenossenschaft Prenzlau für ihr kontakt-Kaufhaus 1968 einen Beirat gründen sollte, der als Mitgliederorgan eine beratende und kontrollierende Funktion auszuüben hatte. Da für den Vorsitz dieses Gremiums Fachkunde gefragt war, fiel die Wahl auf mich, denn als Handelslehrer war ich bereits seit 1953 an der Berufsschule mit der Ausbildung der künftigen Handelskader befasst und hatte so auch engen Kontakt zu den verschiedenen Handelsbetrieben des Kreises Prenzlau. Herbert B. war seit 1956 Leiter des Kaufhauses und somit mein künftiger Kooperationspartner bei der Ausübung dieser ehrenamtlichen Funktion. Als echte Sanguiniker, wie ich uns beide einschätzen möchte, hatten wir schnell einen guten Draht zueinander. Beide waren wir sehr kritische Zeitgenossen, wenn es um die Lösung der Versorgungsprobleme ging und scheuten uns nicht, auch einmal Dinge beim Namen zu nennen, die in den höheren Etagen durchaus anders bewertet wurden. Da eine optimistische Grundhaltung und Schlagfertigkeit gemeinsame Eigenschaften von uns beiden waren und sind, ging es auch bei der Behandlung akuter Probleme immer recht humorvoll und locker zu, ohne die zu lösenden Fragen zu vernachlässigen. Selbst aktuelle politische Witze wurden gelegentlich ausgetauscht, allerdings hinter vorgehaltener Hand, wie es damals nötig war. Das setzte wechselseitiges Vertrauen voraus.

Schon nach kurzer Zeit gemeinsamen Wirkens lernte ich Herbert B. als Menschen und Leiter schätzen, der seine ganze Kraft in die optimale Erfüllung seines beruflichen Auftrags investierte. Als ein zweiter Anbau am alten, vom Krieg übriggebliebenen Gebäude des Kaufhauses errichtet werden sollte und mangels ausreichender Baukapazität viel Eigenleistung gefragt war, erwischte ich ihn eines Sonntags auf der Baustelle, als er gerade gegen das 3. Gebot (2. Mose, 20,8 ff.) verstieß und Sand karrte. Er hatte zwar seinen Kirchgang absolviert, aber sofort danach seinen guten Anzug gegen Arbeitskleidung getauscht, um allein auf der Baustelle zu wirken. Nur so kenne ich ihn: verantwortungsbewusst, fleißig und uneigennützig.

Fast zeitgleich mit der Übernahme des Vorsitzes im Beirat des Kaufhauses wurde mir die höhere Weihe zuteil, auf dem VI. Genossenschaftstag 1968 in Berlin zum Mitglied des Genossenschaftsrates des Verbandes Deutscher Konsumgenossenschaften (VDK) gewählt zu werden, welchem ich bis zum bitteren Ende angehörte. Damals wurde ein Kandidat gesucht, der u. a. „parteilos“ sein musste. Und ich war es zu dieser Zeit, da ich 1962 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Inzwischen hatte ich aber sehr erfolgreich eine „Bewährung in der Produktion“ absolviert und bereits mehrere Auszeichnungen erhalten und galt wohl deshalb als „geläutert“ und somit wieder „gesellschaftsfähig“, zumindest was die Wahrnehmung einer gehobenen Funktion bei den Konsumgenossenschaften betraf.

Aus meiner Arbeit im Genossenschaftsrat des VDK wusste ich, dass dem Präsidenten des VDK, Heinz Fahrenkrog, jährlich ein Kontingent an staatlichen Auszeichnungen (Verdienter Aktivist, Banner der Arbeit und Vaterländischer Verdienstorden in Bronze) zur Verfügung stand, das für die Würdigung von Verdiensten in der Organisation vorgesehen war. Diese Tatsache veranlasste mich, meinen Kaufhaus-Beirat dafür zu gewinnen, einen Vorschlag zur Auszeichnung von Herbert B. als „Verdienter Aktivist“ einzureichen. Mir war schon im Vorfeld klar, dass dieses Ansinnen bei zahlreichen Entscheidungsträgern auf Ablehnung stoßen könnte, da der Kandidat in vieler Hinsicht nicht in das Kriterienschema passte. Er war praktizierender Christ. Und allein das war schon Grund genug, eine gehobene Auszeichnung nicht ins Kalkül zu ziehen. Dazu kam, dass er parteilos war und noch nicht einmal mit einer Blockpartei wie der CDU flirtete. Da man seine konstanten Verdienste zumindest an der Basis nicht übersehen konnte, war er inzwischen achtmal als „Aktivist“ ausgezeichnet worden. Und genau das gab mir Hoffnung, wenigstens mit dem „Verdienten Aktivisten“ Aussicht auf Erfolg zu haben.

Der nächste Auszeichnungsakt beim Präsidenten verstrich - und Herbert B. blieb unberücksichtigt. Das löste nicht nur beim Beirat des Kaufhauses Unverständnis und Empörung aus. Aber jeder wusste, offener Protest hätte nicht geholfen, sondern nur Unannehmlichkeiten gebracht. Mir brachte es eine ernste Aussprache ein, als ich im engeren Kreis äußerte: „Herbert B. hat für die Konsumgenossenschaft und für die DDR schon mehr geleistet als manch ein Träger des Parteiabzeichens.“ Zu diesem Zeitpunkt war eine weitere Parteistrafe nicht möglich, da ich noch nicht wieder in die Partei aufgenommen worden war.

Herbert B. wurde - mit Sicherheit auch aus besagten Gründen - 1972 als Kaufhausleiter von einem Parteimitglied abgelöst und rückte auf den Stellvertreterposten, was seine Bemühungen um die optimale Lösung der Versorgungsaufgaben nicht beeinträchtigte, und auch an unserem guten Einvernehmen nichts änderte. Auch als ich in späteren Jahren aus dem Beirat ausschied, pflegten wir weiterhin gute und sehr kollegiale Beziehungen. Herbert B. wechselte 1987, nach einem Herzinfarkt ein Jahr vor Erreichen des Rentenalters, in den Ruhestand; immerhin hat er mir im Lebensalter neun Jahre voraus. Mir bescherte die Altersübergangsregelung im Dezember 1992 den vorzeitigen Abschied aus dem pflichtigen Berufsleben.

Immer wenn ich später Herbert B. auf der Straße oder bei Konzertveranstaltungen traf, erinnerte ich mich der Tatsache, dass es mir damals nicht gelungen ist, einen „Verdienten Aktivisten“ aus ihm zu machen. Es blieb tatsächlich bis zur Berentung dabei: Aktivist und nicht mehr.

Durch Zufall fiel mir 1997 der Katalog einer Münzhandlung in die Hände, in dem unterschiedliche Orden und Medaillen zum Kauf angeboten wurden; u.a. auch die Medaille „Verdienter Aktivist“. Von diesem Zeitpunkt an ließ mich der Gedanke nicht mehr los, dass es jetzt eine Chance gäbe, das nachzuholen, was zu DDR-Zeiten durch borniertes Verhalten von Entscheidungsträgern nicht möglich war. Aber wie konnte man das arrangieren? Es sollte aus meiner Sicht keine „Ulknummer“ werden, sondern eine ehrliche, wenn auch verspätete Würdigung der Leistungen in zurückliegenden Jahren sein, sozusagen eine „Wiedergutmachung“ erlebten Unrechts. Denn genau das war es, was mich seit unserem damaligen Misserfolg umtrieb. Ich erinnerte mich eines Vorgangs während meiner Tätigkeit an der Betriebsakademie des Handels. Nach Prenzlau sollte - wohl aus statistischen Gründen - ein „Karl-Marx-Orden“ gehen. Dafür aber gab es klare Vorgaben: eine Frau aus dem Handel, Verkaufsstellenleiterin, Genossin. Ich erinnere mich, wie man krampfhaft suchte, vorschlug und wieder verwarf. Bei der höchsten Auszeichnung, die in der DDR zu vergeben war, musste es schon jemand sein, der wenigstens eine ausgezeichnete Leistung vorzuweisen hatte. Und man fand diese Handelsmitarbeiterin, nach meinem Ermessen wirklich die Beste, die man damals anzubieten in der Lage war. Aber irgendwie berührte es mich doch seltsam, als nur wenig später bei einem Staatsbesuch der sowjetische Außenminister A. Gromyko mit dem gleichen Orden geehrt wurde. Hier stimmten wohl die Proportionen nicht mehr. Bei meinem Freund B. hatte die herausragende Leistung noch nicht einmal für einen „Verdienten Aktivisten“ gereicht und - er passte eben nicht in die statistischen Vorgaben. Das wollte ich nun ändern bzw. nachträglich in würdiger Form korrigieren. Aber würde er das auch richtig verstehen? Und wie sollte ich das realisieren?

Zunächst bestellte ich also die Medaille und deponierte sie in meinem Schrank. Dann kam der Einfall. Herbert B. wird am 2. August 1999 ein besonderes Jubiläum begehen. Er wird 75 Jahre. Das ist die Gelegenheit. Vorher beriet ich mich noch mit ehemaligen Mitarbeitern der Konsumgenossenschaft, die ihn ebenfalls gut kannten. Alle fanden die Idee hervorragend und ermunterten mich. Nun erfuhr ich aber, dass Herbert B. an seinem Ehrentag nicht in Prenzlau sein würde. So vereinbarte ich einen späteren Termin für meine nachträgliche Gratulationskür. Bis dahin wurde eine entsprechende Urkunde entworfen. Der Text lautete:

„Urkunde - Als Zeichen der Anerkennung überragender Verdienste bei der Entwicklung und Stärkung der Konsumgenossenschaften der Deutschen Demokratischen Republik wird Herbert B. aus Anlass seines 75. Geburtstages (leider mit einer Verspätung von 25 Jahren) der Ehrentitel „Verdienter Aktivist“ verliehen. - Für den ehemaligen Verband der Konsumgenossenschaften der DDR; Prenzlau, den 2. August 1999. (gez.) Moser, ehemaliges Mitglied des Genossenschaftsrates des VDK.“

 

 

Eine rote Mappe mit dem Konsum-Emblem fand sich noch im Bestand.

Ich gestehe, dass ich zum vereinbarten Besuch wenige Tage nach dem Geburtstag mit etwas Herzklopfen ging. Blumenstrauß, Mappe mit Urkunde und Etui mit Orden - so schritt ich zur Tat. Der Jubilar war in keiner Weise vorbereitet, und man sah ihm die Verblüffung an, als ich mein Verschen abließ und meine ernstgemeinte Auszeichnung vornahm. Ich war mir im Vorfeld nicht sicher, ob die Wirkung meinen Erwartungen entsprechen würde. Doch es blieb nicht verborgen: Herbert fühlte sich auch nach einer Verspätung von 25 Jahren geehrt, zeigte Überraschung und Freude.

Dieser Vorgang stand in keiner Zeitung, er war mit keinem festlichen Empfang und keinem Prämiengeld im Briefumschlag verbunden. Es war einfach eine Geste für einen Freund, für einen liebenswerten Menschen, dem einst eine verdiente Ehrung vorenthalten wurde und nun eine späte Genugtuung zuteil werden sollte, ein Stück Wiedergutmachung einfach.

(Der Text ist Herrn Herbert B. bekannt und von ihm genehmigt. H. M. 15.04.02)


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